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Newsletter 6/2024 - Die Weltformel
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Dezember 2024



D

ie Unendlichkeit (l'infinito)

Immer lieb war mir dieser einsame Hügel
und das Gehölz, das fast ringsum
ausschliesst vom fernen Aufruhn der Himmel den Blick.
Sitzend und schauend bild ich unendliche
Räume jenseits mir ein und mehr als
menschliches Schweigen und Ruhe vom Grunde der Ruh.
Und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne
Furcht damit um. Und wenn in dem Buschwerk
aufrauscht der Wind, so überkommt es mich, dass ich
dieses Lautsein vergleiche mit jener endlosen Stillheit.
Und mir fällt das Ewige ein
und daneben die alten Jahreszeiten und diese
daseiende Zeit, die lebendige, tönende. Also
sinkt der Gedanke mir weg ins Übermass.
Untergehen in diesem Meer ist inniger Schiffbruch.

Giacomo Leopardi (Aus dem Italienischen von Rainer Maria Rilke)




Wirklichkeit ist nicht verhandelbar. Sie ist.
Danièle Nicolet am Kriegerseminar im November 2024




Liebe Leser

Die Weltformel ist das spannende Thema für diesen Newsletter. Keine Angst, es geht weder um theoretische Physik, die Samuel dazu bewegt hatte, sich mit dem Thema zu befassen, noch um Quantenphysik, etwas, was ich gerade versuche, zu assimilieren und was sich mir trotz meines biochemischen Hintergrundes als sehr «unverdaulich» erweist.
Es handelt sich bei Samuel um eine Formel im psychologischen Sinne, um eine Formel für das Innere, eine Lösung für alle inneren Fragen, eine Lösung für alles, in mir und in der Welt. Die meisten Texte sind zwischen 2007 und 2008 geschrieben worden und sind trotzdem aktueller denn je. Die Lösung heisst ein stilles Gehirn und ein offenes Herz. Die Lösung ist, was sonst, die Liebe.

Mangelnd eines Gedichtes über die Weltformel, habe ich für die erste Seite eines meiner Lieb-lingsgedichte gewählt. Leopardi hat es im Alter von 20 Jahren komponiert. Schon in seinen jungen Jahren war er auf der Suche nach seinem Platz und seiner Aufgabe in der Welt; er verstand die Welt nicht, er suchte nach Antworten auf seine Fragen, und weil er keine fand, suchte er Zuflucht im Universum.
Das Gedicht ist mir vor kurzem wieder begegnet, beim Lesen eines sehr interessanten Buchs mit dem neugiererweckenden Titel «Sich in Anna Karenina an einem Samstagabend verlieben», leider nur auf Italienisch erhältlich. Die junge Autorin führt den Leser durch zehn der grössten Litera-turklassiker, von Tolstoi zu Dostojewski, von Thomas Mann zu Kafka, von Leopardi zu Manzoni und stellt die Autoren der Klassiker im Zentrum ihrer Analyse. Wer war der Autor wirklich, wo-mit hat er zu seiner Zeit gerungen, was hat ihn dazu bewegt, solche Texte zu schreiben…. Für mich, die wie die Autorin im Alter von 15 bis 20 alle (nicht nur) russischen Klassiker verschlun-gen hat, ist dieses Buch eine wahre Offenbarung. Und, um zurück zum Newsletter zu kommen, man kann schon sagen, dass viele von ihnen auch immer auf der Suche der Weltformel waren.

In weniger als zwei Wochen werden Danièle und ich schon im geliebten Neredu Valley in Indien weilen, wo wir unter anderen das 30jährige Jubiläum der Arbeit von Samuel und Danièle in die-sem Land feiern werden. Ich freue mich so sehr auf die Stille, die Wärme, den (nebelfreien!) Ster-nenhimmeln, das Feiern mit unseren Freunden.

Wir wünschen euch eine innige Zeit und bis zum neuen Jahr

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi

Bevorstehende Termine der Praxis Hof zur Kirschblüte:

Wir informieren Interessierte ein paar Mal jährlich per E-Mail über die Seminarangebote der Praxis Hof zur Kirschblüte. Ihr könnt euch hier eintragen: https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
Die Programmübersicht mit den Angeboten für 2024 und für 2025 findet ihr jeweils hier: https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
  • Am 5. Dezember treffen wir uns online für die Meditation zum Thema "Spirituell-Magisches Träumen" (auch als Vorbereitung für die 3-jährige Ausbildung im "Spirituell-Magischen Träumen" ab Herbst 2025 geeignet).
  • Für die Kurzentschlossenen: Sehr bald möchten wir gemeinsam Weihnachten feiern mit dem Thema «Dankbarkeit» in der Seminarreihe  "Das Allerinnerste – Vom Duft des Ankommens".Ein ganz besonderes Fest unter dem traditionellen Weihnachtsbaum.
  • Danach fliegen wir nach Indien, wo über Weihnachten und Neujahr zwei Seminare stattfinden werden, ein freundschaftliches Treffen zum Thema «Der Weg mit Herz» und anschliessend ein tantrisches Zusammensein.
  • Das neue Jahr beginnt im Januar mit einem Kleingruppenseminar zum Thema «Freundschaft und Beziehung».
  • Im Februar beginnt die neue Eintagesseminarreihe «Integration und Heilung» zum Thema «Loslassen – Abschiednehmen»
  • Im April 2025 werden wir wieder in der algerischen Sahara sein.
  • Im Herbst 2025 beginnt die Ausbildung im "Spirituell-Magischen Träumen“.

