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Newsletter 6/2021 - Das Denken
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Dezember 2021

H

ände, lasst von allem Tun,
Stirn, vergiss du alles Denken,
alle meine Sinne nun
wollen sich in Schlummer senken!
Und die Seele, unbewacht,
will in freien Flügen schweben,
um im Zauberkreis der Nacht
tief und tausendfach zu leben.
Hermann Hesse


Um das Ganze zu begreifen, muss das Denken
vor dem Ganzen schweigen lernen.
Samuel Widmer




Liebe Leser

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi


P.S. Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden. Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis. Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch).


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen, Basic Editions, 2005
Lauschen beendet das Denken. Wir haben selten die Geduld und das Interesse, intensiv, lange und aufmerksam zu lauschen und zu schauen. Sobald wir es tun, steht die Zeit still, das Denken schweigt.
Im Lauschen und Schauen lernt man unendlich viel. Man sieht durch die Dinge, durch die Menschen hindurch und begreift, sobald man unmittelbar zu lauschen versteht, ohne Interpretation, ohne Vorurteil. Der Schauende, der Lauschende ist darin abwesend.
Im einfachen Hören und Sehen liegt Achtsamkeit, Gewahrsein, darin beginnt das Gute zu blühen. Die meisten Menschen sind nicht achtsam, sie denken ständig, drehen sich fortwährend um sich selbst. Sie sehen weder die Schönheit der Erde, die sie umgibt, noch den weiten Himmel. Sie sind sich nicht einmal ihrer eigenen Gedanken bewusst, nicht gewahr ihrer Reaktionen, ihrer Art zu handeln, wie sie sich geben, wie sie essen oder reden.
Achtsamkeit, ein stilles Gewahrsein, das sich auf alles richtet, ist wahllos, wahlloses Gewahrsein, in dem keine Vorlieben Platz haben. Ein solches, stilles, ehrliches wahlloses Gewahrsein erzeugt Aufmerksamkeit, einen Zustand des Gehirns, in dem dieses äusserst still, hochsensibel, unmittelbar erlebend, ein äusserst differenziertes Wahrnehmungs- und Sinnesorgan ist. Wenn das Gehirn mehrheitlich oder für längere Zeit in diesem Zustand, nicht eine repetitiv und unbewusst produzierende Gedankenmaschine, sondern ein höchst sensitives Sinnesorgan ist, das wahllos von Augenblick zu Augenblick sieht und hört, was da ist, was sich innen und aussen bewegt, dann kommt daraus Einsicht. Einsicht kommt wie ein Blitz, ein unmittelbares Verstehen, Begreifen, Wissen. Mit grosser Klarheit und ohne jeden Zweifel nimmt man Einsicht in die Zusammenhänge, Implikationen, Konsequenzen von allem Geschehen. Und daraus kommt eindeutige Handlung, ganzheitliche Handlung, in der kein Wählen mehr ist.
Der Durchschnittsmensch, das durchschnittliche Gehirn ist gefangen in seinem eigenen Denken, seinen fixen Vorstellungen und Glaubenssätzen. Es weiss Bescheid. Es ist verhangen in Voreingenommenheit und der Sicherheit seines Glaubens. Ein waches Gehirn ist unsicher, es weiss nichts. Es schaut, lauscht und nimmt Einsicht. Das ist ein kontinuierlicher Prozess des Fragens, Forschens, Untersuchens, Zweifelns. Aus dieser Haltung der Unsicherheit kommt dann ein untrügliches Erkennen von dem, was ist. […]
Das, was ganz mühelos Freiheit von aller Konditionierung bringt, ist das Ende der Zeit, und das ist das Enden des Denkens. Und dieses Enden von Zeit und Denken kommt aus dem Lauschen und der Einsicht, zu der Gewahrsein führt. Daraus erblüht das Gehirn zu einer ganzheitlichen Beziehung zum Geist, zur Intelligenz des Ganzen. Darum gehört Lauschen, der erste Schritt auf dem Weg, bereits zum Allerinnersten. Darum ist Lauschen der einzige Schritt, der immer wieder zu tun ist, lauschen, schauen, gewahr sein. Alles andere, Aufmerksamkeit, Einsicht, ein stilles Gehirn, das Ende des Denkens und der Zeit, kommt ganz mühelos daraus. Lauschen ist der erste und der letzte Schritt auf dem Weg. Lauschen klärt unsere verschüttete Verbindung zum Geist, verschüttet unter der schweren Konditionierung, der wir unterzogen wurden, der Konditionierung von Jahrtausenden.
