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Newsletter 5/2021 - Vom Scheitern oder von der Verzweiflung am eigenen Scheitern
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Oktober 2021

B

eharrlichkeit ist die Kraft,
die es immer wieder versucht.
In ihrer Einfältigkeit
überwindet sie jedes Scheitern,
lernt schliesslich, fröhlich zu scheitern.
Beharrlichkeit erlangt schliesslich das Wirkliche.
Sie reinigt die Verbindung des
Eigenwillens zur universellen Absicht.



R

aum und Zeit zu wandeln.
Berufung offenbart sich uns,
wenn wir dem Kommen und Gehen
des Innern indifferent gegenüberstehen,
wenn alles Wünschen, Hoffen und
Sehnen und alle Gefühle des Scheiterns,
in uns zu einem Ende gekommen sind,
wenn der Wunsch nach Wiederholung
der Erfahrung und Wiedererfahrung
des Höchsten in uns erloschen ist. (1)




Die Liebe kann sich jedes Scheitern leisten.
Samuel Widmer
Hoffnung bringt Verzweiflung hervor.
Samuel Widmer


Liebe Leser


Vor ein paar Wochen hatte ich ein interessantes, berührendes Gespräch mit meinem Nachbar über das Scheitern. Wir hatten gerade am Abend davor unser Quartiertreffen gehabt, das erste nach unserem Meditationswochenende im Sommer. Die Gelegenheit, uns über die gemeinsame Erfahrung und ihre Integration auszutauschen, dachte ich. Mein Impuls blieb leider unverfolgt und anstatt mit tiefsinnigen und ganz innigen Gesprächen, hatten wir den Abend leider mit Oberflächlichem und Alltäglichem verbracht. Wieso ist es so schwierig, sich mit dem eigenen Glück, Unglück, mit dem, was einen gerade in der Tiefe bewegt, zu zeigen, auch unter langjährigen Freunden? - wollte ich von meinem Nachbar wissen.
Mein Nachbar meinte, mit der eigenen Wahrheit da zu stehen, erfordere gleichzeitig die Bereitschaft dafür, die Wahrheit über sich selbst von den anderen gesagt zu bekommen. Mit der Wahrheit da zu stehen, bedeutet vielleicht, das eigene Scheitern gestehen zu müssen, das Scheitern in den Liebesbeziehungen, in der beruflichen Laufbahn, in der persönlichen Weiterentwicklung,… Es bedeutet eventuell ein Bild von sich selbst, das man gerne hätte, dass die anderen haben, revidieren zu müssen. Das alles erfordert Mut und Demut. Oberflächlich ist ungefährlich. Aber das schafft keine Nähe und Intimität. Es ist eigentlich ein Paradox: Immer wenn jemand aus seinem Innersten spricht, finden die anderen, dass dies Nähe und Intimität schafft. Über das eigene Innerste zu reden, möchte aber fast niemand. Es hat auch etwas Egoistisches; Samuel hätte gesagt: „Man verweigert einem die Liebe“.

Persönlich war ich in den letzten Monaten auch mit dem Scheitern konfrontiert, und zwar mit meinem immer neuen Scheitern beim psychologischen Sterben, mit der Unfähigkeit, loszulassen und die Kontrolle aufzugeben. An Wille, Absicht, Disziplin und Beharrlichkeit fehlt mir nicht; das reicht aber leider nicht, um sterben zu „lernen“. Letzthin bei einer Meditation, bei der ich für einen kurzen Moment gedacht habe, jeden Versuch für immer aufzugeben, kam eine neue Einsicht zu mir: ich bin noch nicht verzweifelt genug! Verzweiflung ist das, was fehlt! Verzweifelt daran, dass ich jedes Mal, wie ich grad Samuel in einer CD (2) hörte, „vor der Tür stehe, nicht aufgenommen werde ins Paradies, und das es vielleicht auch nie werde“. Verzweifeln, weil „es eigentlich ganz leicht ist“, sagt Samuel weiter. „Es braucht nur Schweigen, Anhalten, den Tod. […] Schweigen kann man nicht erringen, Schweigen kommt nebenbei als Ergebnis von etwas ganz Anderem. Schweigen kommt, wenn man sich alles angeschaut hat, sich allem ehrlich gestellt hat, alles genommen hat, Ordnung in seinem Leben geschaffen hat […]. Dann kommt das Schweigen“. Ja, alles eigentlich theoretisch ganz einfach…. Vielleicht verzweifle ich besser daran, dass ich so etwas Einfaches nicht schaffe, als zu versuchen, ganz diszipliniert und willig, daran zu verzweifeln, dass ich wieder gescheitert bin….

Und zum Schluss noch etwas Leichteres: Erinnert ihr euch an den Newsletter über die Leidenschaft vor einiger Zeit? Ausgelöst war bei mir der Newsletter damals unter anderem von der ausserordentlich leidenschaftlichen Musik, die ich gerade von verschiedenen Komponisten entdeckt hatte. Kürzlich hatten Danièle und ich das Glück, zusammen mit ein paar Freunden aus der Gemeinschaft, einen dieser Goldschätze live in Küsnacht bei Zürich hören zu dürfen. Eine äusserst berührende, einmalige Erfahrung. Weil so geniale junge Komponisten nicht unentdeckt bleiben sollen, möchte ich allen von euch, die sie bei Danièles Seminaren noch nicht gehört haben, die CD „ÜberBach“ von Arash Safaian ans Herz legen. Ein genialleidenschaftliches Meisterstück!

