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Newsletter 6/2022 - Die Einsamkeit
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Dezember 2022

D

ie Liebe und die Einsamkeit
Die Liebe sucht innen
und alles, was sie dort findet,
verschenkt sie grosszügig nach aussen;
Die Einsamkeit sucht aussen
und alles, was sie dort erhaschen kann,
verschlingt ihr bodenloser Schlund (1)



W

ann ist Liebe wirklich
ihre Ganzheit, die Immensität davon?
Und wann nur getarnte Einsamkeit,
die ihre klammen Finger ausstreckt,
um sich des Trostes der Liebe
zu bemächtigen? (2)



D

ie Einsamkeit Die Sonne schmust mit letzten Gipfeln,
der Abend senkt sich müd' herab,
verglühte Sehnsucht hängt in allen Wipfeln
und das, was Tag und Stunde gab,
versinkt im Ozean der Stille,
als dem, was nur ein Engel mag
und nur die Nacht verklärt zur Fülle. (3)



Gemeinschaft ergibt sich dann, wenn wir uns der inneren
Leere und Einsamkeit nicht entziehen
Du bist Schönheit, Samuel Widmer



Liebe Leser

"Jeder, der sich ins pfadlose Land der Wahrheit aufmacht, wird sich einer immensen Einsamkeit ergeben müssen." – schreibt Samuel im "Vom Allerinnersten". Die Einsamkeit scheint also das folgerichtige Thema für diesen Newsletter zu sein nach der Wahrheit des letzten Mals.

Da ich schon seit der frühen Kindheit von einem Wahrheits- und Gerechtigkeitszwang getrieben bin, kenne ich diese Gefühle ganz gut: das Im-Stich-gelassen-Sein, das Ganz-alleine-für-etwas-da-Stehen, das Unverstandensein, … alle unangenehmen Gefühle, die, wenn nicht genommen, zu einer tiefen Einsamkeit, statt zu einem glückseligen Zustand des Alleinseins (4), führen.

In den letzten Monaten begleitet mich aber die Einsamkeit nicht so sehr als Gefühl, sondern als Wesen. Sie erscheint mir plötzlich in den wenigen ruhigen Momenten, zum Beispiel beim Aufwachen, und nach einem kurzen Morgengruss verschwindet sie wieder im Rummel des Alltags. Es ist eine ganz neue, besondere Art, die Einsamkeit zu erleben. Als Wesen scheint sie mir weicher, nüchterner, unbeteiligter. Und trotzdem bleibt sie auch in dieser Form das Resultat von nicht genommenen Gefühlen. Ganz konkret fällt es mir sehr schwer, seit dem Tod meines Bruders im Frühling, mit vielem, was manchmal unüberwindbar zu sein scheint, ganz alleine und auf mich gestellt zurückzubleiben: mit der Trauer über den Verlust, mit der Verzweiflung meiner Mutter, dem Leid meiner kleinen Nichte, mit der psychischen Belastung von schwierigen Familienauseinandersetzungen, mit den materiellen Verpflichtungen, die sein Tod mit sich gebracht hat,… Trotz meiner liebsten Freunde, die mich sehr tragen und unterstützen, bleibe ich mit ganz vielem alleine, und eben oft einsam.

In knapp zwei Wochen werden wir nach vier Jahren wieder nach Indien reisen dürfen. Endlich wieder im magischen Neredu Valley sein, endlich Zeit zum Ausruhen haben, die Schwierigkeiten der letzten Monate für ein paar Wochen hinter mir lassen, Zeit, um mich der Stille, dem Alleinsein, dem Ganzen und vor allem meinen Liebsten im Himmel hinzugeben.

Ich wünsche euch schöne, entspannte Feiertage und ein erfolgreiches Forschen in den Landschaften der inneren Einsamkeit

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi


P.S. Neben den nachfolgenden Texten sind auf dem Youtube-Kanal von Samuel und Danièle Widmer Nicolet drei schönen Meditationen von Samuel:

Bevorstehende Termine
Viele Freunde des Hofs zur Kirschblüte haben sich gewünscht, regelmässige Informationen über das Seminarprogramm zu bekommen. Um nicht speziell einen Newsletter dafür zu erstellen, informieren wir auf diesem Weg über die nächsten Angebote:
  • In Dezember feiern wir Weihnachten mit dem Seminar "Das Allerinnerste – vom Duft des Ankommens" zum Thema "Vertrauen/Gelassenheit".
  • Unmittelbar danach reisen wir nach vier Jahren endlich wieder nach Indien mit einem Workshop (Deutsch und Englisch!) zum fortlaufendem Thema „Meeting of East and West“, diesmal speziell mit dem Titel „Gemeinschaft als Auftrag / Community as mission“.
  • Die nächsten Online-Meditationen finden am 19. Januar 2023 und 15. Februar 2023 statt.
  • Am 22. Januar trifft sich wieder die Tantra-Kleingruppe.
  • Und hier schon die Vorankündigung des nächsten internationalen Kongresses für Echte Psychotherapie, Psycholyse und Alternative Psychiatrie am 23-25. Juni 2023 zum Thema „Bewusstseinserweiterung, Schamanismus und Heilung - Psychoaktive Substanzen in der Psychotherapie“.
Die Programmübersicht mit den Angeboten bis Ende 2023 findet ihr jeweils hier: https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden. Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis. Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch) oder auf dem Facebook-Kanal der Kirschblütengemeinschaft (https://www.facebook.com/Kirschbluetengemeinschaft).


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Erneuerung von uns selbst und unserer Welt, Briefe an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis, Basic Editions, 2018
Die Einsamkeit ist der innerste Gehalt alles Abgewehrten, das, was wir am meisten und bei allem Abwehren vermeiden wollen, das aber in seinem Angenommensein schliesslich eine ganz besondere Schönheit zeigt. Einsamkeit ist fast schon reiner, ursprünglicher Schmerz, wie er bei Verletzung in uns auftritt, und bildet damit das sich öffnende Tor zum immer heilen und ganzen Innersten, zum Kern unseres Wesens.
S. 231