Das Denken und sein Beiprodukt, die Gefühle, sind es vor allem, die im Prozess der Selbsterkenntnis schliesslich durch und durch verstanden werden. Wenn die Gedanken durch Zentrierung in der Wahrnehmung, durch Lauschen und Schauen allmählich ruhiger geworden sind, kann man jeden einzelnen Gedanken beobachten, wie er entsteht und vergeht.
Es gibt das gewöhnliche Denken, das im Grunde genommen Gedankenlosigkeit ist, das egoistische, selbstsüchtige Denken, das ständig um sich selbst dreht und ein repetitives, mechanisches Denken ist, das aus vorgefertigten Mustern der Moral, der Ehrbarkeit, der Konditionierung kommt. Diese Art des Denkens geht mit Achtlosigkeit zusammen, ist gewalttätig und kaum bewusst. Dieses Denken entspringt einem Geist, der in den abwehrenden Gefühlen zu Hause ist, ohne sich darüber bewusst zu sein. Diese Art des Denkens muss angehalten werden in uns. Durch den Prozess der Selbsterkenntnis — lauschen, schauen, aufmerksam sein, Einsicht nehmen — kommt es zu einem Stillstand dieser endlosen, gewohnheitsmässigen Gedankenräder und -schlaufen, die ohne jede Kreativität und Originalität in stumpfer Langeweile immer wieder denselben Unsinn produzieren. Einsicht, die aus diesem Stillstand kommt, benutzt dann die Fähigkeit zu denken, die das Gehirn hat. Der Geist des Ganzen, der Einsicht bringt, benutzt das Denken als Werkzeug, um sich zu formulieren. Dies ist eine völlig andere, eine völlig neue Art des Denkens. Nicht ein gedanken¬loses, unbewusstes Rattern einer konditionierten Maschinerie, sondern ein bedachtes, ein gedankenvolles, ein achtsames, bewusstes Denken voller Kreativität und Originalität. Etwas, was vertikal eindringt, gewissermassen, in das, was ist, und nicht nur horizontal über die Oberfläche von allem hinschlittert. Eigentlich ist es gar nicht Denken. Es ist mehr ein Strom der Einsicht, der durchs Gehirn flutet. Das Ganze, die Intelligenz des Ganzen, der Geist des Ganzen durchdringt das Gehirn mit seiner tiefen Sinnhaftigkeit und gebraucht die Fähigkeit des Gehirns zum Denken, um sich zu äussern, sich auszudrücken.
Diese Art des Denkens ist global, aber nicht nur intellektuell global, sondern geboren aus einem tiefen Mitgefühl für alle Menschen, für die Tiere und Pflanzen, für die ganze Erde, für alles und jedes. Es ist ein unpersönliches Denken. Wir lassen darin zu, dass der universelle Geist sich direkt durch uns ausdrückt. Ein universelles Denken, das von Verantwortung, Mitgefühl und Liebe geprägt ist. Ein ganzheitliches Denken, das alle Zusammenhänge berücksichtigt, alle Gesichtspunkte anerkennt, wendig und flexibel ist und wirkliche Lösungen für jedes Problem findet, weil es aus einer fundamentalen, unpersönlichen Liebe kommt und die Schwierigkeiten tatsächlich lösen will. Es sieht, dass alle menschlichen Schwierigkeiten gelöst werden können. Dass wir sie lediglich nie lösen, weil wir die Lösung nicht wollen, weil wir in unserer Eigensucht die Liebe, aus der die Lösung herausfliessen würde, nicht wollen.
Der durchschnittliche, mittelmässige Geist denkt nicht global, er denkt selbstbezogen, selbst¬süchtig. Im besten Fall ist er identifiziert mit einem Stammesdenken, einer Nationalität, einer Familie, für die er denkt. Darin ist Konflikt, endloser Krieg, wir gegen euch, Gewalt, im besten Fall Mut, ganz bestimmt Missmut, aber nie und nimmer Sanftmut und Gleichmut. Und schon gar nicht Demut.
Globales Denken ist sanftmütig und demütig. Es steht allem in einer Innigkeit und Anteilnahme gegenüber, kommt aus dem tiefen Verstehen, dass ich und die Welt eins sind, dass du und ich nicht getrennt sein können, dass mein Glück dein Glück und dein Unglück mein Unglück ist, dass wir unzertrennlich sind. Deswegen äussert es sich sanftmütig und gleichmütig. Ein Geist, der aus dem Innersten lebt, kennt viel Sanftheit. Er ist sanft mit dir, weil er sich Sanftheit auch von dir wünscht. Er ist nachsichtig, immer zur Aussöhnung bereit, friedliebend.
S.55