Fröhliches Verzweifeln oder was auch immer Wahrheit und Innigkeit in die Beziehungen bringt

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi


P.S. Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden. Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis. Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch).


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Kriegerschule / Die Kriegertexte, Sachbuch Spiritualität, Basic Editions, 2010
Der Krieger weiss, dass er sich nicht ändern kann; trotzdem versucht er es beharrlich. Sein Lohn schliesslich ist nicht die Änderung, sondern der Wandel, der daraus kommt, dass seine Beharrlichkeit eine Energie aufgebaut hat, die alles verändert.
Im Gegensatz zum Durchschnittsmenschen ist der Krieger niemals enttäuscht, wenn es ihm nicht gelingt, sich zu verändern. Das ist genau das, was ihn von diesem unterscheidet. Keine Reaktion. Der Weg des Kriegers ist der Weg des fröhlichen Scheiterns. Dies ist der Weg der Makellosigkeit. Und der Wandel, den er schliesslich, wenn er genügend Kraft aufgebaut hat, erlebt, ist der Verlust der menschlichen Form, das Wiederfinden des ganz Ursprünglichen, des unkonditionierten Geistes, der nicht in Gewohnheitsmustern gefangenen, freien Energie. Freiheit. Und Freiheit besteht nicht darin, sich frei entscheiden, frei wählen zu können, sondern darin, frei wahrnehmen zu können, die Freiheit zu haben, alles zu sehen.
S. 20

Jede Kriegerin überfällt an einem gewissen Punkt des Weges ein unüberwindlicher Pessimismus. Ein Gefühl geschlagen zu sein, unwürdig zu sein, überkommt sie. Sie hat auch das Scheitern als Möglichkeit zu anerkennen; sie muss lernen, auch fröhlich scheitern zu können. Die Kriegerin ist auf der Welt, um sich zu einer vorurteilslosen Zeugin herauszubilden. Sie will das Mysterium unseres Daseins verstehen und herausfinden, wer wir wirklich sind.
S. 57


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Wahrheit, Sachbuch Philosophie, Basic Editions, 2010
Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra ist so etwas wie der erste Gesang auf die Vision einer neuen Geschichte, die Vision des neuen Menschen. Aber wie noch vielen wahrhaftigen Philosophen nach ihm, Bhagwan-Osho zum Beispiel oder Wilhelm Reich, gelingt es Nietzsche in einer verlogenen Welt noch nicht, über die Verzweiflung hinauszuwachsen. Er zerbricht am Turm der Gedanken, den er noch nicht verlassen kann, um sich der "Unendlichkeit" zu stellen, statt an ihr zu "scheitern".
S. 80

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Durchdrungen sein vom Du, Von der Praxis der Liebe, Protokolle einer Gemeinschaft, ein ganz persönliches und ein gemeinsames Buch, Basic Editions, 2004
Jeder ernsthafte Sucher scheitert an sich selbst. Er verzweifelt an sich selbst. Das ist die Voraussetzung, um den Eingang zu finden in die Möglichkeit eines anderen Lebens. Nur wer es nicht versucht, ist dem Scheitern nicht ausgesetzt, aber er wird das Kleinod der Liebe auch nicht finden.
S. 104

Anna ist eine gute Schülerin. Sie weiss eigentlich genau, wie es geht. Sie lernt fleissig und kann den ganzen Katechismus der Psychotherapie auswendig hersagen. Nur eben, […], kommt dann das Scheitern. Wenn man die schönen Konzepte dann anwenden will im Leben, stösst man auf diesen trägen, unbeweglichen Typen in sich, der sich nicht verändern kann oder will. Das bringt dann die Gefühle des Scheiterns, Ohnmacht, Hilflosigkeit, die Einsamkeit, das Ausgeschlossensein. Damit ist man dann ganz allein. Und das liebt die Anna nicht. Das lieben wir alle nicht. Erst wenn wir es lieben, geht es weiter und wird es leichter.
S. 106

Die in uns errichtete Konditionierung kann man nicht mehr beseitigen, sagt Krishnamurti. Man kann sie nur entmachten, dadurch, dass man sie sieht. Es ist genau diese Einsicht, dass nichts zu verändern ist, welche uns am Ende freisetzt. In einem endlosen, hilflosen und hoffnungslosen inneren Kampf, in einem langen Prozess des Scheiterns lernst du schliesslich zu akzeptieren, dass nichts getan werden kann. Und natürlich kommt damit die Realisation, dass genau dies die Lösung ist, dass du scheiterst, weil Scheitern die Lösung ist. Du musst scheitern, das Ego, das Selbst muss vollkommen scheitern, damit das Andere Einzug in dir halten kann. Und dieses Akzeptieren ist nicht nur ein passiver Seinszustand, nein, es ist Handlung. Du beabsichtigst dein Schicksal nun mit all deiner persönlichen Kraft, dein Schicksal, das du nun erkennen kannst – auch das ist ein Teil des Mysteriums –, wie es vor dir ausgelegt ist.
S. 391