Ab sofort bietet die Praxis Hof zur Kirschblüte für Menschen mit einem Euro-Einkommen eine Preisermässigung bis zu 20% nach eigenem Ermessen für die Seminare in der Schweiz an.

Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden. Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis. Die Newsletter findet ihr auch auf den Websites der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch) oder auf dem Facebook-Kanälen von Samuel Widmer Nicolet (https://www.facebook.com/samuelwidmernicolet) und der Kirschblütengemeinschaft (https://www.facebook.com/Kirschbluetengemeinschaft).


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Zusammen leben - Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung, Basic Editions, 2013
Die vom getrennten Ich inspirierte Wissenschaft, sucht seit langem vergeblich nach einer Welt-formel, mit der sie das ganze Leben und seine Gesetzmässigkeiten einfangen könnte in eine einzi-ge Beschreibung, die das alles fasst und ausdrückt.
Es wird ihr nie gelingen. Denn das Leben bleibt unerklärlich und mysteriös. Nur aus der Optik der Enge des Ichs lässt es sich reduzieren auf etwas, das fassbar scheint. Was diese Art von reduk-tionistischer Wissenschaft übersieht, ist, dass intuitive Wissenschaft längst eine Weltformel ganz anderer Art tatsächlich gefunden hat: die Liebe. Die Liebe ist der einfache Nenner, auf den sich alles, was bisher über echtes Zusammenleben gesagt wurde, „reduzieren“ lässt. Alle menschlichen Schwierigkeiten könnte sie, wenn sie da wäre, wenn sie unter uns Menschen blühen würde, auf einen Schlag lösen. Sobald sie da ist, wird alles ganz einfach, alles geht von selbst, alles wird ganz leicht. Und wir wissen es alle, dass es so ist. Sie ist der Schlüssel, das Geheimnis, von dem wir im letzten Abschnitt gesprochen haben, der Schlüssel, der uns das Tor zur Fähigkeit öffnet, einander das Lebendigsein zu gönnen.
Die Schwierigkeit ist, dass man sie zuerst finden muss. Im Prozess der Selbsterkenntnis zuerst aus sich herausschälen muss. Das ist das ultimative Ziel des Kriegers, denn die Freiheit, die er an-strebt, ist identisch mit der Liebe. Frei sein vom Selbst, bedeutet, lieben zu können. Und Liebe enthält Sinn und Stille, Frieden und Glück.
S. 283


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Wer Heilt, hat Recht, Die Art des Kriegers, Zusammenfassende Gedanken zum Lebenswerk, Basic Editions, 2010

Die Texte stammen aus dem Vortrag «Vom Heilungspotenzial ekstatischer Zustände im Prozess der Psycholytischen Psychotherapie - Erfahrungen aus der Praxis des psycholytisch orientierten Psychotherapeuten», gehalten am 1. Internationalen Kongress über ekstatische Zustände vom 23. – 25. Mai 2008 an der Medizinischen Hochschule in Hannover.
Der gesamte Vortrag kann entweder auf der Website https://samuel-widmer.ch unter Vorträge heruntergeladen werden oder via direkter Link