Der Denker und seine Gedanken müssen sterben, sonst können Wahrheit und Liebe nicht erblühen. Wenn das Denken schweigt, ist das, was ist, heilig.
[…] Der Mensch sucht seit jeher und ununterbrochen nach Sicherheit. Er sucht sie im Denken, mit dem Denken. Aber alles, was daraus kommt, ist Verwirrung, Chaos, Unsicherheit. Das Denken ist ein Teil, es kann keine Stabilität schaffen. Das Denken ist ein Werkzeug. Es muss dem Ganzen dienen, dem Allerinnersten, sonst entartet es. Es muss sich von Einsicht führen lassen.
S.68

Das Gehirn muss dem alten Denken abgestorben sein, dem Denken von Trennung und Separation und erwacht sein für ein neues Denken, ein Denken des Miteinanders, das aus der Einsicht, aus dem Allerinnersten kommt und sich von diesem lenken lässt.
S.71
Die Essenz einer befreiten Energie ist Freiheit von Gedanke und Gefühl. Denn Gedanke und Gefühl zerstreuen Energie. […]
Das Gehirn, das ununterbrochen Gedanken produziert, ist immer oberflächlich, unbedeutend, nicht mit Ganzheit in Kontakt, verloren im Partiellen. Seine Gedanken mögen noch so hehr und erhaben sein, letztlich ist alles, was aus dem Denken kommt, bedeutungslos. Es ist nicht wirklich, nicht wahr. Wahr ist das, was gefühlt werden kann. Nicht die Gefühle, sondern das, was gefühlt werden kann, wenn die Gefühle schweigen, weil das Denken still geworden ist. Wahrheit, Wirklichkeit ist etwas Tiefes, etwas Erschütterndes. Es liegt jenseits von dem, was Worte zu fassen vermögen, liegt im Bereich des Zeitlosen, des Ewigen, des Unergründlichen. Wahrheit, Wirklichkeit, Klarheit kommen aus dem Allerinnersten.
S.167

Am Ende der Reise der Selbsterkenntnis ist es denn auch vor allem das Denken, das bis in seine feinsten und filigransten Ausstülpungen noch verstanden sein will, bis es sich auflöst beziehungsweise stillsteht im Verstehen seiner selbst. Der Denker erkennt an diesem Punkt, dass er mit dem Instrument des Denkens das Ziel seiner Sehnsucht zu erreichen versuchte, dies aber nie gelingen kann, da kein Gedanke und kein Gefühl je diesen ersehnten Raum betreten wird. Im Gegenteil muss alles Suchen enden, damit wir ankommen können. Im Erkennen dieser Tatsache lernt das Denken und all die Gefühle, zum Beispiel die Sehnsucht, die es hervorgebracht hat, zu schweigen, so dass sich das Tor auftun kann, das genau durch seine unablässige Aktivität verschlossen gehalten wurde.
S.11

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Erneuerung von uns selbst und unserer Welt, Briefe an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis, Basic Editions, 2018

