Newsletter 5/2022 - Ehrlichkeit / Wahrheit
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Oktober 2022
D
ie Wahrheit
Die Wahrheit schmerzt, sagt man!
Das stimmt bedingt –
Natürlich dann, wenn man sie vermeiden will!
Solange man sich ihr willig stellt,
bringt sie Glück, Freude und Klarheit –
Warum erfüllen einen die heiligsten Worte
wie Liebe, Schönheit, Frieden, Wahrheit
nur noch mit Überdruss?
Ist es, weil wir sie missbraucht haben,
in Unwahrheit, mit unlauteren Motiven gebraucht haben?
Woran es uns fehlt, sind Wahrhaftigkeit und Nüchternheit
im Umgang mit dem Heiligen –
Im Schweigen ist die wahrhaftige Antwort
auf jede Frage verborgen –
Schweigen erlangen wir durch Stillsein,
nicht durch Stillhalten,
nicht durch Disziplin und Methode.
Etwas viel Einfacheres und
zugleich Komplexeres ist notwendig:
Man muss ein Teil des grossen Schweigens werden,
das alles Sein durchdringt!
Man muss darin versinken,
damit verschmelzen!
Das ist die Wahrheit – (1)
Der Krieger sagt, was er meint. Was er nicht meint, sagt er nicht.
Die Kriegertexte, Samuel Widmer
Liebe Leser
Eins meiner Lieblingsbücher von Samuel ist "Die Wahrheit". Samuel und ich haben es zusammen in seinem letzten Sommer gelesen, jeden Morgen zwei Seiten, damit ich übe, laut auf Deutsch vorzulesen (bei Samuels langen Sätzen geht mir immer mitten drin die Luft aus….). Ich war berührt und zutiefst beeindruckt von der Tiefe und der Klarheit des Werkes, eine brillante philosophische Hymne an die Wahrheit. Nicht nur schafft es Samuel hier, mir Kant und Nietzsche, die ich aus der Schule als undurchdringliche Philosophen in Erinnerung hatte, mit einfachen Worten zu erläutern, sondern er übersetzt die Welt der Philosophie (die Wahrheitsliebe nach Duden Definition) für den angehenden Krieger in "unsere" Sprache.
Weil die Teilnehmer der Ausbildungsgruppe in psycholytischer Psychotherapie das Buch auf unser nächstes Treffen hin in Indien lesen werden, hat mich die Lust gepackt, das Buch nochmals zu lesen und einen Newsletter zur Wahrheit zu verfassen...
Die Texte beziehen sich eher auf die Ehrlichkeit mit sich selbst, die unabdingbare Voraussetzung auf dem eigenen Weg der Selbsterkenntnis. Sie geben vielleicht aber auch die Gelegenheit, zu überprüfen, wie es mit dem anderen Ehrlichsein steht, dem gegenüber den anderen.
Das Unehrlichsein ist seit der Antike eine Sünde. Für Aristoteles, dessen Nikomachische Ethik die Grundlage der Verteilung der Sünden in Dante Alighieris Hölle in der "Divina Commedia" bildete. Für Dante, für den die Unehrlichkeit - das Fälschen des Wortes, wie er sie nennt - die zweitschlimmste Sünde ist, vor dem Verrat und nach dem Mord. Für die Katholiken mit ihrem achten Gebot, für die Wüstenväter,... Die Kinder lernen mit Collodis Pinocchio, dass man eine lange Nase bekommt, wenn man lügt, …. Sehr wahrscheinlich war immer die Wahrheit gegenüber den anderen gemeint, aber kann man mit sich selbst wirklich wahr sein, wenn man nicht durch und durch, also auch in allen Angelegenheiten und Beziehungen, ehrlich ist? Weil es mir persönlich schon seit der Kindheit schwer fällt, diplomatisch zu sein, schätze ich ehrliche Menschen sehr. Ehrlichsein erfordert viel Mut und Alleinseinkönnen, Authentizität und Integrität. Und das gibt mir Vertrauen.
Kennt ihr den Film "Liar Liar"? Jim Carrey ist darin 24 Stunden dazu "verdammt", nur die Wahrheit zu sagen. Autsch (oder nicht?)…
Ich wünsche euch schönes herbstliches Forschen durch die Wahrheit.
Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi
Bevorstehende Termine
Viele Freunde des Hofs zur Kirschblüte haben sich gewünscht, regelmässige Informationen über das Seminarprogramm zu bekommen. Um nicht speziell einen Newsletter dafür zu erstellen,
informieren wir seit dem letzten Newsletter auf diesem Weg über die nächsten Angebote:
- Im November fängt die neue Seminarreihe mit Danièle Nicolet an: „
Der Kriegertrupp -
Über das erwachte Herz, das Gehirn als Sinnesorgan, Meditation und das Spirituelle Träumen“
- Die nächsten
Online-Meditationen finden am 28. Oktober und 15 November statt.