Mit grossem Interesse verfolge ich seit Jahren die Forschungen der theoretischen Physik – ein Fachgebiet, dem zuzuwenden mich auch sehr gereizt hätte, bevor ich mich dann entschied, mich doch lieber der Bewusstseinsforschung zu widmen. Insbesondere interessierte mich immer die Suche einer reduktionistischen Forschung nach der so genannten Weltformel, also die Suche nach letzten Ursachen der Dinge beziehungsweise einer einzigen ultimativen Wahrheit, die unser gan-zes Sein erklären beziehungsweise in einer Formel – der Weltformel eben – zusammenfassen könnte. Und ich war immer äusserst dankbar dafür, dass es in diesem Wissenschaftsbereich ab und zu einen Menschen gab, der die Neigung hatte, ein populär-wissenschaftliches Werk zu verfassen, um mich an den neuesten Entdeckungen dieses Wissenszweiges Anteil haben zu lassen, und zwar in einer Weise, die mich, ohne Experte zu sein, diese äusserst komplizierten Vorgänge einigermas-sen verstehen liess. Dabei war ich immer überzeugt, dass dieses Unternehmen letztlich nicht ge-lingen könne, und spasseshalber zog ich für meine Patienten gelegentlich die Parallele zum Pro-zess der Bewusstseinserforschung, in dem ich mit ihnen stand, und behauptete, dass, wenn über-haupt, eine Weltformel, also eine Lösung für alles, je gefunden werden könne, dies allenfalls im Inneren des Einzelnen, in der Tiefenforschung der Selbsterkenntnis stattfinden werde. Die tiefen, meditativen Zustände, die in diesem Prozess bei ernsthaftem Bemühen schliesslich erfahren wer-den, offenbaren ja bekanntermassen eine innere Ruhe und Gelassenheit, ein Gefühl des Friedens und der Anteilnahme an, ja des Einsseins mit allem, das einem leicht als die Lösung für alle menschlichen Probleme erscheinen mag beziehungsweise aus dem heraus sie für jedes Problem schnell und leicht gefunden wird.
[…]
Die Teilchenphysik beziehungsweise der Weg des Reduktionismus haben uns viele technische Fortschritte gebracht und unser Verständnis von der innersten Natur der Materie, der Dinge enorm gefördert. Eine ultimative Wahrheit oder Gesetzmässigkeit haben wir dabei nicht gefun-den. Im Gegenteil hat sich gezeigt, dass ein Vordringen ins Allerinnerste der Materie schliesslich dazu führt, dass uns alles, was wir für festhielten, zwischen den Fingern zerrinnt, wenn wir nur möglichst genau hinschauen. Am Ende finden wir im Allerinnersten des Äusseren, des Materiellen nichts als Energie, die sich unfassbar in Wellen ausbreitet und in nichts auflöst, und wir bleiben zurück nicht mit einer definitiven Antwort, sondern mit neuen Fragen und stehen einmal mehr ehrfurchtsvoll vor dem unergründlichen Wunder und Mysterium des Seins. Dass wir mit dem Reduktionismus nicht mehr weiterkommen, meint der Physiker Robert B. Laughlin(1), heisst nicht „dass Gesetzmässigkeit im mikroskopischen Bereich falsch sei oder keinen Zweck habe, sondern nur dass sie in einer Vielzahl von Umständen durch ihre Kinder und Kindeskinder, die höheren Ordnungsgesetze der Welt, belanglos geworden ist„ .