Wortlos sei das Denken,
ein gemeinsam Schauen.
Darauf lässt sich bauen
eine neue Welt.
Niemand muss sie lenken!
Wie Natur kann schenken,
wollen wir auch trauen
dem, was alles hält.
S.33

Wirklichkeit gibt es nur eine. In ihr zu sein, ist eine Reise ohne Ende in unbegrenzte Tiefen. Nicht in ihr zu sein, ist unsere Realität, das Normale, das Gefangensein in den Vorstellungen, die das menschliche Denken über Wirklichkeit erfunden hat. Gedanke sein statt Wirklichkeit. Gedanke sein statt Energie. Gedanke sein statt Wahrnehmung. Gedanke sein statt Liebe. Zwei völlig unterschiedliche Zustände, die einander nicht berühren. Der eine: Ge¬danke, Angst, das ist die alte Geschichte. Sie hat keine Beziehung zur neuen, zum anderen Zustand. Liebe, Wahrnehmung, unbegrenzte: Das ist der andere Zustand, das eine Gefühl, die neue Geschichte. Sie schliesst die alte in sich ein, die zu ihr keine Beziehung haben kann. Gedanke sein statt Liebe. Schatten sein, so wie die meisten Menschen. Ein Schatten seiner eigenen Möglichkeiten. Etwas Unwirkliches. Diese Realität des Denkens hat tausend verschiedene Räume, viele Wirklichkeiten. Aber sie sind alle nicht real. Sie sind alle aus demselben Stoff gemacht, aus Gedankenenergie. Ein in sich geschlossener Raum. Ohne jeden Kontakt zum weiten Raum des Wirklichen.
Im Raum des wirklich Wirklichen ist die gesamte Energie der Gedankenwelt, aus der das ganze, unendliche Leid der Menschheit, der endlose Strom des menschlichen Bewusstseins überhaupt konstruiert ist, nur ein Punkt. Ein kleiner Punkt.
Krishnamurti zeigte uns minutiös auf, wie man im Prozess der Selbsterkenntnis sein Denken beendet. Einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Stimmung des Kriegers: den inneren Dialog beenden. Er lehrte uns das Exaktsein darin. Aber nicht nur das ständige Denken des undisziplinierten Menschen ist sein Problem, sondern paradoxerweise ebenso seine Gedan¬kenlosigkeit, die damit einhergeht. Dass man oberflächlich bleibt und in Abwehr jeder wirklichen Auseinandersetzung bezüglich seiner persönlichen, aber dann vor allem auch der grossen Fragen und tiefen Probleme des Menschseins, niemals anständig und gründlich über die wirklich wichtigen Dinge nachdenkt, ist genauso hinderlich für exakte Selbsterkenntnis und damit für unser Prosperieren wie das oberflächliche und ständige vor sich hin Plappern unseres Gehirns. Seine Gedanken anzuhalten, innerlich wirk¬lich still zu werden, beinhaltet beides: Das seichte, unnötige Denken durch Achtsamkeit in sich zu beenden und echt und tief nachdenken zu können, da wo es Not tut.
S. 111

Das Problem, das Selbsterkenntnis schliesslich aufdeckt und überwindet, besteht darin, dass sämtliche Gefühlsreaktionen, auch bereits die gewissermassen echten Gefühle, die wir die abgewehrten nennen, vom einsetzenden Denken erzeugt beziehungsweise aus ursprünglichem Schmerz umgeformt werden. Wir beginnen damit aus der Unschuld zu fallen, was bewirkt, dass die entstandene Verletzung nicht gleich wieder versurren, nicht gleich wie¬der heilen kann, sondern durch das Denken zunehmend ins Unbewusste verbannt wird, wo das Ursprüngliche sich nicht mehr auflösen kann, sondern weiter verdreht, manipuliert und konserviert wird. So entstehen unter der Leitung des angstvollen und ichhaften Denkens aus unschuldigem, echtem Weh zuerst Gefühle der abgewehrten Art, wie Trauer und Verlassensein, aus diesen anschliessend abwehrende Zustände, wie Selbstmitleid und Eifersucht, und aus diesen durch weiteres Wegschieben und Unterdrücken mittels der Kraft der Gedanken Trotz und Widerstand. Wenn diese sich in weiterer Verdichtung noch mehr verpanzern, isolieren und im Körper niederschlagen und es auch noch verstehen, die anfängliche Angst weitgehend mit in die unbewusste Stumpfheit hinein zu verpacken, haben wir schliesslich den pervertierten Normalmenschen, der wie ein Roboter, ein Zombie, nur noch in Anpassung, Konditionierung und Gewohnheit funktionieren kann.
S. 232