- Im Dezember sind wir nach vier Jahren endlich wieder in Indien mit einem
Workshop zum
fortlaufendem Thema „Meeting of East and West“, diesmal speziell mit dem Titel „Gemeinschaft als Auftrag“
- Und hier schon die Vorankündigung des nächsten internationalen
Kongresses für Echte Psychotherapie, Psycholyse und Alternative Psychiatrie am 23-25. Juni 2023 zum
Thema „Bewusstseinserweiterung, Schamanismus und Heilung - Psychoaktive Substanzen in der Psychotherapie“
Die Programmübersicht mit den Angeboten bis Enden 2023 (mit z.B. Indien, der Wüste,…) findet ihr jeweils hier:
https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht .
P.S. Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (
https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden.
Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis.
Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (
https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft
(
https://gemeinschaft-kirschbluete.ch) oder auf dem Facebook-Kanal der Kirschblütengemeinschaft (
https://www.facebook.com/Kirschbluetengemeinschaft).
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen, Basic Editions, 2005
Ein Faktor ist auf dem Weg der Selbsterkenntnis absolut unerlässlich, die Ehrlichkeit. Ohne eine grundsätzliche Redlichkeit, die bereit ist, die Wahrheit der eigenen inneren Impulse und Reaktionen aufzudecken, ohne im Geringsten etwas zu beschönigen, zu verleugnen oder zu verdrehen, wird der Prozess endlos stagnieren.
Im Allgemeinen sind Menschen äusserst unehrlich. Nicht so sehr nur mit anderen, sondern vor allem mit sich selbst. Sie halten endlos an offensichtlich falschen Selbstbildern fest, die sie um keinen Preis aufgeben wollen, und sind keineswegs bereit, sich ihrer tatsächlichen Wirklichkeit, ihrem Geiz, ihrem Neid, ihrer Einsamkeit zu stellen. Die meisten Menschen betrachten sich als edle und bemitleidenswerte Opfer widriger Umstände, und der Täter darin, der aktiv für die widrigen Umstände verantwortlich ist, wird vollkommen aus dem Bewusstsein ausgeblendet. Verdrängung nennen es die Psychologen, Verleugnung, Abspaltung, und gehen davon aus, dass es sich dabei um eine ganz natürliche Einrichtung im menschlichen Verhalten und Bewusstsein handelt. Sie behaupten, dass es deshalb ein Unterbewusstsein in uns gäbe, zu dem wir nur beschränkten, und ein Unbewusstes, zu dem wir gar keinen Zugang hätten. Aber es ist nicht wahr. Unehrlichkeit mit sich selbst verschliesst das Tor zum Unbewussten, und Ehrlichkeit öffnet es wieder, ganz leicht. Dem, der ernsthaft und gewissenhaft, redlich eben, sich selbst verstehen will, sich auf den Grund gehen will, dem ist kein Tor in die Tiefe verschlossen, keine Grenze gesetzt. Ganz mühelos dringt er ein, und auch der hinterste, dunkle Winkel in seinem Bewusstsein ist seiner Ehrlichkeit jederzeit frei zugänglich. Ehrlichkeit, radikale Ehrlichkeit bringt die Mauern der Abwehr, welche die Kammern der menschlichen Psyche trennen, zum Einsturz, so dass Bewusstsein im Innern zu einem weiten, frei explorierbaren Feld wird.
Wie viele der Qualitäten des Allerinnersten braucht es auch die Ehrlichkeit bereits auf dem Weg der Selbsterkenntnis, der dann schliesslich ins Allerinnerste mündet. Besonders stark braucht es die Ehrlichkeit. Das ist ein Paradox. Das Ziel muss bereits vorweggenommen sein, um es zu erreichen. Denn Ehrlichkeit und Redlichkeit sind Wesensqualitäten, Facetten des Innersten. Sie verbreiten einen besonderen Duft von Verlässlichkeit, Stabilität und Vertrauen. Ehrlichkeit ist eine läuternde Kraft. Sie durchschlägt jedes Lügengebäude, zerstört jedes falsche Bild, zerschlägt alle sicheren Horte der Respektabilität und zerrt ans Licht, was wahr ist. Sie geht zusammen mit Wahrheit und Wirklichkeit, mit Nüchternheit und Offenheit. Wer sie liebt und sich mit ihr verbindet, dem schenkt sie zwar kein leichtes Leben, aber ein Leben voller Klarheit und Würde. Sie bringt Integrität und Echtheit.