Wir sprechen bei diesen meditativen Übungen auch viel von Integration, dass man das ins Leben hinaustragen muss, im Alltag integrieren muss. Hier befinden wir uns auf einer Insel, hier ist es einfach, es zu lernen, die ersten Schritte zu machen. Aber bewähren muss es sich im Alltag. Integration, das heisst für mich, den Weg des Scheiterns zu gehen, immer wieder an die Grenze zu stossen und dem nicht auszuweichen. Das, was vor allem auch macht, dass häufig diese Achtsamkeit schnell wieder verloren geht, hat damit zu tun, dass ich mich diesem Scheitern nicht stellen will. Begrenzt zu sein und nicht an der Grenze zu stehen, sondern von der Grenze beherrscht zu sein, das heisst auch, ich gebe mich leicht zufrieden. Und das kann ich nicht verstehen! Wie kann man sich zufrieden geben? Wie kann man sich zufrieden geben, wenn man nicht in der Stille wurzelt? Wie kann man sich zufrieden geben, wenn man nicht in der Liebe gründet? Wie kann man sich zufrieden geben, dass da eine Grenze ist, die mich ausschliesst aus der Ekstase des einfachen Menschen? Wie kann ich damit leben, das akzeptieren, dass ich nicht ununterbrochen mit dem ganzen Leben in Berührung bin, dass nicht das ganze Leben ununterbrochen tief in meine Seele eindringt? Wie kann ich leben damit, dass ich ausgeschlossen bin dadurch von Raum, von Freiheit und Schönheit? Ich finde immer, ich spüre das so in mir, es brauche da ein leidenschaftliches Verlangen, etwas, was sich absolut nicht zufrieden gibt, was ringt damit, was keine Ruhe gibt, was das unbedingt erlangen will. Und dann braucht es gleichzeitig die Einsicht, dass alles Ringen nichts nützt, dass alles Suchen und danach Streben nichts nützt, dass ich nichts tun kann, dass da einfach diese Grenze ist, die ich nicht überwinden kann, dass aller Versuch, sie zu überwinden, die Grenze gerade wieder neu festigt. Und trotzdem braucht es das Erste auch, weil – was ich immer wieder sehe, bei mir und bei anderen –, wer nicht alles gibt dafür, wer nicht eine Leidenschaft in sich hat dafür, der kommt nie an diesen Punkt, an dem er einsehen kann, dass alles Tun nutzlos ist. Es braucht diese Mischung, das, was ich den Weg des Scheiterns nenne: Ich gebe mein ganzes Sein dafür, das zu erlangen, und gleichzeitig scheitere ich ununterbrochen daran. Bis ich an diesen Punkt gelange, immer mehr sich das verdichtet in mir, wo das verschmilzt miteinander, das Ringen und das Scheitern, das Ringen und das Nichts-Tun-Können, wo ein Punkt höchster Aufmerksamkeit entsteht, der dann in Stille mündet.
S. 441

Die Einsamkeit trifft man dort, wo man mit dieser unbeugsamen Absicht und heisser Leidenschaft dieses Ziel verfolgt, in der Liebe zu wurzeln, in der Stille zu Hause zu sein, Schönheit zu finden, und dann daran scheitert, weil es nicht erlangt werden kann. Und wo dann diese vollkommene Achtsamkeit in einem entsteht, in der dieses Verlangen, diese Leidenschaft mit dem Scheitern zu einem verschmilzt, ein und dasselbe wird, und wo dann auch die Einsamkeit und das, was hinter dem Tor liegt, das sie öffnet, zu einem verschmilzt, wo Unschuld wieder gefunden wird, so dass ein Unterscheiden von Einsamsein und In-der-Schönheit-Sein nicht mehr möglich ist, ein Unterscheiden von absolut Wollen und daran Scheitern nicht mehr möglich ist, wo diese Einheit entsteht in einem, dieses Ganzsein, dieses Ohne-Zentrum-wach-Sein, wo die Ekstase des einfachen Menschen gefunden ist, die Einsicht, dass leben genug ist. Auch Scheitern ist ein Eingang. Wirkliches Scheitern findet sich da, wo das Scheitern keinen Platz hat. Da, wo es Raum bekommt in einem, ist es auch wieder nur ein Eingang.
S. 442