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Stell dir vor, du wärst ein Stück Natur - Von der Lust am Verbotenen, 1995, 2. Auflage Basic Editions 2021
Das Bewusstsein ist sein Inhalt, und der Inhalt ist all das, was das Denken geschaffen hat und was in der Vergangenheit angehäuft wurde.
S. 134

Das Glück, welches durch positive Gedanken, durch Vorstellungen geschaffen wird, unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom Elend, welches durch negative Gedanken hervorgebracht ist. Ich, ich, ich, mein, mein, mein dominierten immer noch. Das Ego ist nicht gestorben; die Enge hat sich nicht erweitert, nicht der Wirklichkeit aufgetan. Letztlich hat sich nicht grundsätzlich etwas geändert.
S. 252

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Ins Herz der Dinge lauschen, Vom Erwachen der Liebe, Über MDMA und LSD, Die unerwünschte Psychotherapie, Sachbuch Psychologie, Nachschatten-Verlag, 7. Auflage 2013
Beim Ausloten der Gefühlsräume gewinne ich Einsicht in alles, was das Denken in meinem persönlichen Leben geschaffen hat, aber auch in alles, was das Denken überhaupt geschaffen hat. Ich erkenne alle Zusammenhänge meines Lebens, meiner Beziehungen, alle gesellschaftlichen, alle geschichtlichen, kulturellen Zusammenhänge und so weiter. Mit einem Wort: Ich werde klar.
S. 75
Auch der Wille ist eine Gefühlshaltung, die sich bei näherer Betrachtung als das verfestigte Ergebnis unseres Wünschens entpuppt. Sofern wir unser Wünschen auseinandernehmen, stossen wir auf die Funktionsweise unseres Denkens überhaupt und entdecken, dass unser Denken dazu neigt, fortwährend Pläne zu schmieden und dann das Leben diesen Plänen anzupassen. Wenn dies nicht immer gelingt, nehmen wir das übel und werden nachtragend. Wenn wir diesen inneren Prozess verfolgen, werden wir erkennen, dass das Denken und das Wollen den ersten Platz einzunehmen versuchen, obwohl sie das Geringere sind, dass sie sich dem Lebensprozess, dem Ganzen unterordnen müssten, weil das Denken erkennt, dass es lediglich ein Werkzeug, ein Helfer unserer Ganzheit und nicht die Ganzheit selbst ist. Wenn uns dies gelingt, werden wir mit viel mehr Gelassenheit und Würde durch unser Leben gehen können.
S. 117

Die unterdrückenden Gefühle gehen alle mit dem Denken zusammen. Sie wurden vom Denken geschaffen und sind daher eigentlich gar keine richtigen Gefühle, die unmittelbar vom Lebensprozess ausgelöst werden, sondern Reaktionen auf solche. Sie sind auch alle an besitzergreifende Energien gebunden. Die unterdrückten Gefühle wurden im Gegensatz dazu nicht vom Denken geschaffen, sie sind ursprünglicher Natur, nicht weiter hinterfragbar, sie kommen aus dem Licht und führen immer wieder direkt ins Licht.
S. 160