Oft findet man Menschen endlos verstrickt in unklaren Situationen. Nichts lässt sich aufschlüsseln, ein riesiger Sumpf, der nicht zu verändern zu sein scheint. Es ist immer die Ehrlichkeit, die darin fehlt. Sobald es in irgendeinem Klärungsprozess nicht zu einer schnellen Auflösung der Verwirrung kommt, fehlt es immer irgendwo an Ehrlichkeit. Denn Ehrlichkeit ist ein unerbittliches Schwert, das unweigerlich alles Falsche vom Wahren trennt.
So viel Leid und Unglück, so viel Angst und Verwirrung kommen aus der Unehrlichkeit. So viel Enttäuschung in Beziehungen, so viel Schmerz, weil man seine Versprechen nicht hält, weil man nicht verlässlich ist, weil man leichtfertig Dinge verspricht, die man dann nicht halten kann, weil einem das Vergnügen wichtiger ist als die Liebe, weil man seinen eigenen Bedürfnissen die Sorge für das Ganze opfert. So viel Schönheit liegt darin, miteinander ehrlich zu sein, so viel Tiefe und Nähe. Wie kann man sich das gegenseitig vorenthalten? Und wie kann man leben in dieser Oberflächlichkeit, in der man nichts weiss von dem, was den anderen wirklich bewegt?
Zur Ehrlichkeit gehört eine Bereitschaft, den anderen, das Gegenüber in seinem Ehrlichsein auch tatsächlich kennen lernen zu wollen. Ehrlichsein um jeden Preis ist auch nicht die Lösung. Wie viele Paare leben doch zusammen, die nicht ehrlich sein können miteinander. Sobald sich der eine offenbart, ist der andere an der Decke, weil er an seinen Bildern über den Partner festhalten will, dieser seinen Bildern genügen muss und überhaupt keine Bereitschaft da ist, den anderen sehen zu wollen, wie er ist. In solchen Situationen führt Ehrlichkeit nur zu Konflikt und Verrat. Da ist es besser zu schweigen, sich in Zurückhaltung zu üben, letztlich von solchen Menschen Abschied zu nehmen. Man wird nicht unehrlich darin, man bleibt lediglich allein. Man verweigert sich einem sinnlosen Disput. Manchmal ist es zwar gut, einem Menschen seine Wahrheit hinzuwerfen, auch wenn er sie gar nicht hören will, aber oft ist auch der Rückzug das Stimmigere. Intelligenz sagt einem, wann das eine und wann das andere richtig ist. Ehrlichkeit braucht die Bereitschaft zur Ehrlichkeit als Gegenüber. Darin hört Beziehung auf, ein ewiges Scheitern an den Erwartungen des anderen, an den Konventionen zu sein und wird zu einer Entdeckungsreise ins Unbekannte, in das, was Beziehung eigentlich ist; was sie sein könnte, aber nicht ist.
Wo Unehrlichkeit herrscht, kann man nicht zusammenwirken. Das bringt nur Enttäuschung. Umgeben von Falschheit muss man alleine bleiben, auf Kooperation irgendeiner Art verzichten. Unehrlich ist ein korrupter, arroganter Geist, der keine Liebe kennt, dem es nur um seinen Vorteil geht, der nie einen Blick für das Ganze hat. Ehrlichkeit wäre für einen derartigen Geist die Umkehr, der Schlüssel zu dem, was ihm fehlt, zu Liebe und Wahrheit. Aber selten kehrt einer um, selten ist einer abzubringen von den Entscheidungen, die er schon früh im Leben gefällt hat, selten kommt einer zur Einsicht und wandelt sich grundsätzlich. Warum ist das so? Warum ziehen die Menschen immer wieder die schlechtere Möglichkeit vor? Warum öffnen sie sich nicht für die Schönheit von Selbsterkenntnis, Meditation und liebendem Miteinander?
Es gibt keine Antwort auf diese Fragen. Jede Erklärung führt nur weg von den Fakten. Das, was aber Wandlung bringt, ist das Stillstehen bei den Fakten. Darin ist man allein. Ohne Ehrlichkeit existiert keine Freundschaft. Ohne Ehrlichkeit zu sich selbst ist man sich selbst kein Freund. Nichts wird blühen, wo das Allerinnerste nicht aus jedem Schicksal, jedem Leben, jedem Bezogensein durchleuchtet. Endlos wird die Welt im Roten drehen, solange das nicht gefunden ist. Und alle Mühe und Anstrengung wird nichts daran verändern.