Aus: Samuel Widmer Nicolet: kirschbaumblütenblätterweiss - Die ganz, ganz neue Geschichte (unter Paul Nicolet), Roman, Basic Editions, 1999
Die neue Geschichte ist auch ein Zustand. Die neue Geschichte ist das, wofür wir immer schon gedacht waren, von allem Anfang an. Die neue Geschichte ist Liebe. Die neue Geschichte ist das Undenkbare, das, wovon alle, die besten Köpfe vor allem, behaupten, es sei nicht möglich. Ein Zustand, in dem das Ich, das ewig um sich selbst drehende, Unheil hervorbringende alte Ding, diese innere Struktur der Konditionierung auf das Besitzdenken zu einem Stillstand gekommen ist und sich einem Offensein, einem Verletzlichsein, einem Mitgefühl geöffnet hat, diesem unerklärlichen Zustand des Ich-bin-von-dir-durchdrungen, von dem alle vernünftigen Köpfe behaupten, dass er nicht sein kann. Und doch versuchen wir alle ununterbrochen und immer wieder, diese neue Geschichte zu leben. Wir können nicht anders. Denn sie ist unsere eigentliche Natur. Ohne sie macht unser Leben keinen Sinn. Aber sie ist uns noch nie gelungen, noch nie in grösserem Stil gelebt worden auf dieser Erde. Im Persönlichen, im Einzelnen und im Grossen sowieso scheitern wir ununterbrochen an ihr.
Die wenigen, die sie wirklich leben, die ganz, ganz wenigen, die sich ihr stellen, vorbehaltlos, machen eine wundersame Erfahrung. Der Geist der alten Geschichte sagt: Die Liebe ist nicht möglich. Sie kann nicht funktionieren. Er schaut deshalb selbst zu dem, was er als das Rechte erachtet und befindet sich dabei ununterbrochen in einem Zustand der Angst, des Schreckens und des Hungers. Der Geist der neuen Geschichte sagt: Ich versuche das Unmögliche. Ich kümmere mich um dein Glück. Ich sehe, dass es nicht gehen wird. Dass ich heillos überfordert sein werde. Dass es nur gehen würde, wenn du mir hilfst dabei, wenn wir einander gegenseitig helfen. Und ich sehe auch, dass ich mich nicht auf dich verlassen, dir nicht trauen kann. Aber ich tue es trotzdem, weil es das richtige ist. Ich riskiere es trotzdem; weil es das ist, was zu tun ist. Die wenigen, die sich dem stellen, sitzen deshalb ununterbrochen in der Tinte. Ein Leben lang, es funktioniert tatsächlich nicht. Aber das Wunder, das sie erfahren, besteht darin, dass sie, indes sie in der Tinte sitzen, ununterbrochen von der Liebe und vom Glück getragen sind, begleitet werden, in diesem unerklärlichen Zustand sind, der allein das Leben wert macht, gelebt zu werden. Es trägt sie. Die neue Geschichte ist Liebe. Der Zustand der neuen Geschichte ist Liebe, das Erwachen von Liebe und Mitgefühl. Die neue Geschichte ist ein spirituelles Erwachen. Ein wahrhaftiges spirituelles Erwachen, nicht diese illusionäre Plastikspiritualität, die mit ihren naiven und zum Teil gefährlichen rechtsradikalen Tendenzen den Ausklang des zweiten Jahrtausends, den wir gerade erleben, kennzeichnet, und auch nur ein Ausdruck der Angst, der alten Geschichte ist.
S. 403


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Sag mir Liebste, was ist das Leben? Und sag mir Liebster, was ist der Tod? - Ein Briefwechsel zwischen Liebenden (zusammen mit Danièle Nicolet), Basic Editions, 2003
Ich bin der Meinung, dass wir Menschen nicht am Können, sondern am Wollen scheitern. Etwas unmittelbar zu beenden ist dann möglich, wenn ich alle meine Absicht darauf verwende: Zuerst muss ich es sehen, verstehen und danach beenden wollen. Wir sind nicht ernsthaft genug. Keine Entscheidung reicht bis über das nächste schwierige Gefühl hinaus. Wir kennen nur dieses oberflächliche Wollen, das an der nächsten Ecke gleich wieder ins Wanken kommt. Wir haben nicht gelernt, einen Willen, eine Absicht zu errichten, die so ernsthaft sind, dass sie für immer halten.
Ich habe das immer wieder getan in meinem Leben, mit dem Selbstmitleid, der Eifersucht, mit der Angst, einfach, weil ich die Notwendigkeit davon gesehen habe. Und dennoch könnte ich dir nicht erklären, wie man es macht. Es hat mit Verantwortung zu tun, mit der Liebe zum Leben, mit Leidenschaft, mit dem Ziel, das man im Leben hat, und dem Erkennen, dass dieser Weg der Einzige ist, der dahin führt.
Vielleicht gibt es da auch gar nichts zu erklären. Entweder ich beende etwas oder ich beende es nicht. Daraus ergibt sich die Art meines Lebens!
S. 110