Das ganze Unbewusste, so glanzvoll und reich es auch erscheinen mag, enthält letztlich die gleichen Trivialitäten wie das Bewusstsein. Beide sind begrenzt, so wie das Denken, welches sie geschaffen hat, begrenzt ist. Dein wahres Ziel liegt darin, eben diese Begrenzung des Denkens zu erfassen, die Begrenzung des Ichs zu durchbrechen und dich zu öffnen für das Unermessliche, Wunderbare, die ewige Gegenwart, welche immer neu ins Bewusstsein drängen möchte. Dein wahres Ziel ist, über die Grenzen des Begreifens hinaus ins Unnennbare zu treten, das Mysterium des Lebens in dir sichtbar werden zu lassen.
S. 194

Man kann das Denken nicht einfach aufgeben, man könnte es höchstens unterdrücken, aber die Liebe unterdrückt nichts. Man muss richtig denken lernen, darum geht es, und das geschieht, wenn wir das Denken ganz verstehen. Verstehen heisst nicht intellektuell einzudringen, sondern sich einzufühlen. Gefühle zu erklären ist wenig nütze; Erklärungen dienen eher der Flucht vor ihnen. Wenn wir das Denken ganz verstehen, bekommt es seinen Platz; es zieht sich zurück, wenn es keine Funktion zu erfüllen hat, und wenn es da ist, funktioniert es ordentlich. Dadurch wird der Geist still, und das Denken hört auf, und Wahrnehmung geschieht unmittelbar.
S. 242

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Essenz schauen, Vom Ruhen im Urgrund allen Seins, Die Spiritualität beginnt im Becken, Ein Buch über Esoterik und Freundschaft, Basic Editions, 1998
Über das Lauschen zentrierst du dich völlig in der Aufmerksamkeit. Damit entziehst du dem Denken alle Energie. Das Denken kollabiert, und deine ganze Energie geht in die Wahrnehmung. Lauschen führt zu Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit führt zu Einsicht, Einsicht führt zu Transformation auf der Energieebene. Lauschen macht dich schliesslich zu einem Generator für Stille in der Welt.
Alles findet seine Erklärung im Lauschen.
S. 75

Kontinuität erhalten wir lediglich durch unser Denken. Wenn wir über etwas nicht mehr nachdenken (das heisst nicht, es zu verdrängen, sondern wirklich nicht mehr darüber nachzudenken), dann schweigt das Gehirn, und damit gibt es keine Kontinuität mehr. Mit dem Denken halten wir unsere Probleme, unsere Vergnügungen, unsere Beziehungen aufrecht. Wenn wir es sein lassen, hört alle Kontinuität auf.
S. 119br/>
Das Denken kann kein inneres Problem lösen. Alle Schwierigkeiten lösen sich in der Wahrnehmung auf. Deshalb folge der Wahrnehmung von Augenblick zu Augenblick, das ist Liebe, und nicht den Gedanken, das ist die Angst!
S. 200