S. 94
Es gibt eine Klarheit, die unser ganzes Wesen durchdringen kann, eine Klarheit nicht nur des Denkens, sondern ein Zustand jenseits von Wort und Gefühl, der in uns eine Lauterkeit, eine Geradheit begründet, die sich in allem ausdrückt, was wir sind und tun. Diese Klarheit geht mit Wahrhaftigkeit zusammen, mit einer Ehrlichkeit, die sich unabhängig von irgendwelchen Konsequenzen der Wahrheit stellt, welche die Wahrheit liebt, sie über alles stellt und viel interessanter und befruchtender findet als jedes Unwahrsein, auch wenn es noch so viel Bequemlichkeit oder Vergnügen bringen mag. Klarheit und Wahrheit kommen aus der Liebe zu dem, was ist.
[…]
Klarheit bringt Wahrheit, Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit ist eine Qualität des Allerinnersten. Das Gehirn, das ununterbrochen Gedanken produziert, ist immer oberflächlich, unbedeutend, nicht mit Ganzheit in Kontakt, verloren im Partiellen. Seine Gedanken mögen noch so hehr und erhaben sein, letztlich ist alles, was aus dem Denken kommt, bedeutungslos. Es ist nicht wirklich, nicht wahr. Wahr ist das, was gefühlt werden kann. Nicht die Gefühle, sondern das, was gefühlt werden kann, wenn die Gefühle schweigen, weil das Denken still geworden ist. Wahrheit, Wirklichkeit ist etwas Tiefes, etwas Erschütterndes. Es liegt jenseits von dem, was Worte zu fassen vermögen, liegt im Bereich des Zeitlosen, des Ewigen, des Unergründlichen. Wahrheit, Wirklichkeit, Klarheit kommen aus dem Allerinnersten.
S. 165
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Kriegerschule / Die Kriegertexte, Sachbuch Spiritualität, Basic Editions, 2010
Woran fehlt es den meisten, die zwar vielleicht interessiert sind, dass ihnen letztlich der Durchbruch in eine äusserste Genauigkeit bezüglich der Selbsterkenntnis, welche sie schliesslich vom Selbst befreien wird, nicht gelingt? Sicher braucht es grosse Ernsthaftigkeit (im Gegensatz zu Oberflächlichkeit); bestimmt braucht es totale Ehrlichkeit mit sich selbst. Enorme Energie ist nötig, um jedes Mal wieder schauen zu können wie zum allerersten Mal (Energie, die der Krieger daraus gewinnt, dass er seine eigene Wichtigkeit überwindet). Viel Musse braucht man für die Selbsterkenntnis, Zeit oder auch innere Stille, um in den Raum der Zeitlosigkeit zu finden. Man muss es überhaupt wollen. Vor allem dies. Oft fehlt es am Willen, weil dieser ausgerichtet ist auf andere Dinge, Vergnügen, Besitz, Macht zum Beispiel. Alle Bilder über sich und andere muss der Krieger aufgeben können, alle Illusionen, alle Ideologie, alle Vorstellung. Selbsterkenntnis bringt innere Ordnung. Der Krieger sagt, was er meint. Was er nicht meint, sagt er nicht. Alles, was er tut, spielt wie bei jedem anderen keine grosse Rolle; es ist auch weder richtig noch falsch, es zeigt lediglich auf, bringt einfach zum Ausdruck, wer er tatsächlich ist.
Als einzige Antriebskraft für die Fortsetzung seiner physischen Existenz bleibt dem Krieger am Ende nur die Liebe. Der schier unüberwindlichen Nachlässigkeit der menschlichen Kondition setzt er seine Makellosigkeit entgegen; alles, was er hat.
S. 18
Der Krieger strebt die vollkommene Freiheit an, er will eine freie Energie sein. Die Freiheit vom Selbst, welche Liebe ist, versteht er als die einzige wirkliche Freiheit.
Seine Werkzeuge auf diesem Weg sind vollkommene Ehrlichkeit mit sich selbst und Beharrlichkeit im Ringen um seine unverbrüchliche Absicht. Seine Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit sowie seine Beharrlichkeit bilden seine Makellosigkeit.