Wir haben früher von der Liebe als schwarzem Loch gesprochen, das alles Ungereimte, Unstimmige in sich hineinzieht und reinigt. Die Einsamkeit, sofern sie nicht ganz integriert wird, kann zu einem anderen schwarzen Loch werden, einem, das uns nicht ins Licht, sondern ins Dunkle zieht. Nicht ganz genommen, zeigt sie uns nicht ihre Schönheit, wird sie nicht unsere Freundin, die uns immer wieder neu aufzeigt und hilft, ins Licht des Innersten, in die Liebe, zu finden. Nicht ganz genommen, führt sie uns stattdessen zum Sog der Ersatzbefriedigungen, in die Sucht, die Vergnügenssucht, die eine der stärksten Abwehrstrukturen in uns und in der Gesellschaft bildet und uns schnell wieder eingliedert und den Regeln der Anpassung unterwirft, wenn wir ihr verfallen.
Ganz genommen, wird die Einsamkeit zu einer unserer wichtigsten Lehrerinnen, zur inneren Stimme, die uns zeigt, wo es lang geht, was stimmig ist, was wahr und was falsch ist. Sie führt uns ins Alleinsein, ins glückselige Alleinsein, in dem die ganzen Qualitäten des Allerinnersten, die wir später verstehen lernen wollen, in uns aufblühen können.
Es braucht viel Stille, um ihre Stimme zu hören. Sie ist der Urgrund vor dem Urgrund in uns. Verdrängt, wird sie zu einer destruktiven Kraft in uns, die uns zerstört, verstanden und geliebt, stärkt sie uns noch und noch den Rücken.
Die Einsamkeit vereinigt alle anderen abgewehrten Zustände wie Verlassensein, Ausgeschlossen¬sein und Zukurzgekommensein, wie Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein in sich. Sie bringt dies alles auf einen Punkt. Sie ist ein schwarzes Loch, so oder so. Wenn wir zulassen, dass es uns verschlingt, weil wir uns ihr ganz ergeben haben, gehen wir durch den Schmerz der Vernichtung und damit Erneuerung. Es ist ein Sterben. Wenn wir es zulassen, über seinen Ereignishorizont gezogen zu werden, indem wir alle Abwehr gegen die Einsamkeit fallen lassen, spuckt es uns schliesslich aus in eine neue Geschichte hinein, in ein neues Leben, in eine paradiesische Welt. Die Einsamkeit führt uns ins wahrhaftige Aussenseitertum, sie stellt uns ausserhalb der korrupten, verdorbenen, im Ich-Wahn und Anpassungs-Irrsinn gefangenen Menschheit und hilft uns, uns dort einzurichten. Die Einsamkeit wird uns immer begleiten, sie ist eine treue Freundin, die uns immer daran erinnern wird, wenn wir rückfällig zu werden drohen. Ganz genommen, ist sie nicht länger schmerzhaft, sondern anschmiegsam wie eine Geliebte. Ganz genommen, ist sie die Liebe, die immer bei uns bleibt.
Nicht genommen, zurückgewiesen, wird die Einsamkeit aber genauso zu einem schwarzen Loch, zu einem Sog, der uns wirklich zerstört und der keineswegs Erneuerung bringt. Zu einem Untergang in Abhängigkeit und Sucht, der für den Adepten der Selbsterkenntnis in einer milden Form zu diesem Stagnieren in der Entwicklung führen kann, an diesen „dümmsten“ Ort, von dem wir gesprochen haben, an dem wir auf dem Weg der Selbsterkenntnis stranden können.
Nicht ganz genommen, bleibt die Einsamkeit eine ewige Unruhe in uns, ein Drehen um uns selbst, ein endloses Suchen nach einem Ausweg vor ihr. Das Paradies des Allerinnersten, die Erleuchtung bleibt uns daher vorenthalten.
S. 234


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen, Basic Editions, 2005
Alleinsein ist das Neue. Isolation und Einsamkeit sind das Bekannte. Alleinsein ist das Unbekannte. Es hat keine Ursache, keine Wurzeln. Es ist ein Zustand, der immer neu ist, der noch nie war und nie wieder sein wird. Ein höchst lebendiger Zustand. Etwas, was kein Wiedererkennen kennt. Ein Zustand ausserhalb der Zeit. Einsamkeit, auf die wir unweigerlich stossen werden, muss zu Ende sein, damit Alleinsein sich entfalten kann, seine Schönheit entfalten kann. Die Einsamkeit muss natürlicherweise sterben, von einem abfallen, denn jeder Widerstand gegen sie erzeugt Angst und verfestigt sie. Einsamkeit, ganz genommen, ist ihr Ende. Sie führt nicht zum Alleinsein, das ein Zustand voller Reichtum und Fülle ist, sondern sie geht darin zu Ende, so dass das andere, das Neue sein kann.
Das Ende des Leids ist der Neuanfang. Das Ende des Leids ist Liebe. Und das Ende kommt aus dem damit Sein, aus dem Prozess der Selbsterkenntnis, aus dem Schauen und Lauschen auf das, was ist.
Liebe ist das Immer-Neue. Liebe ist nicht Bindung. Sie verursacht kein Leid. Liebe kennt weder Verzweiflung noch Hoffnung. Wenn sie verloren geht, beginnt jede Form von Mühsal.
Zu besitzen und besessen zu werden betrachten wir üblicherweise als eine Form der Liebe. Der Drang zu besitzen, eine Person oder eine Sache, ist nicht so sehr eine Forderung der Gesellschaft oder der Umstände, sondern entspringt einer viel tieferen Quelle. Er kommt aus der Tiefe der Einsamkeit. Jeder von uns versucht, die Einsamkeit auf verschiedenste Weise aufzufüllen, mit Vergnügen, mit Alkohol, mit Religion und Glaube, mit irgendeiner Form von Aktivität. All dies sind Fluchtversuche, die sie verschleiern mögen, aber dahinter ist sie nach wie vor da.
[…]
Es gibt kein Entfliehen vor der Einsamkeit: Sie ist ein Faktum, und die Flucht vor Fakten bringt immer Verwirrung und Leiden. Nichts zu besitzen ist ein ausserordentlicher Zustand, nicht einmal eine Idee, geschweige denn eine Person oder ein Ding zu besitzen. Wenn Ideen, Gedanken in uns Wurzeln schlagen, sind sie schon zu einem Besitz geworden, und dann beginnt der Kampf, sich wieder davon zu befreien. Die Freiheit, die das bringt, ist überhaupt keine Freiheit, sie ist nur eine Reaktion. Reaktionen verwurzeln sich, und unser Leben ist der Grund, in welchem die Wurzeln wachsen. Alle Wurzeln abzuschneiden, eine nach der anderen, ist eine psychologische Unmöglichkeit und daher absurd. Und es kann nicht vollbracht werden. Nur das Faktum Einsamkeit muss gesehen und genommen werden, dann verwelken alle anderen Nebenerscheinungen. Einsamkeit ist ein Loch, das nicht zu stopfen ist. Damit definitiv ausgesöhnt zu sein ist ihr Ende.
S. 74

Wann ist Liebe wirklich Liebe, die Ganzheit davon, die Immensität davon? Und wann ist sie nur getarnte Einsamkeit? Selbstmitleid und Abhängigkeit, die ihre klammen Finger ausstrecken, um sich des Trostes der Liebe zu bemächtigen?
S. 116