Wir begreifen, dass unser Gehirn ein lebendiges Organ ist von immenser Rezeptivität. Eine Wachheit, eine Aufmerksamkeit, eine Bewusstheit. Dass wir dieses Gehirn aber in jahrtausendelangen Ausein¬andersetzungen und auch in persönlichen Geschichten konditioniert haben, abgerichtet haben auf gewisse Denkmuster, seine Fähigkeiten limitiert haben auf etwas Enges und Kleines. Wir erkennen, dass wir die Wahl haben, Letzteres loszulassen und wieder zu einem unschuldigen, jungen, immer wieder sich erneuernden Lebendigsein zurückzufinden.
Wir lernen auch, das Denken zu verstehen, sehen, dass eine Aufgabe des Gehirns das Denken ist, das Planen, das Schaffen von Konzepten, dass dieser Teil zusammen mit dem Willen geht und auch auf einen kleinen Be¬reich beschränkt bleiben sollte, genauso wie der Wille. Wir sehen ein, dass der viel grössere Anteil des Gehirns eine ganz andere Aufgabe hat und dass dieser Teil in uns meist schläft, nämlich einfach Rezeptor zu sein für alles, was da ist, und letztlich dann für das Unermessliche.
Das Gehirn selbst begreift die Begrenztheit seiner aktiven Seite und lernt deshalb schweigen. In diesem Schweigen wird es empfänglich. Es sieht, hört, fühlt. Es steigt ein in diesen Prozess des wahllosen Wahrnehmens. Und damit ist es offen für den Besuch des Anderen, des Unermesslichen, das sich nun hineinergiessen kann, sofern es will.
Auch das begreift das Gehirn, dass es darauf keinen Einfluss hat, dass es nicht in seiner Macht steht, dass jede Anstrengung unnütz und ein Verschleudern von Energie ist. So wie beim Herzen, wenn es sich seiner Leere bewusst wird, sie eingesteht, eine Öffnung zustande kommt, in die sich die Liebe ergiessen kann, so öffnet sich hier im Gehirn etwas für den Raum der Spiritualität, für etwas Heiliges, das sich nun offenbaren kann. Da es aber das Andere ist, sich unserer Macht entzieht, müssen sowohl Herz als auch Gehirn auf die Gnade warten, Demut und Geduld lernen, ob dies geschieht oder nicht. Was wir tun können, ist das Fundament zu legen, das Haus zu bauen, in das sich das Göttliche herabsenken kann. Ob dies geschieht oder nicht, dazu haben wir nichts zu sagen. Aber Türen und Fenster können wir öffnen, und das heisst, unser Becken zu befreien und unseren Bauch und ein liebendes Herz zu haben. Dadurch entsteht in uns eine stille, zentrierte Energie. Die Gedanken und Emotionen werden still in uns, sind nicht mehr gezwungen endlos um die ungelösten Fragen um Sexualität, Wille und Ge¬meinschaft zu kreisen. Die transformative Kraft darin ist die Trauer, nicht das Denken. Der Schmerz über das verlorene Paradies öffnet Türen und Fenster auch auf dieser Ebene. Im Stillhalten beginnen wir zu erkennen, was wir verloren haben, und die Trauer darüber, die dann in uns erwacht, wird zur wandelnden Kraft, welche das Gehirn und das Herz wieder öffnet für ein unbegrenztes Lebendigsein. Diese innere persönliche Stille kann dann von der grundsätzlichen Stille berührt werden, von dem, was jenseits von Bewusstsein liegt, sofern wir Begnadete sind.
S. 284

Liebe ist eine Kraft, eine Intelligenz auch, die unabhängig von uns Menschen existiert. Sie kann uns ausfüllen, wenn wir das Fenster für sie offen lassen, wenn wir sie in unser Gehirn einfliessen lassen. Sie ist ein Wesen, ein riesiges, allumfassendes Wesen, das alles ausfüllt und lenkt. In der Natur ist sie schnell zu erkennen. Wo immer ein Fleckchen Erde ist, beginnt es zu wachsen und zu spriessen. Die treibende Kraft darin, das ist die Liebe. Andere würden es das Leben nennen oder Gott.
Diese Kraft, dieses heilige Wesen haben wir aus dem Bereich des Menschlichen ausge-schlossen. Unsere Gehirne sind so eng strukturiert, dass es darin keinen Platz mehr findet, darum sind wir nicht davon gelenkt und erfasst und blühen nicht. Das Fenster für die Liebe offen zu lassen heisst, die ganze innere Struktur unseres Gehirns, unseres Ichs in stiller Betrachtung aufzulösen, jeden Gedanken, jede Stimmung zu beobachten, bis wir zur Quelle des Denkens vorstossen und das Denken daher schweigt.
Die Quelle des Denkens ist das ewige Suchen. Denken als Zustand ist unvollkommen, daher sucht das Denken die Ganzheit. Es kann sie aber nicht finden, da der Zustand des Denkens an sich unvollständig ist. Wenn das Denken dies einsieht, stellt es sein Suchen ein, da es erkennt, dass es nicht finden kann, was es sucht. Die Stille, die aber dem Ende des Denkens folgt, ist ein ganz anderer Zustand. Stille ist in sich ganz, vollkommen. Daher ist im Verstehen und damit Beenden des Denkens die Ganzheit gefunden, die das Denken suchte, aber nicht erreichen konnte.
Damit wird das Gehirn wieder empfänglich für die Stille, für die Weite, für den Raum. Da hinein kann diese Liebe sich ergiessen, kann dieses geheimnisvolle Wesen eintreten, wenn es will. Wir haben keinen Einfluss darauf; wir kontrollieren die Liebe nicht. Aber sie ergreift uns, wenn wir sie lassen. Sie organisiert sich selbst, bringt uns zum Blühen und alles um uns herum. Wir sind zwar ihr Werkzeug, das ausführt, was sie befiehlt, wenn wir ihr folgen. Aber sie ist es, die alles lenkt und schafft. Wir stehen nur noch mit offenem Mund da und beobachten das Wunder, das geschieht, wenn sie da ist.
S. 292