S. 20
Menschen sind gemeine, hinterhältige, bösartige, haltlose, heuchlerische, ausbeuterische, gewalttätige, bequeme, unehrliche, faule, missbraucherische, betrügerische Monster mit gelegentlichen unberechenbaren Anflügen von Liebeswürdigkeit. Usw., man könnte noch unzählige schlimme Adjektive anfügen. Nicht wahr? Ausser wenn sie Krieger sind. Und das Schlimmste: Sie machen sich vor, als wäre es anders. Sie verdrängen es; es ist tabu, sie darauf hinzuweisen. Immer sind es die anderen, welche in ihren Augen die Bösen sind, auf die sie ihren Schatten projizieren. Ist es negativ, so zu denken? Die Monster werden es verurteilend und abwertend erleben. Aber es entspricht lediglich den Tatsachen, den Fakten, die jeder, der mit offenen Augen durchs Leben geht, beobachten kann. Und misstrauisch sind sie, die Menschen. Speziell auch misstrauisch gegenüber der Makellosigkeit und Wahrheitsliebe der Krieger. Deshalb verfolgen sie diesen, wenn er sich nicht schützt. Sie wissen genau, wie sie sind, und dass sie anders, dass sie Krieger sein sollten. Darum fürchten sie immer, die anderen Menschen könnten sein, wie sie selbst.
Am Weg des Kriegers kann niemand etwas aussetzen. Die Handlungen des Kriegers, der ihm folgt, können durch niemanden kritisiert werden. Immer wieder wundert sich der Krieger darüber, wie die Menschen Ursachen und Erklärungen suchen für das Unheil in der Welt, das auch sie nicht mehr länger übersehen können, aber tunlichst vermeiden, da hinzuschauen, wo sie fündig werden könnten. Bei sich selbst. Ist das Dummheit? Aber Ignoranz ist für den Krieger keine Entschuldigung. Er weiss, dass jedes Wesen jederzeit weiss, was es ist und was es zu tun hat.
Menschen könnten auch tugendhaft sein. Sie könnten statt gemein, hinterhältig, bösartig, bequem, unehrlich, faul, missbraucherisch und betrügerisch auch hilfsbereit, offen, mitfühlend, verlässlich, vertrauenswürdig, gerecht, feinfühlig, opferbereit, ehrlich, fleissig, umsichtig und fair sein. Nicht wahr? Mit gelegentlichen Durchhängern, für die sie sofort wieder die Verantwortung übernehmen würden.
Sofern sie Krieger sind.
Wir Menschen haben dieses Potenzial in uns. Aber wir lassen uns lieber gehen in aller Schlechtigkeit und Erbärmlichkeit. Wir entscheiden meist schon sehr früh in unserem Leben (meist vor fünf, sechs Jahren), welche Richtung wir einschlagen wollen. Und selten sieht man jemanden, der später noch einmal darauf zurückkommt. Die Krieger sagen, dass es nur diese eine Entscheidung im Leben eines jeden von uns gibt, wir entscheiden uns, entweder Krieger zu sein oder gewöhnliche Menschen. Eine andere Entscheidung gibt es nicht.
S. 83
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Einfachheit / Simplicity (zweisprachig, englisch/deutsch) - Gedichte, Basic Editions, 2009
Die Regeln der Liebe
sind offensichtlich.
Der Körper fühlt sie:
Sei ehrlich, vollkommen ehrlich
mit dir und den anderen!
Besitze nicht, nichts und niemanden!
Sei still und lausche!
Sei allein und lasse allein!
Sei frei und lasse frei!
Mische dich nicht ein,
solange es nicht unbedingt notwendig ist!
Sei ein Freund, sei freundlich!
Keine Autorität in inneren Dingen!
Kein Ich!
S. 121
Was ist das einfache Leben?
Ist es nicht ehrlich sein,
grosszügig und fair?
Ist es nicht trauern,
wenn ein Fehler geschieht?