Verlangen und Bedürftigkeit gehen zusammen. Psychologische Bedürftigkeit muss ganz verstanden sein, damit das Verlangen, welches ihr zu Grunde liegt, als ungestörte, reine Kraft sichtbar werden kann. Hinter der Bedürftigkeit versteckt sich immer die Einsamkeit, die Angst davor, nichts zu sein, unwichtig zu sein. Bedürftigkeit ist Verlangen gekoppelt an und verfälscht durch nicht integrierte Einsamkeit. Sobald diese Dinge genommen sind, integriert sind, sich im Lichte der Selbsterkenntnis aufgelöst haben, bleibt Verlangen übrig als reines Feuer. Es ist die Kraft des Lebens selbst, die in uns glüht. Befreit von den Fesseln der Bedürftigkeit ist Verlangen eine ungerichtete Kraft, das Leben selbst. Und diese Kraft selbst ist es, die sich dann von allen Beschränkungen befreit, die ihr durch Konditionierung, Moral und so weiter auferlegt wurden.
S. 141

Bleiben wir auch treu, wenn wir ganz allein, für immer allein die Last der Liebe auf uns nehmen müssten? Ist in uns diese Unverbrüchlichkeit schon da, die stärker ist als der Tod, die durch nichts mehr zu brechen ist, eine Treue, die über alle Zeit hinweg besteht, in jedem Fall und ohne Grenzen? Dieser Prüfung wird sich keiner entziehen können, der es ernst meint mit dem Weg der Selbst¬erkenntnis. Dieser immensen Einsamkeit wird sich jeder ergeben müssen, der sich aufmacht ins pfadlose Land der Wahrheit. Wie sollten wir stark genug sein, dem Allerinnersten Raum in uns zu geben, wenn wir nicht den Platz Gottes einnehmen könnten: Ganz allein, in alleiniger Verantwortung, alles auf den eigenen Schultern tragend und niemand, der hilft? Eine grosse Herausforderung! Die Herausforderung der Liebe eben. Vater-Sein und Mutter-Sein als Qualitäten des Allerinnersten scheinen eine Zeit lang alles dominierend zu werden. Solange, bis sie völlig rund in einem geworden sind. Solange, bis man sich ihnen ganz ergeben hat. In der Welt fehlt es enorm an diesen Qualitäten, und gleichzeitig werden sie von jedem an jeder Ecke gefordert. Das Leben mit seiner unglaublichen Geschicklichkeit bezüglich Regieführung zwingt uns Menschen dazu, diesem Aspekt unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Unsere diesbezügliche Weigerung ist immens. Daran krankt die Welt. Dass niemand Vater beziehungsweise Mutter sein will, daran krankt die Welt.
S. 163


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Einsamkeit auf dem Weg, Geschichte, Träume, Gedichte, Meditationen mit Samuel Widmer, Basic Editions 1995
VON DER GROSSEN EINSAMKEIT:
Wie ihr euch noch erinnern könnt, haben sich die Menschen auf der Erde nach einer langen Leidenszeit zu einer Kommune zusammengefunden, in der man gemeinsam teilte, was man vom lieben Gott geschenkt bekommen hatte. Freundschaft und Zuneigung bestimmten den Tag. Endlich hatte man zu Einheit, Ganzheit und Harmonie gefunden.
Leider waren aber die alten Denk- und Verhaltensmuster noch nicht ganz aufgelöst, und da man ihnen dummerweise zu wenig Beachtung schenkte, über sie hinwegzusehen versuchte, begannen sie sich langsam und unmerklich wieder einzuschleichen. Sie meldeten sich in Form von guten Gesetzen. Das erste Gebot, das aufgestellt wurde, war: Du musst immer und überall alles mit allen teilen! Ein anderes lautete: Gemeinsam geht's besser, du sollst nie allein sein! Ein weiteres: Wir freuen uns, jeden Abend ums Feuer sitzen zu dürfen, Geschichten zu hören und Lieder zu singen; niemand darf dabei fehlen! Mit der Zeit entstanden immer mehr solcher guten und sinnvollen Gebote und Verbote. Man freute sich darüber, dass man endlich die richtige Ordnung gefunden hatte und sich sogar darüber einig war: Gemeinschaftszwang!
Aber das dauerte nicht sehr lange. Bald kam es zu den ersten Rebellionen und Streitigkeiten, was dazu führte, dass die Gesetze verschärft werden mussten. Die Freude wich aus den Augen der Menschen, und die ersten wurden krank. Es gab solche, die starben einfach; niemand wusste wieso. Andere konnten nicht mehr essen, weil sie ihre Sehnsucht nach Einheit nur auszudrücken wussten, indem sie hungerten. Bei andern bewirkte es das Gegenteil: Sie bekamen nicht mehr genug und erschöpften sich auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit endlos in den verschiedensten Vergnügungen.
Da gab es auch solche, die ins Denken kamen, bis sie nur noch aus Kopf bestanden und solche, die dumm und dümmer wurden, bis sie gar nichts mehr verstehen konnten. Mit der Zeit setzte sich auch immer mehr die Gier und Selbstsucht durch: Jeder versuchte für sich eine Ecke des Wohlbefindens abzugrenzen und einen Rest der zerstörten Harmonie an sich zu raffen. Einmal mehr war eine trostlose und hoffnungslose Welt entstanden.
Es gab aber auch solche, die sich erinnerten, dass der liebe Gott neben den Menschen auch einen wunderbaren Garten auf der Erde eingerichtet hatte, einen Garten voller Blumen, voller Bäume, voller Tiere. Sie erinnerten sich auch, dass er ihnen neben dem Geschenk, das er ihnen mitgegeben hatte, als er sie auf die Erde setzte, auch die Weisung eingepflanzt hatte: Wenn du nicht mehr weiter weisst, wenn du den Kontakt zu mir nach Hause verloren hast, wenn du Hilfe brauchst, zieh dich zurück in den Garten, dort findest du mich.
So brach allmählich eine Zeit an, in der paradoxerweise Ganzheit weniger im Arbeiten am Gemeinsamen als mehr im Rückzug vom Gemeinsamen gefunden werden konnte. Wie einsame Wölfe strichen viele der Menschen durch Wälder und Fluren, lernten ganz allein zu bestehen und sammelten Kraft und Einsicht für die nächste Geschichte, die irgendeinmal anbrechen würde.
Natürlich gab es auch unter diesen einsamen Suchern unechte Exemplare, wie es sie immer gibt. Solche, die auf der Welle des Alleinseins reiten, aber nicht wirklich nach Ganzheit suchen, sondern vielmehr darin eine wunderbare Möglichkeit finden, ihre selbstsüchtige Isolation zu rechtfertigen. Es sind diejenigen, die sich der Hingabe ans Ganze immer und überall entziehen und immer einen Weg finden, die schönste Einsicht, die tiefste Wahrheit in ihre Abwehr zu integrieren, um sich nicht hingeben zu müssen. Sie sind immer und überall zu finden; es sind diejenigen, die zu leuchten vorgeben und doch nie leuchten werden, weil sie das Ganze nicht tragen wollen. Der Sinn dieser Geschichte, der sich in dieser Zeit den Menschen allmählich zu offenbaren begann, besteht darin, dass die Einheit, die Liebe, die Ganzheit, die Harmonie und auch die Schönheit immer dort zu finden sind, wo man sie gerade nicht vermutet und immer dort nicht sind, wo man sie gestern noch eingefangen hat. Die Liebe drängt zwar zur Gemeinschaft, aber nur zu derjenigen, die aus dem Alleinsein kommt und ins All-Eins-Sein mündet.
S. 83