Genauso geht es uns auch als Bewusstseinsforscher bei der Erforschung des Allerinnersten in unseren inneren Welten. Der reduktionistische Weg über die Erforschung des Gehirns und seiner Botenstoffe wird uns zwar noch einiges an zusätzlichem Begreifen bringen können, ein ultimatives Verstehen, eine Weltformel aber nicht.
[…]
Finden wir diese tatsächlich in den ekstatischen Zuständen selbst, unbeweisbar, unbelegbar, in einem rein individuellen Erfahren? So dass auch die Forschung im Bewusstseinsbereich schliess-lich wird haltmachen müssen vor allem Lebendigen und wird anerkennen müssen, dass das Leben ein Rätsel bleiben muss und wird? Werden wir letztlich trotz allen Wissens, das wir anhäufen konnten, eingestehen müssen, dass wir nie werden erklären können, wie so einfache Dinge, dass Kinder lesen lernen (sie tun es einfach) oder dass Bienenvölker keine Führung kennen (sie organi-sieren sich einfach selbst), zustande kommen? Werden wir anerkennen müssen „dass die Parallelen zwischen der Ordnung eines Lebens“, wie unser Nobelpreisträger es ausdrückt, „und der Ord-nung von Elektronen kein Zufall und keine Wahnvorstellung, sondern Physik (sind) (S.294)“? Müssen wir eingestehen, dass wir durch die Zerlegung der Natur in immer kleinere Teile zwar viel gelernt, aber noch keine Ahnung davon haben, wie die Natur sich selbst organisiert?
[…]
Das Gehirn lernt […] zu registrieren, was notwendig, was hilfreich, was lebenswichtig ist; alles andere wirft es gleich wieder raus, so dass es sich seine Unbelastetheit, seine jugendliche Frische bis ins hohe Alter erhalten kann (Zusammenhänge zur ursächlichen Erklärung der Altersdemenz herzustellen, überlasse ich Ihrer Phantasie). Dadurch, dass die Festplatte nicht ständig überlastet ist, bleibt die Kapazität des Gehirns für eine ganzheitliche, offene und unmittelbare Wahrneh-mung erhalten oder wird immer wieder hergestellt. Dadurch ist das Gehirn, wenn es nicht intel-lektuell gefordert ist, still, es kennt inneren Raum oder Freiheit, das heisst, einen Zustand, in dem es nicht ständig beschäftigt ist.
Dieser Zustand ist natürlich wieder dieser ekstatische Zustand der Stille, in dem sich das ganze Wesen jederzeit regenerieren kann dadurch, dass es sich der Tiefe allen Seins öffnet, dem Heiligen, dem Essenziellen, dem Mysterium, das allem innewohnt. Das Gehirn hat die Weltformel gefun-den, den letztlich unfassbaren Hintergrund, in dem es ruhen und von dem aus es sein Leben be-wältigen kann. Durch diesen Lernschritt, das Kennenlernen der Bedienungsanleitung unseres Computers im Prozess der Selbsterkenntnis, verschwindet das Problem der Vergesslichkeit wie-der, und der Lernende wird nun fähig, frei zu flotieren zwischen Arbeitszuständen, in denen sein Computer arbeiten und registrieren muss, sowie stillen Ekstase-Momenten, in denen er lediglich wahrnimmt und ruht. Der Fortschritt an dieser Wegbiegung des Lernens besteht allerdings darin, dass diese Zustände nun nicht mehr nur als spontane Erleuchtungserfahrung auftauchen (als Sato-ri, wie das auch genannt wird), sondern er beginnt darüber zu verfügen. Der Zustand der Befrei-ung (Moksha, Samadhi oder wie immer er bezeichnet wird) ist erreicht.
Gibt es also diese Weltformel, von der sich die Physik schweren Herzens verabschieden muss, zumindest für den Mystiker im Innern als innerer Zustand, als Lösung für alles doch, wie ich es spasseshalber zuweilen meinen Klienten erzähle? Oder müssen wir auch als Bewusstseinsforscher von dieser Idee Abstand nehmen? Genauso wie die moderne Physik allmählich vom Reduktionis-mus zur Erforschung der Emergenz, der Ordnungsprinzipien des Lebens findet, wird auch der Bewusstseinsforscher nicht haltmachen können bei dieser Art der individuellen Ekstase oder Er-leuchtung. Er hat das Allerinnerste in sich gefunden, freut sich daran, in ihm immer wieder Frie-den und Nahrung zu finden, akzeptiert in Demut, dass er seine Natur nie voll und ganz verstehen kann, wendet sich aber von dort aus einer neuen Bewegung und Bestimmung zu, die ihn fortan noch viel mehr fesseln wird: der Erforschung unseres Zusammenlebens, der Frage, wie sich die Natur selber, wie sich Gemeinschaft aus sich selbst heraus organisiert. Auch auf ihn wartet noch das Phänomen der Emergenz. Würde er diesen Schritt nicht machen, könnte sein Wachstumspro-zess nicht weitergehen.
Dabei wird er noch einen vierten ekstatischen Zustand entdecken, eine weitere Erleuchtung. Wir nennen sie das gemeinsame Herz, den gemeinsamen Geist, die Möglichkeit, gemeinsam eine neue Welt, eine neue Gesellschaft, frei von den Verkrustungen aller Vergangenheit und Tradition her-vorzubringen. Eine neue Weltordnung, beruhend auf universellen Gesetzen, in der für alle gesorgt sein wird, in der wir endlich Frieden finden werden miteinander und in der wir befreit von allen Zwängen durch irgendwelche Macht- und Hierarchie-Ansprüche uns gemeinsam öffnen werden für eine einige Welt, eine globale Sicht und ein Leben, das sich selbst zu organisieren versteht. So findet denn auch der Bewusstseinsforscher die letzte Erfüllung nicht in seinen ekstatischen Zu-ständen, sondern im Zusammenwirken mit allem und allen, im Weiterwachsen und Forschen ohne je eine definitive Antwort zu haben, immer blühend in dem, was er nie ganz verstehen kann, im Mysterium unseres Seins.
Genau darin liegt allerdings Heilung, und genau darin findet sich auch immer wieder Verzückung, Erfüllung und Heil. Und so ist es denn wahr, dass es die Weltformel, die Lösung für alles im In-nern gibt, und doch auch wieder nicht wahr. Es ist wahr, dass ein Individuum heil sein kann, ganz sein kann, sein Leben in Ordnung halten kann, mit allem in Frieden sein kann. Insofern gibt es diese Weltformel, diese Lösung für alles, und doch müssen wir genau an diesem Punkt unser re-duktionistisches, unser individualistisches Denken aufgeben und einsehen, dass damit noch gar nichts gewonnen ist. Darum gibt es die Weltformel auch für den Bewusstseinsforscher nicht, auch im Innern nicht. Genauso wie in der Physik, an dem Punkt, wo sie greifbar nahe scheint, wird sichtbar, dass das Mysterium des Lebens uns nur genarrt hat und einfach ein neues Kapitel der Erkenntnis aufschlägt und wir wieder ganz am Anfang stehen. Der Bewusstseinsforscher findet bei seiner Innenschau etwas, was wir Liebe, Stille, Intelligenz oder wie auch immer nennen mögen, eine unabhängige, universelle Kraft und absolute Wirklichkeit, die immerwährend still und wahr-haftig hinter aller Erscheinung steht. Und er erkennt, dass der Physiker unabhängig von ihm auf dasselbe gestossen ist. Dieser in Form von sich in nichts verflüchtigenden Elementarteilchen/-wellen, er in Form eines innerlich als Ekstase erlebten Urgrunds. Er erkennt aber auch, dass diese Ekstase für sich keinen Wert hätte, wenn sie nicht eine Umsetzung im ganzen Leben erfahren würde. Eine Weltformel, eine Lösung für alles kann sie nicht sein, diese können wir zusammen allenfalls in der Zuwendung zu den noch unerforschten Gesetzen der Emergenz, die sich daraus erheben, den Gesetzen des Zusammenharmonisierens aller Dinge und Wesen schliesslich bewir-ken.
S. 140

Die Weltformel

Die Texte stammen aus der Meditation «Eine Lösung für Alles», gehalten in Lüsslingen am 7. November 2007.
Die gesamte Meditation kann entweder auf der Website https://samuel-widmer.ch unter Meditationen heruntergeladen werden oder via direkter Link. Die Meditationen gibt es auch als Audiodateien