S. 164
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Wahrheit, Sachbuch Philosophie, Basic Editions, 2010
Von relativen und absoluten Wahrheiten
Wie wir schon gesehen haben, gibt es relative Wahrheiten und absolute Wahrheiten, wobei die ersteren wahrscheinlich meistens Meinungen, Standpunkte und eben keine Wahrheiten, sondern Verdrehungen der Wahrheit sind. Es gibt auch persönliche Wahrheiten und sachliche oder objektive Wahrheiten, wobei jene wohl eher Rechtfertigungen, Ausreden oder gar Lügen entsprechen und wiederum eben keine Wahrheiten, sondern eher Verleugnungen von Wahrheiten sind. Offensichtlich gibt es sogar letzte Wahrheiten oder grundlegende Wahrheiten wie zum Beispiel den kategorischen Imperativ, die unter allen Umständen, nicht nur für mich und heute, sondern für alle und immer widerspruchsfrei gelten
S. 62
Wer weiss eigentlich, was letztlich wahr ist? Natürlich ich, wenn ich wirklich ehrlich bin, wirklich hinschaue, wirklich ohne Ausflüchte still werde mit dem, was ist. Ich für mich, und du für dich. Oder etwa auch nicht? Denn wenn ich in dieser Weise ein stummer Zeuge von allem bin, finde ich da gar kein Ich, keinen Denker, keinen Beobachter, sondern nur eine leere, stille Wahrnehmung, Beobachtung, die alles unmittelbar erkennen kann, sobald sie sich darauf ausrichtet, eine unabgegrenzte, unerklärliche Bewusstheit, die mit allem eins sein kann, sich in alles hinein ausdehnen kann, die von nichts getrennt ist, sondern alles gewissermassen mit ist und deswegen „weiss“ und deswegen „sieht“. In vielen Beispielen der verdrängten oder verdrehten Wahrheit liegt die Lösung in der Wahrnehmung, wer ich gerade bin, in der Hinwendung zur und stillen Beobachtung der Identifikation, in der ich mich gerade aufhalte. Was bin ich gerade als emotional- energetisch-sinnliche Ganzheit? Bin ich zum Beispiel trotzig, denke mich aber gerade davon weg, oder vielleicht grundsätzlich geizig, sehe mich aber lieber als durchwegs nett und grosszügig? Man kann sich enorm verirren in seinen Ränken und Wänken, in seinen Vorstellungen und Bildern. Aber der ehrliche Blick des stummen Zeugen, wenn man sich um ihn bemüht, wird einen immer wieder zum Zustand des unschuldigen Kindes zurückführen, das einfach sieht. Dieses Bemühen ist die Kunst des Kriegers, könnte man sagen.
S. 65
Wahrheit ist da, wenn wir wahr sind, wenn wir den Mut haben, sie zu sein, und die Ehrlichkeit darin ist unser höchst Eigenes. Liegt darin die ultimative Wahrheit über uns Menschen? Dass wir Götter sind? Frei sind? Ja, und wenn wir darauf setzen müssten, könnten wir uns gleich umbringen, nicht wahr? Denn wir wissen es aus unserem eigenen Leben und sehen es ununterbrochen bei den anderen: Wir wollen nicht. Wir wollen nicht ehrlich sein, nicht unserer Einsicht folgen, nicht wahr sein. Wir haben nicht den Mut zur Wahrheit und auch sonst tausend Gründe, […] denen wir viel lieber folgen […].
S. 104
Die Wahrheit leben, heisst, ehrlich zu sein, vor allem zuerst mit sich selbst und bezüglich der eigenen Motive und Gedanken. Wandlung kommt aus dem sehen, was ist, wussten schon die Wüsten¬mönche. Dann aber auch ehrlich mit den anderen bezüglich dem, was in der jeweiligen Situation Sache ist.
Niemand kann das für dich tun, niemand kann dir darin Anweisung geben. Deshalb gibt es tatsächlich keine Autoritäten in inneren Dingen. Du bist ehrlich, du entschliesst dich dazu, du prüfst, ob du darin wahr bist, oder ob du dir etwas vormachst. Und das Wunderbare: Wenn du wirklich dazu entsch¬los¬sen bist, ist das ganz leicht, überhaupt kein Problem.
Es mag Situationen geben oder Momente, wo du dir nicht sofort sicher bist über das, was wahr ist und was falsch ist. Wir leben in einer verwirrenden Welt, in der jeder den anderen zu betrügen versucht und kaum eine gemeinsame Einladung Richtung Ehrlichkeit vorherrscht. Das macht es manchmal schwieriger.
Und manchmal sind auch innere Auseinandersetzungen notwendig, bis du die Bereitschaft zum vorbehaltlosen Ehrlichsein in dir findest. Auch das bildet eine Schwierigkeit. Denn so lange wir nicht ganz wollen, nicht wirklich ehrlich sehen wollen, verwirren wir uns selbst und sehen dann gar nichts mehr.
Trotzdem ist es letztlich immer leicht. Es gibt in uns drin nichts, was unserer Wahrnehmung wirklich verschlossen wäre.
Ein Unbewusstes besteht nur so lange, wie wir glauben, eines haben zu müssen. Sobald wir sehen wollen, geht der Vorhang auf.
Wenn du Geduld hast und in der wahrhaftigen philosophischen Haltung des Fragens und Forschens bleibst, wirst du immer wieder klar sehen.
S. 110
Sich selbst erkennen, heisst, alles zu sehen, wie es ist, sich nichts vorzumachen, ehrlich zu sein. Keiner kann und muss sich gross verändern. Das ist wahr. Man kann daran, an dem, was ist, nicht viel ändern. Aber aus der klaren Sicht auf die Wirklichkeit, aus dem Anerkennen der Wahrheit kommt eine Wandlung. Der Krieger, der Übermensch wird daraus geboren. Dies geschieht von selbst, Wandlung geschieht ohne Mühe. Das ist richtig. Aber die Vorarbeit, die Wahrhaftigkeit, die dazu vonnöten ist, und das Ringen, um sie zu finden, speziell in einer Welt, die nicht dazu einlädt, dies ist zu leisten.