Die Schwierigkeit, […], ist […], gemäss seiner diesbezüglichen Einsicht zu handeln. Oft findet man die Kraft nicht dazu. Man sieht durch die Disziplin der Achtsamkeit sehr klar, was zu tun wäre, aber man scheitert daran, dass man es nicht tut, dass man sich gehen lässt. Die Widersprüchlichkeit der menschlichen Seele! Wie lernt man es? Den Prozess, in dem man lernt, gemäss seiner Einsicht zu handeln, nenne ich den Weg des fröhlichen Scheiterns. Solange nämlich nicht genug Kraft da ist, der Einsicht zu folgen und man wieder scheitert, ist der Prozess der genauen Beobachtung noch nicht abgeschlossen. Irgendein Faktor ist noch nicht berücksichtigt. Irgendwo steht noch nicht die ganze Kraft zur Verfügung. Die Rekapitulation ist noch nicht vollendet. Man sieht die Notwendigkeit der Veränderung noch nicht wirklich ein. Manchmal steht man jahrelang vor einer solchen Konstellation, die einfach unlösbar erscheint, und man neigt dann dazu, aufgeben zu wollen, frustriert zu sein, sich gehen zu lassen, sich zu suhlen in seinem Unvermögen. Das Dilemma, von dem ich im Vorwort gesprochen habe, das Dilemma von Christoph, weswegen es ihn gelüstet, sich mit Makellosigkeit auseinander zu setzen, das Dilemma des Menschen überhaupt, das Dilemma, das darin besteht, Einsicht und Handeln zusammenzubringen, so dass der Geist des Kriegers aus einem Guss gegossen ist, das Dilemma, die Widersprüche nicht überbrücken zu können. Auf das Menschliche zu verzichten, wenn es nicht von höchster Qualität ist, ist der Punkt, an dem sich dieses Dilemma mir persönlich zeigt, liebe Danièle. Sofern man sich gehen lässt, dies als seinen Weg wählt, lernt man nicht mehr weiter, man wächst nicht mehr. Das, was zu tun ist – ich nenne es den Weg des fröhlichen Scheiterns – ist, sich nicht beirren zu lassen. Es spielt keine Rolle, dass man scheitert. Es muss gar nicht gelingen. Man versucht es einfach und bleibt beharrlich darin und lernt, die Freude nicht zu verlieren, nur weil man gerade nicht zu den Gewinnern und Siegern gehört. Und siehe da – a llerdings wie gesagt manchmal erst nach Jahren des genauen Beobachtens, des Ringens und Forschens, des Aufbauens innerer Disziplin – fällt plötzlich wieder ein Problem von einem ab. Plötzlich ist etwas einfach gelöst, was jahrelang ein Problem war. Es kommt immer plötzlich, obwohl das Aufbauen der Kraft, die es braucht, im Prozess des fröhlichen Scheiterns, im Prozess der Makellosigkeit, im Prozess der wahllosen Beobachtung allmählich geschieht. Plötzlich geht es. Im Prozess, den innere Disziplin schafft, sammelt man Kraft: die Kraft der Beharrlichkeit. Diese Kraft – eine neue, andere Energie – ist es, die sich schliesslich gegen die Muster der Gewohnheit durchsetzt, sie durchbricht, weil sie letztlich stärker ist. Beharrlichkeit – Disziplin – Selbstkontrolle – Achtsamkeit – Makellosigkeit – fröhliches Scheitern – all das gehört zusammen, ist ein Ding. Don Juan spricht davon, dass man schliesslich die menschliche Form verliere, dass das Unterworfensein unter die menschliche Kondition aufhöre. Man geht darüber hinaus. Ins Nichtmenschliche. Man hört gewissermassen auf, ein Mensch zu sein und erkennt sich selbst als Wesen. Das, was die Widersprüchlichkeit in uns drin und die Widersprüchlichkeit des Lebens überhaupt überbrückt, ist die Liebe.
S. 245

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen , Basic Editions, 2005
Das, was dem Fluss der Liebe im Weg steht, ist der Widerstand des Selbst. Dieses kann man nicht einfach loslassen. Niemand tut das freiwillig. Das hält nicht. Vielmehr ist es so, dass man an seinem eigenen Nicht-Wollen verzweifelt, weil man sich ihm stellt, es sieht. Weil man es nicht verdrängt, sondern beharrlich mit dieser Tatsache bleibt, bis es schliesslich zu einem Zusammenbruch kommt in einem drin. Der Boden fällt gewissermassen raus. Der Widerstand bricht auf seinem Höhepunkt zusammen, nicht Ich habe ihn aufgegeben. Darum ist schliesslich seine Kraft, meine ganze Kraft in der Liebe enthalten.
S. 21

Denn die Überwindung des Selbst, für die ich mich, noch ohne es zu wissen, aufgemacht habe, ist eine gewaltige und beängstigende Schlacht, die nach unmenschlichen Kräften verlangt, wenn wir sie bestehen wollen. Das Scheitern wartet an jeder Ecke, das Scheitern an der Angst, so dass ich mich ihr bald ergebe und wieder gewillt bin, mich in den Gliedreihen des Mittelmasses einzuordnen, das Scheitern am Hang nach dem Vergnüglichen, das Scheitern an der Einsamkeit, das Scheitern an der Macht, am Besitzdenken, das Scheitern am Wahnsinn, das Scheitern am Ermüden und am Altern. Unglaublich starke Kräfte, die einen unwiderstehlichen Sog auf uns ausüben und uns immer wieder in die Sümpfe und Niederungen der menschlichen Ich-Haftigkeit und Verwirrung hinunterziehen wollen, sind zu überwinden. Nicht einmal die Sehnsucht, die einem tatsächlich über weite Strecken des Weges eine treue Begleiterin ist, die Sehnsucht, durchzubrechen ins Innerste und darin Heimat zu finden, vermag diesen Kräften bis zum Ende standzuhalten.
Welche Kraft wird solcher Übermacht die Stirn bieten können? Hat man überhaupt eine Chance? Ist einem das Scheitern nicht gewiss? Kann man wirklich ausbrechen aus dem Netz der Wirklichkeitssicht, welches die ganze Menschheit seit tausenden von Jahren für alle ihre Mitglieder webt? Kann man ausbrechen aus der Mittelmässigkeit? Beharrlichkeit ist die Kraft, welche immer wieder aufsteht und es immer wieder neu versucht. In ihrer "Uneinsichtigkeit" wirkt sie fast dumm und stur. Einfältig ist vielleicht das richtige Wort. Sie will sich nicht ergeben, obwohl ihr Ringen aussichtslos erscheint, obwohl sie sich mit ihrem Mühen nur der Lächerlichkeit preisgibt. Beharrlichkeit überwindet jedes Scheitern, sie lernt schliesslich, sogar fröhlich zu scheitern, mit einem lachenden Gesicht zu scheitern.
S. 58