Wenn ich meinem Geist zuschaue, was er treibt, sehe ich, er befasst sich mit allerlei Problemen, den Problemen der Welt, den Problemen anderer Menschen, den beruflichen Problemen, den eigenen Herausforderungen, die mein persönliches Leben betreffen. Dann erkenne ich: Mein Geist ist immer auf der Suche nach einer einfachen Lösung für all diese Probleme, all diese Herausfor-derungen. Irgendwie sucht der Geist unentwegt nach einer Antwort, die auf alles die Antwort ist, nach einer einfachen Gleichung, in der sich alles löst. Er ist nicht zufrieden, ein Problem nach dem andern zu lösen, da etwas zu tun und dort eine Notfallübung zu machen, sondern die Her-ausforderungen des Lebens lösen in ihm, in mir immer wieder dieses Suchen aus: Gibt’s da nicht eine Ordnung, die alles gleichzeitig erfasst, einen Zustand, in dem das alles eine Lösung finden könnte?
In der Physik sucht man auch nach einer solchen Formel. Seit Jahren verfolge ich interessiert diese Versuche, eine Weltformel, wie man das definiert, zu finden, eine Gleichung zu entwickeln, die unser ganzes Sein auf einmal erklären wird. Natürlich hat so eine Gleichung bis jetzt niemand finden können. Ich fürchte, man wird auch nie eine finden. Ich denke, das Weltbild kann immer nur partiell sein. Es kann nie das Ganze erfassen. Das Denken ist die Reaktion, die aus der Erin-nerung, aus der Vergangenheit, aus der Erfahrung kommt. Darin ist es immer stückhaft. Es kennt nur das Wissen, das sich schon angehäuft hat. Daraus kann es antworten, aus der Erinnerung des Denkens. Das Lebendige kennt es nicht. Trotzdem, obwohl ich überzeugt bin, dass sie in der Phy-sik diese Weltformel nicht finden werden, sehe ich meinen Geist damit beschäftigt, im psychologi-schen Sinn eine solche Formel zu suchen. Aber nicht im Denken, sondern im Sein. Als Seinszu-stand, als Operation der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit. Und da bin ich auch überzeugt, dass es diese Formel gibt. Ich finde sie immer wieder. Jemand kommt mit einem Problem. Unend-lich viele unlösbare Probleme, die ununterbrochen auf einen einstürzen; Beziehungsprobleme, Weltprobleme, und ich stehe davor, fühle mich irgendwie dafür verantwortlich, werde dadurch in Verwirrung gestürzt, in innere Aufregung, die Ordnung kommt mir abhanden. Und dann sucht es wieder: Da muss es doch eine einfache Lösung geben, einen Seinszustand, der auf das alles die Antwort gibt, der das alles löst, in dem alle Probleme sich auflösen. Und dann finde ich ihn immer wieder, versuche ihn anderen zu vermitteln. Was fast nicht möglich ist. Gibt es das wirklich, einen Seinszustand in dem kein Konflikt übrigbleibt, jedes Problem sich immer gleich wieder löst, alles zu Ruhe kommt? Das Denken sucht danach, aber das Denken kann ihn nicht finden.
Wenn ich eure Fragen höre heute Abend, die Frage: Wann muss man handeln, wann muss man sich ergeben? – eine ganz grosse Frage, im Leben nicht leicht zu beantworten, aber wenn man die Antwort nicht findet, erzeugt man dadurch viel Chaos in seinem Leben –, aber auch die Frage nach der inneren Gelassenheit, wie man diese findet, oder die Frage nach den Schicksalskräften, die eigentlich dieselbe ist wie die Frage danach, wann zu handeln ist und wann man sich beugen muss, wenn ich diese Fragen höre, dann habe ich wieder derartige Probleme, derartige Fragen, die ich als Einzelelemente angehen kann. Aber mein Geist sucht etwas anderes. Er sagt: Da muss doch eine Antwort sein, die das alles gleichzeitig umschliesst. Und alle anderen Fragen und Prob-leme und Konflikte dazu. Es muss doch diese Weltformel für das Innere geben, in der alles be-antwortet ist. Weil, wenn es nicht so ist, dann hat das Lösen der Probleme kein Ende. Es gibt so viele Probleme, alles ist ein Problem, die ganze Welt, unser ganzes Leben ist ein Problem gewor-den. Wo man hinschaut, sieht man nur Ungelöstes und scheinbar Unlösbares. Wenn man das alles aufräumen muss, eins nach dem andern, wie soll man da je zur Ruhe kommen? Dann ist man überfordert und das ist auch wieder ein Problem. Also besteht mein Geist darauf: Er will eine Weltformel haben, eine Antwort auf alles gleichzeitig. Und etwas in mir sagt mir auch, da ist diese Ahnung, dass es das gibt. Nicht im Äusseren, nicht im Materiellen, nicht im Bereich des Wissens, da suchen sie vergebens, das ist der Irrtum. Aber im Innern, als Zustand. Es gibt diesen Zustand der auf alles eine Antwort ist, in dem alles gelöst ist, der sich allem in einer Weise zuwendet, dass es sich darin löst.
Ein stilles Gehirn haben, nicht gelegentlich, wenn ich von etwas Faszinierendem eingenommen bin oder eine schöne Musik höre oder wenn es gerade friedlich ist, sondern grundsätzlich, als Le-benshaltung ein stilles Gehirn haben, das nur anspringt wie ein Motor, wenn er gebraucht wird, und sonst schweigt. Ein stilles Gehirn zu haben, das heisst, mit allem, was in die Wahrnehmung kommt, mit allem, was mein Körper wahrnimmt, innen oder aussen, sein zu können, keinen Wi-derstand dagegen machen zu müssen, einverstanden zu sein damit, dass es da ist, zu würdigen, dass es da ist. Nicht ein Gehirn zu haben, das auf alles schiesst, was ihm entgegenkommt, immer mit einer Reaktion antwortet, mit einer Zurückweisung, mit einem Ausweichen, mit einem Dage-gensein oder einem Es-anders-haben-Wollen, Es-verbessern-Wollen. Ein Gehirn haben, das schweigen kann, welches das Geschehen der Welt, das Geschehen in seiner Umgebung, die Ereig-nisse, die von anderen Menschen kommen, die Ereignisse im Innern schweigend begleiten kann. Das heisst nicht, dass man alles gut finden würde, im Gegenteil. Ein schweigendes Gehirn sieht, es sieht Wirklichkeit. Es sieht die Dinge, wie sie sind. Es lässt sich nicht betrügen. Aber es anerkennt, dass sie da sind, dass es zuerst einmal ist, wie es ist. Und dann geht es aus diesem Schweigen her-aus in einfühlsamer und intelligenter Weise mit dem um, was da ist. Darum findet es immer eine Lösung. Es sieht zum Beispiel, weil es still ist, weil es nicht im eigenen Wollen verstrickt ist, es erkennt von Moment zu Moment, wann zu handeln ist und wann man sich besser ergibt, es er-kennt, wo man etwas tun kann und wo gerade nichts zu tun ist, weil alles Tun nur Energiever-schwendung wäre. Gerade, weil es still ist, erkennt es das. Es braucht niemanden, der es ihm sagt. Es sieht. Darum erkennt es auch das Schicksalhafte, die grossen Linien des Lebens, wo man einge-laden ist und wo man nicht eingeladen ist. Es vergeudet seine Energie nicht, indem es etwas zwin-gen will, was nicht geschehen will, oder etwas verhindern will, was geschehen muss. Dieser Zu-stand, der daraus kommt, dass das Gehirn vorwiegend still ist – und das kann man nicht mit täg-lich fünf Minuten meditieren bekommen, das muss eine Haltung sein, die das ganze Leben erfüllt –, dieser Zustand, der daraus kommt, der ist Gelassenheit, dieses Einverstandensein und Nichts-anders-Wollen, als es eben ist und sich entfaltet. Das ist Gelassenheit. Das ist auch ein Zustand von Mitgefühl, weil, wenn das Gehirn still ist, lebt es innen in dieser Tiefe, in der es dieses Faktum erkennt: das, was ich fühle, was mein Körper fühlt, das bin nicht ich, das ist nur die Oberfläche, nur die Kruste. Das, was ich fühle, das sind wir. Ich fühle uns, und das, was ich fühle, sagt mir, was zu tun ist und was zu lassen ist. Ich fühle die Welt. Weil diese Unbegrenztheit in mir ist, ist da ein Gefühl von Verantwortung für alles und ein Mitfühlen, ein Teilhaben an allem, ein Mitge-hen mit allem. Darum ist der Geist dann wieder beschäftigt damit, die Lösung zu finden für al-les.
Wenn das Gehirn still ist, ist der Seinszustand Liebe.
S. 188