S. 132
Warum folgen wir nicht dem Guten?
In irgendeiner Studie, kürzlich, habe ich gelesen, wurde bewiesen, dass unsere Neigung zu schummeln, nicht ehrlich zu sein, wenn wir einen Vorteil davon haben, genetisch bedingt sei. Sofern dies überhaupt stimmt, würde dies uns aber auch nicht entschuldigen, sondern auch nur bedeuten, dass wir uns eben noch weiterentwickeln müssen. Wenn es tatsächlich von der Evolution abhängt und nicht von unseren persönlichen Fähigkeiten, würde ich uns sogar bessere Chancen einräumen.
[…]
Der Faktor, der darüber entscheidet, dass der Einzelne den richtigen Weg wählt, der Faktor, den die Evolution also selektieren müsste beziehungsweise selektieren wird, ist Intelligenz (und zwar nicht die intellektuelle, sondern eine umfassende Herzensintelligenz), Reife oder Erwachen.
Aber was ist der Faktor, der Intelligenz, Reife und Erwachen hervorbringt? Ob nun per Evolution oder über den Einzelnen?
Wir nähern uns wieder einer Endlosschlaufe. Und sehen wieder, sich in sie zu begeben und spitzfindig zu werden – bis man versucht herauszufinden, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben (wohin sich der menschliche Geist auch schon mal verirrt hat) – macht keinen Sinn. Es würde bedeuten, wieder im Turm der Gedanken rumzuklettern.
Hingegen sehen wir auch hier, wie wichtig es ist, das Fragen immer wieder bis zu diesem Punkt voranzutreiben, wo die Endlosschlaufe sichtbar wird. Denn der Faktor, der im Einzelnen (sofern dieser dafür verantwortlich ist) oder in der Evolution (sofern diese die Verantwortung dafür übernimmt) Reife, Intelligenz und Erwachen bewirkt, ist, dass da jemand ist, der fragt und forscht, der die Wahrheit liebt. Es braucht jemanden, der in der Frage lebt und Einsicht nimmt.
S. 148
Dass die Welt voll ist von betrügerischen Vorgaben, auf die man reinfallen oder die man durchschauen kann, ist doch nur ein Ausdruck davon, dass jeder Teufel vorgibt, ein Engel zu sein. Dass jeder Einzelne mit Selbstbildern lebt, die gar nicht wahr sind.
Könnte das auch bei mir der Fall sein?
Und wie ist es mit dir?
Das, was Selbstbilder durchbricht, ist wieder die Ehrlichkeit, nicht wahr? Die Exaktheit in der Selbsterkenntnis. Das genaue Schauen und Gewahrsein. Das schliesslich Stillstehen bei der Wirklichkeit, so dass alle Bilder von einem abfallen. So dass sich endlich alle Selbstbilder in einem auflösen, das Ich mit all seinen durchschauten Bestrebungen in den Hintergrund tritt und das Wesen durchscheint, die unfassbare Wahrheit unseres Seins, die dann die Führung übernehmen kann.
Wie schön die Wahrheit doch ist!
S. 163
Was ist Wahrheit? Was ist die Wahrheit über uns? Wer sind wir?
Wir haben gesehen, dass Wahrheit im Hintergrund von allem Geschehen immer faktisch, tatsächlich, letztlich absolut gegeben ist. Das, was sie relativ macht, ist entweder die Tatsache, dass sie von bestimmten Umständen abhängt oder, genauso häufig, dass wir lediglich von unseren Meinungen reden, von dem, was wir als Wahrheit vorgeben möchten, und was gar nicht wahr ist. Nur unser Blick auf die Wahrheit ist relativ, das heisst, unvollständig oder unehrlich, indes die Wahrheit immer klar und eindeutig gegeben bleibt.
S. 252
Das Ich ist das Problem
Der clevere Verstand kann dies alles nicht verstehen. Er kann nicht allein stehen. Es liegt in seiner Natur, unehrlich zu sein und sich der Wahrheit und Wirklichkeit nicht stellen zu können. Er selbst, und mit ihm das Ich als sein Zentrum, ist der Macher der Probleme, ist selbst das Problem aller Probleme.