Das Scheitern wartet an jeder Ecke. Don Juans Beschreibung ist nur eine Möglichkeit, es einzufangen. Scheitern scheint unser Los zu sein. Die meisten scheinen zu scheitern. Und trotzdem ist Scheitern letztlich eine Illusion. Man könnte es gleich zu Beginn sehen, aber in der Regel sieht man es erst am Ende, im Angesicht des Todes, im Angesicht des Alters, des vierten Feindes, der einem schliesslich alles wegnimmt, sofern man den Weg überhaupt auf sich genommen hat, dass nämlich alles gleichgültig ist, dass alles die gleiche Gültigkeit hat, dass es keine Rolle spielt, welche Ziele man sich setzt und welche man erreicht oder nicht erreicht.
Nun könnte man daraus schliessen, dass es folglich völlig gleichgültig ist, ob man sich überhaupt auf den Weg der Selbsterkenntnis begibt oder als Durchschnittsmensch gleich zu Beginn scheitert, den Kampf mit der Angst gar nicht aufnimmt. Das ist zwar richtig; es ist aber ein Unterschied, ob ich diesen Zustand der Gleichgültigkeit tatsächlich gefunden habe oder nicht. Dem Durchschnittsmenschen ist in der Regel überhaupt nichts gleichgültig. Er klammert sich an sein Leben, an seinen Besitz, seine Identität. Es ist überhaupt nicht so, dass er eingesehen hätte, dass es von gleicher Gültigkeit ist, ob er lebt oder stirbt, ob er ankommt oder unterliegt, ob er existiert oder nicht existiert.
Das zu sehen, und zwar nicht nur als intellektuelle Einsicht, sondern in der Tiefe zu erleben als Gefühl, ist höchste Einsicht, die daraus kommt, dass jemand den ganzen Weg der Selbsterkenntnis abgeschritten und trotz allem Scheitern schliesslich angekommen ist. Man kann aber auch sagen, dem Durchschnittsmenschen ist alles "Wurst", alles gleichgültig. Ausser für seine eigenen, beschränkten Bedürfnisse hat er für nichts einen Sinn, für nichts ein Herz. Diese Gleichgültigkeit oder vielmehr Wurstigkeit ist aber nicht der Zustand der Gelassenheit, der Gleichgültigkeit, die der Angekommene kennt. Sie hat keine Kraft, sie trieft nicht vor Sinn und Bedeutung. Sie hat keine Schönheit.
Darum ist beides wahr: Man kann elendiglich scheitern, und letztlich ist Scheitern eine Illusion, die man loslassen, die man aufgeben muss. Dies zu sehen bezeichnen wir als das fröhliche Scheitern. Man hat eingesehen, dass alles keine Rolle spielt. Aber gerade trotzdem gibt man sein Bestes, versucht, die höchsten Gipfel zu erklimmen, foutiert sich aber gelassen und fröhlich darum, ob dies einem gelingt. Es ist vollkommen gleichgültig geworden, was ist. Es spielt keine Rolle. In allem, was ist, wie immer es ist, erkennt man die Wege des Unergründlichen, erspürt man die Essenz des Wesentlichen, des Allerinnersten.
Dies zu sehen, darin anzukommen, in der Gleichgültigkeit anzukommen ist höchste Vollkommenheit.
S. 150

Nicht-Wissen ist eine Qualität des Allerinnersten. Nicht-Wissen ist der Schlüssel, der alle Feinde entwaffnet, der alle Tore schliesslich öffnet, der alles Scheitern am Ende überwindet, transzendiert in die grossartige Sicht hinein, in der es Scheitern gar nicht mehr gibt. Man hätte es von allem Anfang an sehen können. Diese simple Wahrheit, die man meist erst als letzte findet, hätte man schon ganz zu Beginn erfassen können. Im Sein mit dem, was ist, gibt es kein Scheitern. Im wahllosen Beobachten und Nehmen von dem, was ist, ist alles gleich viel wert, hat alles die gleiche Gültigkeit, ist alles unbedeutend oder bedeutend, je nachdem, wie man es sehen will. Daraus, sich gefügig dem zu beugen, was immer ist, ergibt sich ein ganz einfacher, konfliktfreier Weg, eine Entfaltung von Schicksal, die voller Schönheit ist. Und es spielt keine Rolle, wie dieses aussieht. Man hätte es von Anfang an sehen können, denn wahllos zu beobachten, wahllos aufmerksam zu sein, wahllos zu lauschen und zu schauen war der erste Schritt auf dem Weg, und es wird auch der letzte sein.
Darin gibt es kein Scheitern. Alles ist immer gerade richtig so, wie es ist, weil es so ist, wie es ist. Man geht damit, richtet sich danach, lebt das Gegebene. Nicht-Wissen war von Anfang an die Haltung, die einen tiefer tauchen liess im Prozess der Selbsterkenntnis, im Prozess der Meditation. Das stille, nicht-wissende Gehirn ist von Anfang bis Ende auf der ganzen Reise, die letztlich keinen Anfang und kein Ende hat, der Begleiter, der Wirklichkeit sichtbar werden lässt, zum Leuchten bringt, herausschält aus aller illusionären Verkennung.
S. 150