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Kriegerschule / Die Kriegertexte, Sachbuch Spiritualität, Basic Editions, 2010
Der Krieger löst den Widerspruch, die Bindungen des Menschseins zu behalten und gleichwohl mit Freuden und absichtlich in die absolute Einsamkeit der Ewigkeit vorzudringen. Dies macht ihn bereit für die endgültige Reise.
S. 61


Aus: Samuel Widmer Nicolet: … der Tod hingegen ist ein Morgen/ Sterben - Tagebuchnotizen von Samuel Widmer Nicolet, Autobiographisch, Basic Editions, 2015
Eigentlich, wahrhaftig, ist der Tod ein äusserst interessantes, magisches Phänomen, ein ganz ausserordentlicher Höhepunkt im Ablauf eines Lebens, und das Sterben eine letzte Entfaltung voller Schönheit und erfüllt von einer reifen und erhabenen Einsamkeit.
S. 15

Meine Liebe ist müde;
sie schreibt gerade keine Gedichte.
Aber sie sucht die deine,
trifft sich mit ihr
und lädt die Traurigkeit
und die Einsamkeit
als zusätzliche
Gespielinnen dazu.
Lass uns tanzen, sagt sie,
aber einen stillen Tanz!
Lass uns tanzen,
heute Nacht, auf deinen Bergen,
über dem fallenden Wasser
und hoch in den Wolken,
tanzen wie ein verwunschenes,
verlorenes Schattenspiel,
im letzten Licht eines
schwindenden, sterbenden Tages!
Lass uns taumeln, müde tanzen,
über dem dunklen Tal
und durch seine stille Hütte
– und glücklich sein!
S. 17

La principessa
Da war einmal eine Prinzessin. Durch glückliche Umstände fand sie den Mann ihrer Träume. Oder vielmehr: Sie fanden einander. Denn ihm ging es mit ihr nicht anders: Sie war sein Glück. Sie waren aufeinander abgestimmt und liebten einander, wie es in tausend Jahren höchstens einmal vorkommt. Nach einem Jahr der rasanten Verliebtheit schien es der Angebeteten allmählich an der Zeit, dass diese Phase des fühlenden Verliebtseins den Weg in die Heimat einer handelnden Liebe finden müsste. Eine kleine Enttäuschung begann sich in ihr auszubreiten, als sie zu erkennen begann, dass ihr Seelengefährte zwar zum ganz grossen Gefühl fähig war, vor der Tat der Liebe aber zurückschreckte. Sie fühlte sich in ihrem Eifer gebremst und hatte mit dem Eindruck des Zurückgewiesenseins zu ringen. Denn der Respekt vor der Freiheit des anderen erlaubte ihr nicht, an seiner Haltung etwas auszusetzen. So versuchte sie, sich mit der Situation zu arrangieren, das ewige Verliebtsein, das ihr Geliebter anstrebte, zu geniessen und sich zufriedenzugeben mit dem, was zu erreichen war. Wie es so geht, liessen sich die grossen Gefühle allerdings nicht endlos aufrechterhalten, ohne dass sie aus dem Boden eines eingelassenen Lebens genährt wurden. Eine leise Langeweile nagte am Herzen der Königstochter. Diese führte sie ganz von selbst in eine innere Einsamkeit und diese wiederum vor das Tor des Todes. Erwachend erkannte sie, dass ihr Prinz vor allem das Sterben vermeiden und daher an allem Kindlichen, das mit Verlieben und Geniessen Hand in Hand geht, festhalten wollte. Aus seiner kleinen ich-betonten Welt wollte er gar nicht heraus, sich nicht öffnen für eine Bewegung des Gemeinsamen. Sie aber konnte nicht anders: Freudig durchschritt sie das Tor des Ultimativen in ihrem Innern und erwachte vollends. Nun fühlte sich allerdings ihr Verehrer zurückgelassen. Obwohl sich im Äussern nichts verändert hatte, beklagte nun er den Verlust von Leidenschaft und Innigkeit in ihrer Beziehung. Auch er war wohlerzogen; deshalb sanken auch seine Klagen nur in sein Inneres. Der Respekt vor der Freiheit seiner Verlobten verbot ihm, sie in Frage zu stellen. Deshalb ist zu hoffen, dass ihn das Versinken in seiner Traurigkeit schliesslich auch in die Einsamkeit und dadurch vor das goldene Tor des Todes führen wird. Ob er diesen Tod, der nicht zur Vernichtung, sondern zu wirklichem Leben und Eingelassensein führt, am Ende wird erfahren und damit die Grundlage für eine wirkliche Jahrtausendliebe und ihr besonderes Glück wird legen dürfen, bleibt dem Mysterium des Lebens und des Schicksals, diesem ewigen Begleiter der Einheit von Tod und Liebe, überlassen.
S. 53