Jeder von uns kann aus der Anpassung austreten, Liebe kennen lernen und erkennen, was, das Gute tun, heisst. Aber nur, wenn er fähig wird, sich den Tatsachen, der Wahrheit zu stellen, ohne jeden Widerstand. Jeder, der tief innerlich wahrhaftig versteht, was die Unordnung in uns und in der Welt verursacht, wird aus diesem Ge–wahr–werden heraus die natürliche Ordnung der Dinge entdecken. Das heisst, sich den Konsequenzen der Liebe zu stellen, ihrer Freiheit, ihrem Alleinsein.
S. 284
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Du bist Schönheit - Krishnamurti - Angewandt im Alltag - Der Einfluss seines Werkes auf die Psychotherapie / Von der Liebesgeschichte eines späten Sommers, Basic Editions 1998
Den Prozess der Erforschung der Wahrheit und Wirklichkeit können wir als Meditation bezeichnen. Selbsterkenntnis ist der zentrale Schritt auf diesem Weg. Selbsterkenntnis, die auch den Bereich der Psychotherapie umfasst, bildet das Fundament für das, was dann eigentlich Meditation ist, das Eintauchen in die Stille und Leere der Wirklichkeit. Selbsterkenntnis ist eine Bewegung von einem Augenblick zum anderen, ein konstantes Lernen über sich selbst. Sich selbst zu verstehen bedingt, jedem Gefühl und Gedanken zu folgen, ohne Unterlass, währenddem sie entstehen, blühen und verblassen. Das Selbst ist ein sich ständig wandelnder Prozess. Es braucht eine grosse Leichtigkeit und eine Bereitschaft zur Wahrheit, um ihm aufmerksam folgen zu können. Verurteilung und Beschönigung haben darin keinen Platz. Es braucht ein nüchternes Hinschauen, eine Ehrlichkeit, eine Betrachtung aus der Stille und der Leere ohne jede vorgefasste Meinung. Wenn wir dazu neigen, uns auf eine bestimmte Art sehen zu wollen, uns ein bestimmtes Bild überstülpen zu wollen, werden wir uns endlos in Illusionen verstricken. Die Wahrheit ist eine höchst lebendige Sache. Sie ist etwas Absolutes und doch in jedem Augenblick einmalig.
S. 57
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Im Irrgarten der Lust - Abschied von der Abhängigkeit/ Die Geburt der Freude: Eine Liebesgeschichte, Sachbuch Psychologie, Basic Editions, 2. Auflage 1997
Sich ehrlich zu zeigen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Ganzheit, und Ganzheit ist das, was wir jenseits der Abhängigkeit finden.
S. 176
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Zusammen leben - Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung, Basic Editions, 2013
Viele unlösbare Konflikte begründen sich darauf, dass man nicht wirklich ehrlich ist mit sich selbst und mit den anderen.
S. 279
Die Wahrheit der Liebe ist ein Schwert, das seichtes Geschwätz von wahrhaftigem Ausdruck, das unehrliches Leben von authentischem Sein trennt. Die Liebe kann nicht anders als konfrontieren, als vor den Kopf stossen, obwohl das keineswegs in ihrer Absicht liegt. Es liegt am harten Kopf, dass er Anstoss nimmt, nicht an der Aufrichtigkeit dessen, gegen das er dabei stösst. Solange Wahrhaftigkeit als konfrontativ und nicht als natürlich empfunden wird, ist Verständigung nicht möglich.
S. 489
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Liebe - Bilder, Gedichte und kleine Meditationen, Basic Editions, 2014
Die ehrliche Untersuchung der Wahrheit zwischen uns bringt immer ans Licht, was wir füreinander sind, füreinander sein können, füreinander sein müssen. Lieben heisst auch, vorbehaltlos mit dieser Wahrheit zu gehen, sich nichts vorzumachen, nichts zwingen, nichts verhindern zu wollen. Diese Bereitschaft – keine Kontrolle, keine Manipulation in Beziehungen – bringt immer die Qualität der Jahrtausendliebe mit sich, in der wirkliches Blühen in Freiheit und Innigkeit, ein konfliktfreies Zusammenspiel möglich werden. Beziehungen in ihrer Fülle werden darin sichtbar, im Mittag ihres Glückes.
Es gibt die Wahrheit der Gegebenheiten. Ihr muss man sich stellen. Sie ehrlich sehen. Aber es gibt auch eine Wahrheit der Absicht. Wenn die Absicht in uns stark genug ist, setzt sie sich schliesslich durch.
1) Aus: Samuel Widmer Nicolet (zusammen mit Danièle Nicolet): Heute wurde uns eine Tochter geboren / Ein Lebensjahr – ein reiches Jahr – ein Jahr der Wandlung / Von Geld, Macht, Besitz und Gerechtigkeit, Basic Editions, 2005, S. 117