Weihnachtsmeditation

Die Texte stammen aus der Meditation «Freundschaft und der Montagepunkt», gehalten in Lüsslingen am 5. Dezember 2007.
Die gesamte Meditation kann entweder auf der Website https://samuel-widmer.ch unter Meditationen  heruntergeladen werden oder via direkter Link. Die Meditationen gibt es auch als Audiodateien.


Makellosigkeit, worin eigentlich? Diese psychologische Weltformel, diese Lösung für alles, dieses ganz einfache Ding. Wenn man’s mal begriffen hat, werden die Dinge ja immer ganz simpel, die vorher so kompliziert geschienen haben. Diese Weltformel besteht ja darin, innerlich ohne Reak-tion zu sein. Keine Antwort mehr. Kein Reagieren aus dem Schatz der Erinnerungen, keine Reak-tionen aus Verletzung, aus alten Geschichten, keine Reaktionen aus der Angst, keine Reaktionen aus Wünschen, sondern ein inneres Stillstehen, ein Anhalten, ein Finden von diesem inneren Schweigen, das dann alles begleitet, alles hält, alles zusammenhält.
Was findet dieses innere Schweigen? Beharrlichkeit? Es braucht Beharrlichkeit.
Das, was schliesslich Makellosigkeit hervorbringt darin, diese Stille bringt, diese Fähigkeit bringt, nicht mehr aus alten Geschichten heraus reagieren zu müssen, ist Beharrlichkeit. Dieses endlose Scheitern und wieder Aufstehen. Ich gebe es nicht auf. Ich will den Nordpol sehen. Eher erfriere ich, als das aufzugeben. Eine tiefe Absicht. Eine Beharrlichkeit, die darum ringt ein Leben lang. Das bringt Makellosigkeit hervor. Etwas, was man nie erreicht im Sinne von: Jetzt habe ich es, sondern man ist immer gleich neben dem, dass man schon weit gegangen ist, auch noch ein Trot-tel, der immer wieder über seine eigenen Füsse stolpert. Aber diese Beharrlichkeit bringt es hervor und die Makellosigkeit, die daraus kommt, ist das, was den Montagepunkt verschiebt. Das umfasst alles, was wir hier an diesen Abenden über Selbsterkenntnis und Meditation immer wieder sa-gen.
Freundschaft, was immer das dann ist, Liebe, was immer das dann ist, Stille, was immer das dann ist, liegt in der Position des Montagepunktes, wenn dieser sich ins Herz, in den Kopf und viel-leicht sogar noch darüber hinausverschiebt. Und Beharrlichkeit im Ringen um Makellosigkeit ist das, was diese Verschiebung bewirkt.
S. 192

Weihnachtssitzung Vorabend

Die Texte stammen aus der Meditation «Die Verschiebung des Montagepunktes», gehalten in Lüsslingen am 7. Dezember 2007.
Die gesamte Meditation kann entweder auf der Website  https://samuel-widmer.ch unter  Meditationen heruntergeladen werden oder via direkter Link. Die Meditationen gibt es auch als  Audiodateien


Wir Menschen haben diese Möglichkeit, innerlich ganz gross zu sein. Das sehe ich, und das will ich verwirklichen. Das mache ich zum Zentralen in meinem Leben. Das ist mir viel wichtiger als Erfolg, Geld oder Sex oder ich weiss nicht was. Das ist mir das Wichtigste. Das will ich. Und dann das Scheitern daran, weil der Wille das gar nicht kriegen kann. Das Verzweifeln daran und die Beharrlichkeit darin, immer wieder aufzustehen und immer weiterzusuchen, bis man es fin-det.
Ich nenne das, im Moment grad auf jeden Fall, was man da zuinnerst finden kann, die Weltformel. In Anlehnung an die Physik und die Mathematik. Ich habe das immer verfolgt in meinem Leben, dass da die gescheiten Köpfe der Welt die Weltformel suchen und sie natürlich nicht finden kön-nen. Eine Formel, die unsere ganze Existenz in einen Satz fasst: Das ist das, darum gibt es das. Vier Buchstaben oder irgend so etwas, richtig zusammengefügt, so wie die Einsteinformel, die erklärt, wie Masse und Energie zusammenhängen.
Ich bin überzeugt, dass die Physiker das nicht finden werden, weil sie suchen am falschen Ort. Aber es ist interessant, ihr Ringen darum zu verfolgen. Eine spannende Geschichte, aber sie wer-den es nicht finden, weil, sie suchen im Wissen, im Denken, in dem, was das Denken findet und dann zusammenfügt, was immer nur Stückwerk bleiben kann.