„Im Alter ist man gezwungen, sich ausschliesslich mit dem Alter zu beschäftigen“, hörte ich kürzlich einen bekannten Schweizer Mundartdichter klagen. Das ist tatsächlich die Bedrohung, die unablässig über einen hereinzubrechen droht, wie ich es früher auch schon dargestellt habe. Und ob es einem als Krieger gelingt, diesen „vierten Feind“ bis zum Ende abzuschütteln, ist tatsächlich die grosse Frage bezüglich des Älterwerdens. Dass man dabei allerdings immer mehr der Einsamkeit ausgeliefert sein muss, wie der Volkspoet, was man von vielen immer wieder hört, bestätigt, möchte ich anzweifeln. Mir scheint, dem Umstand, der Einsamkeit im Alter preisgegeben zu sein, eindeutig ein Selbstverschulden zu Grunde zu liegen. Kümmert man sich ein Leben lang um beständige Liebesbeziehungen und um den Kontakt zu jüngeren Leuten, ereilt einen kein Schicksal des Verlassen und Vergessenseins. Die Tendenz zur Selbstisolation, ein abgeschnittenes Ich zu sein, der sich viele Menschen ein Leben lang hingeben, fordert in den letzten Lebensjahren ihren Tribut. Möglicherweise gilt dies auch schon für die erste Klage: Dass die Zipperchen des Alters nicht abzuwenden sind und jeden früher oder später heimsuchen, scheint mir unabdingbar, dass sie sich auswachsen müssen, zu einem alles vereinnahmenden Geschehen, in welchem man sich mit nichts anderem mehr beschäftigen kann, jedoch kein Muss, sondern wenigstens zum Teil auch Folge und Resultat eines unstimmigen Lebensstils in jungen Jahren. Es mag auch Schicksale geben, die nicht Ausdruck von Ursache und Wirkung sind, aber im Allgemeinen sollte es einem Menschen, der sich in seinem Leben um die Haltung eines Kriegers bemühte, doch gelingen, das Alter und seine Beschwerden bis zur Todesnähe so weit in Schach zu halten, dass es nicht seine ganze Lebenskraft auffrisst und nicht seine ganze Existenz, sein ganzes Sein, vereinnahmt. Dass das Alter hingegen Gefühle und Zustände kennt, die der Jugend fremd sind, wie der Schweizer Schriftsteller behauptet, ist wohl schwer zu leugnen. Die Geschenke des unverdienten Glücks, der Liebesgeschichten für Betagte, die das Schicksal uns gnädig gönnt, sind darin eine grosse Hilfe und ein Entgegenkommen, wie sie vielleicht nur ein Krieger auf sich zieht.
S. 71


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Liebe - Bilder, Gedichte und kleine Meditationen, Basic Editions, 2014
Im Eigenen findet man viele und interessante Dinge:
Einsamkeit vor allem, Kummer,
eine ganze Menschheitsgeschichte des Leids
Viele Ängste auch, Enge und Krieg
Das Glück aber
ist fast eigenartigerweise
im Gemeinsamen versteckt
Das Glück, Frieden, die Liebe
finden sich dort,
wo man sich selbst vergisst
S. 77

Wir verbieten uns selbst ja alles, damit die anderen aus Fairnessgründen auch nichts dürfen. Und wir verbieten alles Schöne, weil wir das Ausgeschlossensein fürchten, weil wir ängstlich sind und neidisch. Der Preis für die Freiheit und damit für das In-der-Liebe-Blühen-Dürfen ist das Überwinden dieser menschlichen Konditionierung. Dies ist letztlich ein Entschluss, ein Entschluss aus Einsicht, weil man die Schönheit und die Liebe will. Ein Entschluss, der zuerst als heroischer erscheint, am Ende aber gar nicht bringt, was er einzufordern schien. Nicht Ausgeschlossensein, nicht Einsamkeit wird als Ergebnis zu uns kommen, sondern das Ende allen Leids, ein Aufgehobensein in einem Feld von Liebe, in dem der Mangel ein Ende hat und der Üppigkeit der Liebe Platz macht.
S. 89

Kennst du die Einsamkeit des Fuchses, streunend im Wald in einer sommerlichen Gewitternacht?
Sie ist tief und gross, still und ohne Leiden. Uns Menschen käme sie unzumutbar vor, zu gross, um ertragen werden zu können. Da wir sie und das unendlich Unbekannte, das mit ihr zusammengeht, bewusst erfassen würden, würden wir unseren Schrecken davor in sie hineinprojizieren, die Einsamkeit nicht mehr rein als Faktum sehen, sondern sie mit unserer Leidensbereitschaft verunreinigen. Unbewusst, unschuldig erfasst, wie der Fuchs sie erlebt, ist sie nur Reinheit, Schönheit, ja Erhabenheit. Und Alleinsein natürlich. Fakt, und nichts darüber hinaus.
Gibt es neben dieser vorbewussten Unschuld auch jene, die über Bewusstheit hinausgeht, die sich des Immensen, des gewaltig Grossen voll bewusst sein kann und doch nicht in Angst erstarrt vor dieser Erhabenheit? Die Ehrfurcht empfindet, dort wo das durchschnittliche Bewusstsein sich wimmernd und zitternd vor Angst verkriecht?
Ist es die Liebe, das Erfülltsein von dieser Kraft, die uns diesem Erhabenen gleich werden lässt, welche die Einsamkeit des Fuchses vor dem grossen Unbekannten und dieses damit zu einem werden lässt, zum Einen, geboren aus ihr, umfasst von ihr? Liebe ist darin eine andere Dimension; ein Ich existiert darin nicht mehr. Genauso wie die vorbewusste Unschuld des Fuchses kein Ich kennt, ist das Ich, erstanden aus der Bewusstwerdung im Zustand der Liebe wieder überwunden, ohne dass allerdings die Errungenschaft, die seine Erstehung gebracht hat, nämlich das Sehen der ganzen Wirklichkeit, verloren gehen würde.
Liebe ist viel mehr als ihr fader Fussabdruck, den unser Ich kennt, die romantische Liebe. Obwohl es keine Trennung in ihr gibt im Sinne von menschlicher und göttlicher Liebe, im Sinne von Eltern- oder Freundesliebe und so weiter, obwohl sie immer dieselbe, die eine Kraft und in all ihrem Ausdruck eins ist, ist unser Beschränktsein auf solche Kategorien doch ein Hindernis, sie in ihrer Grösse zu erkennen. Sie ist ein Wesen, das unabhängig von uns im Universum existiert, das ganze Universum belebt und ausfüllt und für alle Schöpfung steht.
Liebe ist die Einsamkeit des Fuchses, die Ehrfurcht vor dem grossen Unbekannten und das Einssein von allem in diesem Unerklärlichen.
Die Aufhebung des Verbotes in uns, mehr als einen Menschen lieben zu dürfen, und noch vielmehr des Verbotes, dass unsere Liebsten noch andere Menschen lieben dürfen, befreit uns von der engen Sicht auf die Liebe, die uns nur ihren faden Fussabdruck, die romantische Liebe, sehen lässt. Die Aufhebung dieses Verbotes in uns befreit uns für die Einsamkeit des Fuchses, streunend im Wald in einer sommerlichen Gewitternacht, und damit für die grosse Liebe, von der die romantische natürlich ein Ausdruck ist. Die Aufhebung des Verbotes, das mit dem Inzesttabu in uns etabliert wurde, befreit uns für die Liebe zu allem und jedem, für das ganz und gar Erfülltsein von dieser universellen Grundkraft, für die Erhabenheit des Geheimnisses unserer Existenz und der Schöpfung.
Liebe ist etwas Unglaubliches. Sie bringt Wunder über Wunder hervor, wenn wir sie in uns und unser Leben lassen. Sie erhebt auch unser romantisches Lieben in eine andere Dimension, macht es zu etwas Heiligem und Grossem. Sie zu beschränken, zerstört sie, vertreibt sie, lässt etwas Kleines, Enges und Hässliches zurück, aus dem sie längst entflohen ist.
Der Einsamkeit des Fuchses in der Nacht standhalten zu können, mit ihr still sein zu können, so dass sie nur ein Faktum, ein Zustand von Reinheit und Schönheit ist, ist Voraussetzung, um der Liebe Gefäss sein zu können. Einmal ihr Gefäss, benutzt sie uns als Werkzeug, um sich zum Ausdruck zu bringen. Alles, was wir dann tun, ist durchdrungen von ihr und darum gut, stimmig, richtig. Wir können dann tun, was wir wollen, wir verirren uns nie dabei. Wir werden den richtigen Weg immer finden. Wir sind frei.
In der Liebe sind wir frei.
Der Begegnung mit dem streunenden Fuchs in einer Gewitternacht allein in unserer Waldhütte in
den Bergen verdanke ich diese Einsichten. Seine Magie und Einsamkeit beim Vorüberhuschen hat mich berührt.
S. 95