Fröhliches Scheitern ist eine Qualität des Allerinnersten. Fröhliches Scheitern ist transzendiertes Scheitern. Kein Leiden ist mehr darin, kein Schmerz, keine Enttäuschung. Solange man noch enttäuscht werden kann, wenn man ein Ziel nicht erreicht, ist man noch nicht angekommen, nicht angekommen im wirklich Wahllos-Sein, im wirklich Annehmen von dem, was ist. Fröhliches Scheitern hat das Ringen um Makellosigkeit, um Vollkommenheit, um die höchsten Ziele keineswegs aufgeben. Es ist nicht ein Aufgeben, ein Klein-Beigeben. Fröhliches Scheitern ringt voller Leidenschaft, aber es ringt in Gelassenheit. Es spielt keine Rolle mehr, was dabei herauskommt. Und gerade darin liegt das Ankommen im Allerinnersten, gerade darin liegt Vollkommenheit. Integration des Scheiterns bringt Gelassenheit, bringt Geduld, bringt Ergebenheit, diese anderen Qualitäten des Allerinnersten, die der Gleichgültigkeit und dem Nicht-Wissen und damit dem Scheitern so nahe stehen.
S. 152


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Weg mit Herz,- Die Essenz aus der Lehre des Don Juan/ Eine Würdigung des Werkes von Carlos Castaneda, Sachbuch Psychologie, Nachtschatten-Verlag, 2002
Dieses Gefühl des Scheiterns muss, so habe ich es selbst erfahren, absolut auch integriert und akzeptiert werden, in uns einen Platz finden, bevor Freiheit überhaupt möglich wird. Man kann durchaus sagen, das Gefühl des Scheiterns wirklich genommen zu haben, ist wie ein ultimatives Sterben und damit eine Voraussetzung für das Gelingen. Trotz dieses Gefühls der Unzulänglichkeit, oder vielleicht gerade wegen dieses Gefühls, sagt Don Juan, sei es seinem Lehrer Julian schliesslich doch möglich geworden, die Freiheit zu finden und in die dritte Aufmerksamkeit einzutreten. Du siehst, mein Freund Manfredito, wenn du am Schreiben tatsächlich verzweifeln und scheitern solltest, wie ich es in meinem letzten Brief angedeutet habe, würde dir zumindest der Trost bleiben, dass die Beschäftigung mit dem Scheitern wenigstens auf einen hohen Entwicklungszustand hinweist.
S. 205

Don Juan erkannte, dass das Scheitern tatsächlich akzeptiert werden muss und dass der Entschluss eines Kriegers, trotz allem makellos zu leben, keine Strategie sein kann, um sich etwa des Erfolgs zu versichern. Dies, lieber Manfred, ist eine ganz wichtige Einsicht im Zusammenhang mit dem Scheitern. Im Moment des Scheiterns tritt der Krieger in einen Zustand unübertroffener Demut ein. Er verliert definitiv den letzten Rest eigener Wichtigkeit. Es ist der Moment, da er die wahre Armut seiner menschlichen Mittel nicht mehr leugnen kann und ihm nichts anderes übrig bleibt, als zurückzutreten und den Kopf zu senken. In der Psychotherapie ist dies eine häufige Erfahrung an verschiedenen Punkten des Weges, dass Scheitern, das Akzeptieren von Scheitern, die Voraussetzung für einen Durchbruch bildet. Das ultimative Scheitern sehe ich als das Überwinden der Macht, des Machtanspruchs und des letzten Restes eigener Wichtigkeit oder des letzten Quentchens narzisstischer Verblendung in einem. Daraus kommt Demut, Frieden und das endgültige Erwachen für die Tatsache, dass die Kraft einem nicht gehört. Dies wird auch durch die Beobachtung Don Juans bestätigt, dass die Frauen eines Kriegertrupps offenbar über das Schicksal des Scheiterns wenig besorgt und kaum deprimiert sind, sondern nur die Männer. Ich denke, lieber Manfredillo, dass dies damit zusammenhängt, dass Männer in der Regel eine grössere Auseinandersetzung mit der Macht und der eigenen Wichtigkeit zu führen haben. Nur die Männer setzen offenbar darauf, ein Ziel zu erreichen. Die Frauen sind von Anfang an überzeugt, dass sie nicht über die entsprechenden Mittel verfügen und sind deshalb nicht enttäuscht oder verzagt, wenn sie sich ohnmächtig sehen.
S. 206

Es ist gut, total Bankrott zu machen. Einmal im Leben komplett und dann jeden Tag einmal einen kleinen, sagen wir. Denn erst wenn wir total am Ende sind mit uns selbst, vollkommen gescheitert sind an unserem Selbstbild, übernimmt diese Kraft die Führung in uns.
S. 305


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Essenz schauen, Vom Ruhen im Urgrund allen Seins, Die Spiritualität beginnt im Becken, Ein Buch über Esoterik und Freundschaft, Basic Editions, 1998
Da ist […] die Verzweiflung. Wenn wir mit ihr gehen, führt sie uns direkt in den Kern.
S. 65