Das Denken, die Erinnerung, das programmierte Gehirn, kann nie das Ganze auf einmal sehen, so dass Einsicht kommt. Aber es gibt, denke ich oder fühle ich, diese Weltformel im Psychologi-schen. Der Prozess der Selbsterkenntnis führt zum Entdecken der psychologischen Weltfor-mel.
[…]
Wenn man beginnt mit Selbsterkenntnis, kennt man sich nicht, man versteht sich nicht, man hat eine schlechte Wahrnehmung, die nicht ruhig schauen kann. Man ist ein ratterndes Gehirn, pro-grammiert auf irgendwelchen Blödsinn, das die immergleichen Antworten auf die Herausforde-rungen des Lebens ausspuckt, die offensichtlich nie zu einer Lösung der Probleme führen. Man leidet, man ist gefangen in Abhängigkeit, Bindung, Angst, in Leiden. Aber man macht sich auf den Weg, weil man vage spürt: Es gibt da irgendwo möglicherweise einen inneren Ort, an dem keine Fragen mehr existieren, an dem alles klar geworden ist, an dem es still wird, an dem es gut ist, an dem alles Reagieren und Antworten, aus dem Schatz der Erinnerungen aufgehört hat, an dem sich solche Dinge finden wie vollkommene Gelassenheit, totale Freiheit, wie Stille, eine alles durch-dringende Stille, wie Frieden, wie Liebe auch. Ein innerer Zustand, auf den alle grossen Worte, die wir kennen, passen, je nachdem, welcher Aspekt davon sich gerade zeigt. Ein innerer Zustand, in dem alle Probleme gelöst sind oder sich sofort immer wieder lösen lassen, weil man einfach schaut, direkt schaut, unmittelbar schaut. Weil man mit Mitgefühl und Intelligenz schaut und nicht aus einer Konditioniertheit, aus Vorurteilen, aus moralischen Kisten oder irgendwelchen Ideologien, sondern unmittelbar das Problem schaut und löst. Die Weltformel. Der Zustand, der innere Zustand, der für alles die Lösung ist.
Das ist natürlich dasselbe wie die Montagepunktverschiebung im Energiesystem an diesen Ort, mindestens bis zum Herzen, lieber bis in den Kopf oder noch lieber eine vollkommene Beweg-lichkeit darin, so dass zwischen Herz und weit über den Kopf hinaus eine Verschiebung möglich wird. Ein unfixierter Montagepunkt. Wenn ich all diese Dinge erzähle oder wenn ich mich darauf vorbereite innerlich, diese Dinge zu erzählen, dann werde ich angefochten von Gefühlen, Gedan-ken, die mir sagen: Das hat doch alles keinen Wert. Die Menschen wollen Vergnügen, auch die Ernsthafteren, die vielleicht bei uns verkehren, wollen letztlich auch nur Vergnügen. Die kommen um hier Entspannung zu finden von einem schrecklichen Leben. Die wollen sich ein bisschen ausruhen. Die wollen nicht arbeiten. Sie sind nicht wirklich ernsthaft. Sie stellen nicht den höchs-ten Anspruch an sich. Warum soll ich mich immer wieder der Lächerlichkeit preisgeben, über Dinge zu reden, die der Menschheit immer mehr verloren gehen, so dass dieser Punkt irgendein-mal da sein wird, wo sie nichts mehr davon weiss? Ich mache mich doch nur zum Narren damit. Die Beharrlichkeit in mir, die den Montagepunkt verschiebt, die Beharrlichkeit im Ringen um Makellosigkeit, lässt mich dann mit diesen Gedanken und Gefühlen ringen, bis ich sie überwun-den habe und mich dann hier auf den Stuhl setze mit der Frage: Werde ich das noch zehn, zwan-zig, dreissig Jahre fertig bringen? Werde ich das mit Neunzig auch noch können? In einer Welt, die bis dann noch viel, viel dunkler geworden sein wird? Werde ich noch den Mut haben, über grosse Dinge zu sprechen?
Im letzten Jahr oder vor zwei Jahren, da haben sie einen Fernsehfilm über uns gemacht. Da drin spielen sie immer wieder ein Lied, mit dem sie das, was wir tun, lächerlich machen. All you need is love. Kürzlich bin ich auf eine Fassung dieses Liedes gestossen, eine neue Fassung. Jemand singt das neu. Man kann das ja wirklich nicht mehr spielen. Es ist so ein Ohrwurm geworden, da hört doch keiner mehr zu, aber wenn’s plötzlich von einer neuen Seite kommt, da habe ich auch selbst wieder zugehört und habe gemerkt, dieses Lied erzählt auch von diesen ganz grossen Dingen. Auf eine wunderbar einfache Weise. Ich habe den Mut es euch zu spielen. („All you need ist love“ ursprünglich von den Beatles)
S. 199