Im Schmelztigel
der Einsamkeit
schürt Leidenschaft
die Glut der Liebe
Schliesslich wächst sie
durchbrechend zum Vulkan
der Glückseligkeit heran
explodierend in die Einheit
S. 96


Schmetterlingsflügel
Unvermittelt fühle ich mich einsam.
Hat die Liebe mich verlassen?
Da kommt ein Lied zu mir geflogen,
und füllt mein Herz mit dem Grossen.
Wie von einem Schmetterlingsflügel
fühle ich mich zart gestreift,
erinnert an das Wunder der Liebe,
zu dem uns jederzeit die Türe offen steht.
Durch die Pforte bin ich eingetreten,
um mich und alle Einsamkeit damit
erneut in ihr zu verlieren,
im Geheimnis, das uns ständig ruft.
S. 124


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Stell dir vor, du wärst ein Stück Natur, Von der Lust am Verbotenen, Basic Editions 1995
Das Alleinsein, die Einsamkeit aus freien Stücken zu wählen, ist vielleicht das letzte Ziel, paradoxerweise auch bei der Auseinandersetzung mit Beziehungen. Diese innere Einsamkeit aus freien Stücken zu wählen, ist identisch damit, alle Fluchtversuche, um sich selbst auszuweichen, aufzugeben; es ist identisch mit der Bereitschaft, sich sich selbst ununterbrochen zu stellen. Alle Fluchtversuche aufzugeben vor der inneren Einsamkeit, ist noch nicht genug. Es ist nötig, dass diese innere Einsamkeit von uns freudig gewählt wird, weil wir erkennen, dass sie einfach ist und wir nichts dagegen tun können. Sich der inneren Einsamkeit zu stellen, heisst nicht, sich äusserlich zu isolieren, es heisst, die innere Leere mit nichts mehr zu füllen, weder mit Konflikt noch mit Vergnügen, weder mit Gedanken noch mit Musik oder Büchern. Wenn wir die innere Einsamkeit aus freien Stücken wählen, statt uns vom Leben immer wieder auf diese Tatsache stossen zu lassen, verschwindet alle Angst aus unserem Leben, weil hinter all unseren Ängsten immer diese Angst lauert, in die Einsamkeit verstossen zu werden. Auch alles Leid hat dann ein Ende, weil alles Leid dem Konflikt entspringt, den wir auf unserer Flucht vor dem, was wir sind, verursachen; und das, was wir sind, ist im tiefsten Grund wieder diese innere Einsamkeit, welche aufhört, ein Problem zu sein, wenn wir sie wählen.
Spiritualität heisst, sich seinem innern Alleinsein zu stellen, darin einzutauchen und aufzugehen, nicht mehr davor zu fliehen, sondern dieses Alleinsein zu wählen, kennenzulernen und auszukosten. Wenn wir nun aber diese Auseinandersetzung mit der inneren Einsamkeit suchen, um den unlösbaren Problemen in der Gemeinschaft mit andern zu entfliehen, wird sich das innere Tor nicht öffnen, sondern verschlossen bleiben; und warum ist klar: Wir sind ja damit wieder auf der Flucht vor uns selbst, und wie sollten wir uns dort antreffen? Das Problem im Zusammensein ist im Wesentlichen, im Kern, immer wieder die ungelöste Dreiecksproblematik, welche überall, wo die Liebe vielleicht für einen Moment keimt und aufleuchtet, gleich wieder für viel Qualm sorgt, welcher die Flamme erstickt. Dreiecksproblematik, das heisst, dass wir es nicht aushalten und annehmen können, wenn wir in Beziehungen auf die Tatsache unseres Alleinseins, unseres Verlassenseins, unserer Einsamkeit gestossen werden, ohne mit Abwehr in Form von Eifersucht und Neid mit den entsprechenden Aktionen zu reagieren. Die Dreiecksproblematik löst sich also auf in und zwischen uns, wenn wir lernen, innerlich allein zu sein und allein zu bleiben, die Tatsache unseres Alleinseins zu sehen, zu akzeptieren und zu wählen. Dann brauchen wir vor dieser Problematik keine Angst mehr zu haben. Es ist also der gleiche Faktor, der das Tor zur Spiritualität und zur echten, tiefen, in Liebe verbundenen Gemeinschaft öffnet: Die innere Einsamkeit. Wenn wir Gemeinschaft suchen, um dieser Einsamkeit in uns zu entfliehen, werden wir nur Abhängigkeit mit ihren Bindungen finden; wenn wir Spiritualität suchen, um dem Alleinsein in unseren Beziehungen zu entgehen, werden wir nur Isolation mit ihren Illusionen finden; und die Abhängigkeit mit ihrer Enge und ihren Bindungen wird uns genauso wie die Isolation mit ihren Illusionen wieder zur Tatsache unserer inneren Einsamkeit zurückführen, die unverändert auf uns wartet. Die Frage ist also, wie wir uns dieser Einsamkeit in uns stellen können, ohne uns zu isolieren, und wie wir uns ihr in unseren Beziehungen stellen können, ohne uns zu binden. Das heisst, Gemeinschaft zu fliehen, wo sie Flucht vor sich selbst ist und wo sie nicht in der Flamme der Liebe brennt (und das ist meistens!), und es heisst auch, aus dem Alleinsein auszubrechen, wo es Isolation ist und ein Ausweichen vor seinen Ängsten (und das ist ebenso meistens!).
Wenn wir die innere Einsamkeit aus freien Stücken zu wählen beginnen, öffnet sich uns gleichermassen das Tor zur Spiritualität, welche die Entfaltung der inneren Einsamkeit nach innen, in eine leidlose Dimension ist, und auch zur Liebe, welche die Entfaltung der innern Einsamkeit nach aussen, in eine völlig neue Dimension von Gemeinschaft ist.
S. 219