An diesem Punkt findet letztlich auch eine Dekonditionierung der Augen statt, da die Augen […] normalerweise untrennbar mit dem Denken verknüpft sind. Wir sind nicht mehr fähig, nicht in Begriffen zu sehen, nicht bezeichnete Dinge zu sehen. Wenn es wirklich gelingt, diese innere Struktur des Denkens, diese innerste Struktur von Macht und Autorität wieder zum Einsturz zu bringen, wird auch das Sehen dekon¬ditioniert, befreit von dieser Beherrschung durch die Gedanken. Dies setzt nochmals eine gewaltige Energie frei und verankert uns auf eine ganz neue Art in der Wirklichkeit von Raum, Energie, Stille und Liebe.
S. 324

Das Ego, das, was vom Denken geschaffen wird (im psychologischen Bereich), ist immer eine Katastrophe. Wenn man das einsieht, erkennt man seinen Anteil am endlosen Strom des Denkens, des Leidens, des Bewusstseins, das wir Menschen teilen:
Angst jagt nach Vergnügen. Daraus folgt Leid, Unterdrückung etc.. Wenn man seinen Teil sieht, nicht mehr identifiziert ist damit, spürt als Teil des ganzen Leids, des ganzen Bewusstseins, tritt man ein in den transpersonalen Raum, von welchem aus man erkennt, dass nichts getan werden kann. Alle Lösungsversuche des Denkens sind gescheitert und werden endlos scheitern. Dies einsehend schweigt das Gehirn, das Denken, und dadurch steht der endlose Strom des Bewusstseins in einem still. Die Wahrnehmung von dem, was im Gehirn vor sich geht, ist das Beenden davon. In dieser Wahrnehmung wird das Gehirn still.
Das Gehirn ist dann mehr wie ein Flussbett, von welchem aus man das Andere sieht, das Unnennbare, welches man nicht ist, sondern nur sieht. Dieses Andere kann nicht eingeladen werden. Das nicht denkende, sondern wache, lebendig wahrnehmende, rezeptive Gehirn kann es lediglich wahrnehmen, wenn es beliebt zu kommen. Darauf hat man aber keinen Einfluss. Das stille Gehirn ist ein rezeptives Gehirn.
S. 329

Das Denken über die Zeit […], über das, was gestern war und morgen sein wird, schafft eine neue Zeit, eine psychologische. Der Denker schafft damit eine Distanz, eine Entfremdung zum lebendigen, unmittelbaren Erfahren des Lebens, in welchem dem Handeln kein Denken vorausgeht, sondern in dem Handeln und Reflektion über das Handeln ein ungeteilter Prozess sind. In der Entfremdung ist das unmittelbare Geschehen, das schicksalhafte sich Ereignen zwar trotzdem da, aber ständig verschleiert durch die vom Denken geschaffene Zeit mit ihren Bildern, Ängsten, Illusionen etc.. Der Denker lebt in seiner von ihm selbst geschaffenen Verschleierung, welche ihm eine Scheinsicherheit gibt, ihn tatsächlich aber lediglich reduziert auf eine beschränkte Dimension des Leidens.
Entweder man sieht das Ganze unmittelbar und versteht; dann ist es sehr einfach, oder man sieht es nicht, dann scheint es äusserst kompliziert, und keine simple Erklärung kann es dann wirklich für einen fassen.
S. 363