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Wahrheit, Sachbuch Philosophie, Basic Editions, 2010
Ein Satz wie: „In der Tiefe sind wir mit allem eins“, leuchtet heutzutage vielen Menschen ein. Er ist in vieler Munde. Aber wer kennt denn die Wucht davon, das tatsächliche Erleben? Wer stellt sich der tatsächlichen Erschütterung, die damit zusammengeht? Dem Sterben und dem Tod, die man darin erfährt? Worte können völlig bedeutungslos sein, auch wenn sie die umfassendsten Wahrheiten schildern. Wenn aber die Kraft der gelebten Wahrheit dahintersteht, werden sie zu Magie, zu Zauberworten, die unseren Montagepunkt der Wahrnehmung in einem Augenblick in ungeahnte Regionen verschieben können. Der Montagepunkt der Wahrnehmung? Ein in dieser Weise magischer Begriff! Ein Konzept, das wir unbedingt brauchen werden, um uns den Wahrheiten in der Tiefe zu nähern, auch wenn es von der Welt noch nicht wirklich aufgenommen worden ist. Aber auch der Montagepunkt ist nur ein Konzept, nur ein Wort. Worte werden niemals eindrin-gen ins Mysterium, ins Heilige des Seins.
Wenn wir versuchen, mit dem Denken einzudringen, kommt dabei nur noch Absurdes raus. Das hat Robert B. Laughlin in seinem Buch Abschied von der Weltformel schön aufgezeigt für die Physik und die Wissenschaft überhaupt. Eine Weltformel, das, was die Welt in der Tiefe erfasst und auf einen Nenner bringt, wird niemals dem Denken, niemals Wahrheiten entspringen, die noch mit Klarheit und Verstehen-Wollen verknüpft sind. Sie wird sich der unmittelbaren Einsicht als rein energetisches Phänomen offenbaren. Alle Theorien, die zu einer Multiplizität von Möglichkeiten führen, gehören zu dieser Art von Absurdität. Es gibt keine vielen Welten; es gibt nicht unzählige Universen.
Sobald das Denken in solch illusionäre Bereiche führt, müsste es über sich selbst stolpern, inne-halten und erwachen. Erwachen für seine Grenzen. Und für Wirklichkeit.


1) Robert B. Laughlin, Abschied von der Weltformel, Die Neuerfindung der Physik, Piper Verlag, München 2007