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Celias Garten (unter Paul Nicolet), Roman, Basic Editions, 2006
Manchmal überfällt auch Celia eine Einsamkeit. Eine grosse Einsamkeit. Wenn sie an den alternden Tomaso denkt. Wenn sie an die Zeit denkt, die sie noch ohne ihn wird weitergehen müssen. Sie ist umgeben von strahlenden Männern, strahlenden Menschen, und doch allein unter ihnen. Deine alleine... Immer ist sie alleine gewesen, bis sie ihrem Kismet, ihrem Schicksal begegnet ist. Alleine deine... Wenn das Schicksal sich erfüllt, wird sie wieder alleine gehen müssen. Allein unter denen, die sie lieben und verehren. Und nur du kannst mir Heimat sein... „Beziehungen enden, sobald wir gelernt haben zusammen, was darin zu lernen war. Das ist ganz natürlich“, hatte sie einer aufgelösten Katja heute erläutert, die weinte, weil sie verlassen worden war. „Solange man nicht völlig erwacht ist, lebt man Geschichten zusammen, Geschichten, die enden. Erst wenn du erwachst, kommt das Erhabene und zeigt dir die Geschichte, deine Geschichte, dein unumstössliches Schicksal. Das dann dein Glück, dein Schmerz und dein Tod sein wird. Dich erheben und zerreissen wird.“
S. 162


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Du bist Schönheit - Krishnamurti - Angewandt im Alltag - Der Einfluss seines Werkes auf die Psychotherapie / Von der Liebesgeschichte eines späten Sommers, Basic Editions 1998
Ist es das, was verhindert, dass wir uns wirklich radikal verändern, dass wir nicht allein sein können, dass wir diese Einsamkeit nicht austragen wollen: die Tatsache, dass jeder von uns, der sich aufmacht ins Paradies, zuerst einmal da ganz allein ankommt? Und wollen wir die Konsequenz dieser Tatsache nicht tragen, dass wir dann ganz allein beginnen müssten, in der Welt eine Verwandlung zu bewirken? Wollen wir diese Last nicht? Haben wir den Mut nicht? Und was heisst das ganz persönlich in meinem Leben? Welches wäre der Schritt, den ich zu tun hätte? Müsste ich das Rauchen aufgeben, um meine Einsamkeit zu fühlen? Und das will ich nicht? Müsste ich meine Sicherheiten aufgeben in Beziehungen oder am Arbeitsplatz, um wirklich auszubrechen aus der Gesellschaft? Und das will ich nicht? Will ich mich der Einsicht nicht ergeben, dass Besitz, auf welcher Ebene auch immer, nur eine Idee ist, dass niemand tatsächlich etwas besitzen kann, dass alle Dinge in Wirklichkeit für sich stehen? Müsste ich meinen Geiz anschauen, meine Gier, die Folgeerscheinungen des Besitzdenkens und des Zukurzgekommenseins, die damit einhergehen? Aber will ich das? Will ich meine Trägheit nicht überwinden? Habe ich Angst? Bin ich zu bequem? Fehlt mir das Feuer, diese leidenschaftliche Kraft des Verlangens nach dem Wirklichen? Gebe ich mich zufrieden mit dem Mittelmässigen? Kann ich nicht allein sein?
S. 138

Hinter all den komplexen Problemen, die der Mensch hat, die so verwirrend und undurchsichtig erscheinen, so unlösbar auch, findet man immer wieder dieses eine zentrale Problem: Der Mensch will nicht allein stehen, und er verweigert deshalb, die Einsamkeit, in der er sich befindet, die Isolation, die er auf der Flucht vor dieser Tatsache schafft, anzuschauen. Dabei wäre genau diese Einsamkeit das Tor zu einem Alleinsein, das Glückseligkeit ist.
S. 142

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Im Irrgarten der Lust - Abschied von der Abhängigkeit/ Die Geburt der Freude: Eine Liebesgeschichte, Sachbuch Psychologie, Basic Editions, 2. Auflage 1997
Eigentlich gibt es nämlich nur zwei Seinszustände. Wir können im Zustand der Liebe sein und uns in diesem wie eine Blume, in einen zeitlosen Raum, ohne Anfang und ohne Ende in die Qualitäten der Liebe hinein entfalten. Es entsteht dabei ein Lebenswerk, es entfaltet sich daraus auch Gemeinschaft, Beziehung, letztlich eine ganze menschliche Gesellschaft, eine ganze Welt. Das ewige Jetzt, ein zeitloses Sein, ganz einfach das Paradies, als ein absolut gegenwärtiger Zustand des Seins, ein Universum im Zustand der Meditation wird daraus geboren; es besteht keinerlei Verbindung zur Vergangenheit, keine Anhäufung von Vergangenheit, was das Bewusstsein, die psychologische Seite des Daseins anbelangt, da ist lediglich eine Präsenz, die keinerlei Spuren hinterlässt. Ganz im Gegensatz dazu steht der zweite uns mögliche Zustand, der Zustand der Einsamkeit, die letztlich nichts anderes ist, als die Angst, nicht geliebt zu sein. Dieser Zustand entsteht, wenn er nicht bereits karmische Hintergründe hat, im frühen Kindesalter dadurch, dass wir im Stich gelassen, nicht richtig geliebt werden. Es entsteht dadurch eine Verletzung, die dem Zustand der Unschuld, dem Zustand des paradiesischen Seins ein schmerzliches Ende bereitet. Es entsteht eine Spur, eine Vergangenheitsspur, eine Erinnerung, die nicht gleich wieder gelöscht wird. Der Zustand der Einsamkeit wird geboren. Dieser löst sich, wenn er ausgetragen wird, entweder gleich wieder auf, was uns leider als Kind häufig nicht gelingt, oder er wird verdrängt, unterdrückt, abgespalten und so fort, und daraus entwickelt sich dann die Welt, wie wir sie kennen, das Nichtparadies. Es entfaltet sich eine nicht heile, nicht ganze Persönlichkeit, die eine Unmenge von Emotionen hervorbringt, welche sie in die Welt hinausprojiziert und welche alle auch eine Vergangenheitsspur hinterlassen, so dass sich wiederum ein Lebenswerk daraus gestaltet, diesmal aber ein trauriges, ein miserables, eben ein einsames, wie wir es alle kennen. Es erwachsen daraus auch wieder eine Gemeinschaft, Beziehungen, letztlich eine ganze menschliche Gesellschaft, eine ganze Welt, die völlig anders aussieht als die erste traurig, miserabel, einsam, destruktiv und die schliesslich der menschlichen Gesellschaft entspricht, wie wir sie tatsachlich kennen.
S. 17