Wenn wir also wollen, dass unser Herz sich öffnet, müssen wir zuerst akzeptieren, dass wir da nichts tun können. Das ist Integration von Gefühlen wie Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Ohnmacht. Es ist eine Gnade, wenn das geschieht, ein Geschenk. Und wir bestimmen auch nicht selbst darüber, wann es stattfindet und ob es stattfindet. Wir müssen warten lernen, Geduld haben lernen, bis wir eingeladen sind. Vor diesem verschlossenen Tor zu stehen, wird uns verzweifeln lassen, wird uns ein grosses Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit geben. Und genau das ist der Eingang: Da wo wir völlig hoffnungslos werden, da wo wir keine Rettung mehr sehen, da wo wir völlig verloren sind, da wartet der Tod, da öffnet sich der Eingang zum Anderen, da kann das Andere erst wirksam werden.
Hingabe ist zwar ein aktiver Prozess, eine Tätigkeit, eine Tätigkeit aus dem Nicht-Tun des Herzens heraus. Aber Hingabe ist eine Eigenschaft eines bereits entfalteten Herzens. Zuerst kommt das Sterben, und das Sterben ist Nicht-Tun, ein absolut passives Geschehen, ein sich Überlassen, ein Gewähren-Lassen. Es geht um den Übergang vom «Ich will» zum «Dein Wille geschehe», und das beinhaltet ein völliges Still-stehen-Können, ein Nichttun. Zusammenfassend könnte man auch sagen: Der Wille tut, das Herz tut nicht. Oder: Der Wille sucht mit den Gedanken, das Herz sucht nicht, es schweigt.
S. 198


Aus: Samuel Widmer: Stell dir vor, du wärst ein Stück Natur, Von der Lust am Verbotenem, 1995, 2. Auflage 2021
So erkannte der einsame Sucher schliesslich, dass er nichts als verwirrt war und gar nichts wusste, nicht weiter wusste. So setzte er sich denn auf die Treppe, auf der er sich gerade befand, und versank in seiner Verzweiflung und Ohnmacht, gegen die er kein Mittel mehr wusste, gegen die er sich nicht mehr wehrte. So verharrte er mit dem, was eben war, mit der Begrenzung, der Langeweile, der Unverbundenheit und auch mit seinen Reaktionen auf diese Tatsachen, nämlich dem Gefühl der Isolation und Einsamkeit, der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit. Alles Tun verliess ihn, alles Denken und Suchen verliess ihn, und er wurde noch stiller, als er es ohnehin schon immer gewesen war. Er hörte die Geräusche im Haus, die Klänge, er war all das und war gleichzeitig völlig leer. Er war nichts, und er war dies alles.
In diesem Moment öffnete er die Augen und sah vor sich unten an der Treppe eine Türe, die er bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Sie war anders als die andern: Grösser, fester und vor allem: Sie stand offen. Was er sah durch dieses Tor war von anderer Beschaffenheit als alles, was er kannte. Denn dieses Tor führte nach draussen aus dem Haus heraus. Scheu und staunend schlüpfte er hinaus.
S. 64


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Von der unerlösten Liebe zwischen Vater und Tochter, Vom Inzesttabu und seinen Folgen, 1995, 3. Auflage Basic Editions 2018
Ich habe früher von den Imperien erzählt, von den Reichen des Bewusstseins, die wir durchschreiten während unserer Reise nach innen. Das letzte dieser Reiche, welches sich mir zu öffnen begann, tat sich aus solchem Alleinsein heraus auf. Aber zuerst kam die Verzweiflung, der Zusammenbruch, das letzte sich Wehren und Aufbäumen und schliesslich das Aufgeben, bevor sichtbar wurde, dass das Ende gar nicht das Ende ist. Unzählige Male habe ich das schon erlebt, und doch muss ich es immer wieder neu begreifen, in neuen, lebendigen Situationen. Ein Geheimnis hat sich da aufgetan zu einem innern, unpersönlichen Fluss. Es hat mit den Zentren im Kopf zu tun, damit, ob es uns möglich ist in diesen Zentren ganz stillzuhalten, ohne Reaktion zu bleiben. Das persönliche Leben hört dort auf, alles Selbstmitleid, alles Mitleid hört dort auf. Aber nicht zugunsten einer distanzierten, kalten Haltung, sondern zugunsten eines tiefen Stroms des Mitgefühls, der Liebe, des Alleinseins, der sich da offenbart. Alle Gefühle haben darin ein Ende, alle Qual; und doch ist alles, auch alles Leid darin enthalten. Man kann dieses Geheimnis nicht erklären; darin einzutauchen, wenn auch nur für Momente, ist ein Segen.
S. 231


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Ins Herz der Dinge lauschen, Vom Erwachen der Liebe, Über MDMA und LSD, Die unerwünschte Psychotherapie, Sachbuch Psychologie, Nachschatten-Verlag, 7. Auflage 2013
Viele hätten es schon versucht. Da sind einmal die Kletterer, die auf ihre eigene Kraft bauen. Die seien alle gescheitert und hoffnungslos in der Wand hängen geblieben oder abgestürzt. Dann gibt es die Verrückten, die meinen, fliegen zu können und sich einfach hinunterstürzen. Auch sie enden im Tod. Nur jene, die unverdrossen warten, zweifeln, nach Möglichkeiten Ausschau halten, schliesslich verzweifeln und doch nicht aufgeben können, manchmal jahrelang an der Grenze herumsitzen und meditieren, jene seien zuweilen eines Tages verschwunden, man wisse nicht wie. Es gibt Leute, die gesehen haben wollen, wie sie von der Dunkelheit der Nacht wie auf einem Teppich weggetragen worden und verschwunden sind.
S. 131


1) Aus: Samuel Widmer Nicolet: Der Gesang des Begnadeten/ von der unendlichen Liebe (The Song of the Blessed One/ about love infinite), Samuel-Shri-Prem-Avinash-Gita, Meditationen, Basic Editions, 2017, S. 134 und S. 144
2) Samuel und Danièle Widmer Nicolet, CD Einladung in die Traumzeit, Energiezyklus, Lüsslingen 2008