Wenn es mir gelingt, meine Geschichte zu löschen, eine reine, leere Wahrnehmung zu werden, egolos, hören alle Projektionen, und das heisst alle Gefühle in meinem Innern, auf. Auch die Einsamkeit, das letzte und tiefste aller Gefühle, welche zu diesem Bereich gehören, aus dem heraus sich alles andere entfaltet hat, wird dann letztlich als Gefühl erkannt, das mit dem Äussern nichts zu tun hat. Wir erkennen dann, dass Einsamkeit, Angst nicht geliebt zu werden, in uns vorhanden ist unabhängig davon, ob wir gerade umgeben sind von den besten Freunden oder ob wir tatsächlich ganz allein sind. Wir fühlen dann die Einsamkeit in allen Situationen, wenn wir allein sind, wenn wir mit schwierigen, distanzierten Menschen sind, wenn wir mit unseren Liebsten sind und wenn wir in der Natur sind. Wir fühlen sie überall, wir fühlen unser Abgespaltensein vom Ganzen und hören auf, dies mit irgendetwas Äusserem zu verknüpfen. Es hat nichts damit zu tun, dass ich keinen Freund habe, oder keinen Geliebten, nichts damit zu tun, dass meine Frau mich nicht liebt oder die Menschen mich nicht beachten, obschon dies möglicherweise tatsachlich der Fall ist, weil ich mir in der Regel die passende Situation zu meinen Gefühlen schaffe und suche. Und wenn sich diese Einsamkeit, die mit nichts mehr etwas zu tun hat und sich auf nichts mehr projiziert, in mir auflöst, dann wird die Liebe geboren, dann wird die Freude geboren und es beginnt sich die andere Welt in mir und aus mir heraus zu entfalten. Nicht dass die Einsamkeit dann nie mehr kommen wird. So wie ich als Kind in diese Vergangenheitsschuld hinein geraten bin, kann ich es immer noch und immer wieder aus Unachtsamkeit, aus Dummheit, aus Nachlässigkeit. Ich kann aber auch immer wieder austreten, ich habe immer wieder die Wahl, die andere, die schönere Welt entstehen zu lassen, indem ich die Vergangenheitsschuld wieder abtrage, bis sich das Andere wieder entfalten kann. Ich kann aber auch jederzeit die weitere Anhäufung von Schuld wählen, um dem Elend, der Destruktion wieder Raum zu geben in meinem Leben und damit in der Welt.
Die Einsamkeit endet dort, wo ich beginne, mich selbst zu lieben und aufhöre, die Liebe, die ich brauche, ausser mir zu suchen. Damit beginne ich überhaupt zu lieben. Ich erkenne, dass der einzig adäquate Gefühlszustand in Bezug auf mich selbst, in Bezug auf die andern Menschen, in Bezug auf die Welt, wie sie immer gerade ist, der Zustand der Liebe ist, und lieben heisst nichts anderes, als jederzeit und in jeder Situation mit dem innersten Wesenskern dessen, was gerade ist, in Kontakt zu sein, diesen zu erkennen und zu respektieren. Damit enden alle Projektionen. Damit enden auch alle Gefühle in mir. Die Liebe erkennt, was ist, lebt mit dem, was ist, und liebt das, was ist. Sie sieht zwar, dass das, was ist, häufig nicht gut ist, nicht richtig ist, nicht stimmig ist; sie sieht auch, dass das Paradies sein könnte und nicht stattfindet. Aber sie reagiert darauf nicht mit Trauer, nicht mit Wut; sie reagiert überhaupt nicht auf diese Tatsache, sondern, sie sieht sie, wie sie ist und tut, was nötig ist, damit vielleicht irgendeinmal das Paradies entstehen kann. Sie liebt, was ist!
Wenn wir die Einsamkeit in uns stehen lassen lernen, ohne darauf zu reagieren, ohne davon auf irgend eine Weise weggehen zu wollen, was äusserst schwierig ist, viel Energie braucht und viel innere Disziplin, dann hört sie auf, ein Gefühl zu sein. Sie ist dann lediglich ein körperlicher Zustand, eine Art Schmerz oder eine Art Druck, der absolut still steht in uns, regungslos wie ein Fels. Und dieser Fels ist der Anfang einer neuen Bewegung in einer anderen Dimension. Der Geist ist nicht mehr im Zustand des Suchens, sondern im Zustand des Angekommenseins.
S. 18

Der Zustand der Einsamkeit, […], kennt weder die Freude noch die Liebe.
Von dort gibt es keinen Weg zu diesen Quellen. Der andere Seinszustand muss gefunden werden, der Zustand der Freude und Liebe, der die Einsamkeit umschliesst, so wie eine Mutter ihr Kind hält. Wenn sie nicht da ist, die Freude, können wir nichts tun, ausser warten, aushalten, makellos umgehen mit den Inhalten des Bewusstseins, mit den illusionären Energien, die die Einsamkeit und die Abwehr der Einsamkeit schafft. Aber wenn sie da sind, die Freude und die Liebe, entleeren sich diese Inhalte und werden vollkommen bedeutungslos. Die Wirklichkeit der Einsamkeit, die, wenn wir ihr ausgeliefert sind, so hart und real erscheint, entpuppt sich plötzlich als aufgeblasene Illusion und Projektion unseres eigenen Denkens.
S. 303


1) Aus: Samuel Widmer Nicolet: Aus dem innersten Herzen gemeinsamen Seins, Von den Basics bezüglich Gemeinschaftsbildung/ Weitere Briefe an die Gemeinschaft, Basic Editions, 2007, S. 171
2) Aus: Samuel Widmer Nicolet: Der Gesang des Begnadeten/ von der unendlichen Liebe (The Song of the Blessed One/ about love infinite), Samuel-Shri-Prem-Avinash-Gita, Meditationen, Basic Editions, 2017, S. 3
3) Aus: Samuel Widmer Nicolet: … der Tod hingegen ist ein Morgen/ Sterben - Tagebuchnotizen von Samuel Widmer Nicolet, Autobiographisch, Basic Editions, 2015, S. 54
4) Siehe Newsletter 5/2019 - Das Alleinsein