Newsletter 4/2024 - Selbstbezogenheit vs. Selbstlosigkeit
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August 2024
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editation kommt aus dem Nichts.
Man kann sie nicht rufen, nicht einladen.
Der Geist muss völlig leer sein
von aller Ambition, allem Suchen,
Hoffen, Sehnen, von allem Denken
in Kategorien von Verdienst,
von Bestrafung und Belohnung.
Der Geist muss leer sein
von aller Selbstbezogenheit, vom Ich.
Dann ist der Zustand der Meditation da.
Er ist der universelle Geist
im Zustand der Leere und Unschuld.
Der Sucher endet in der Meditation. (1)
Ich hab das Ich verlernt
und weiss nur Wir,
in tiefer Liebe wurde ich zu Zwein
und aus uns beiden in die Welt hinein
und über allem Wesen wuchs das Wir
und weil wir alles sind, sind wir allein.
R.M. Rilke
Liebe Leser
Mit etwas Verspätung kommt der August-Newsletter, dieses Jahr ausnahmsweise nicht aus den Tessiner Bergen geschrieben. Dort, in der Stille und Leere der endlich sommerlichen Tage, war anderes an der Reihe: viel Arbeit und neue spannende Projekte, … Trotzdem hat mich der Auf-enthalt in den Bergen zum Thema dieses Newsletters inspiriert, zusammen mit einigen Erfahrun-gen der letzten Monate.
Letzten Oktober hat ein heftiger Scirocco(warmer Südwind)-Sturm erhebliche Schäden im Tessin (Südschweiz) verursacht. Im Süden sind die Natur und die Bauten (mit z.B. Wurzel- und Dächer-ausrichtung) eher danach ausgerichtet, Winden aus dem Norden zu trotzen; deshalb hat der hefti-ge, seltene Südwind apokalyptische Szenarien hinterlassen, auch in unseren Bergen. Ganze Wälder sind flachgelegt worden. Nur auf meinem Grundstück habe ich, neben der Solaranlage, etwa vier-zig Birken und einen ganzen kleinen Buchenwald verloren. Ungläubigkeit, Ohnmacht, Unver-ständnis, das sind die Gefühle, die ich bei der ersten Besichtigung der Schäden letzten November hatte. Und Stress!
Einige Freunde aus der Gemeinschaft haben mir netterweise ihre Hilfe angeboten, um die Bäume zu schneiden. Als ich allerdings letzten Mai auf meine Alp kam, fand ich fast alle Birken zersägt und schön gestapelt, sogar mit einem Blechdach versehen. Ich bin einfach in Tränen ausgebro-chen. So eine Last, die plötzlich weggefallen war. Ganze zwei Monaten habe ich gebraucht, um herauszufinden, wem ich dieses unbezahlbare Geschenk verdanke. Es war der Bauer, der dort unsere Wiesen mäht. Einfach so, aus purer Grosszügigkeit und ohne einen Dank zu erwarten.
"Für nichts und wieder nichts" würde Samuel sagen. Altruistisch und selbstlos, ohne einen persön-lichen Vorteil. Leider ist eher die Selbstbezogenheit die Regel in unserer Welt. Wie oft steht hin-ter einer Aktion, einem Entscheid, einem Sich-irgendwo-Einsetzen mein Wohl, und nicht das des Ganzen? Sind meine durch die Wucht des Windes zerschmetterten Buchen nicht auch ein Opfer unserer Selbstbezogenheit?
Hier also ein paar wenige Texte über Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit.
Es hätte auch ein Newsletter über Angewiesensein werden können, aber dieser gibt es schon (siehe Newsletter 4/2021). Neben dem Angewiesensein, in dem ich mich nämlich in den letzten Jahren und vor allem seit meines Bruders Tod üben muss, muss ich allerdings neu lernen, Geschenke anzunehmen, ohne mich in irgendeiner Form revanchieren zu können. Es fällt mir gar nicht so leicht! Der Bergbauer ist nämlich nicht der Einzige, der dort oben Stunden umsonst für mich investiert. Plötzlich erscheinen dort Leute mit einer Motorsäge, oder mit einem Fadenschneider, organisieren Leute mit den Behörden, die Wege frei zu machen,… Sie schenken mir Stunden ihrer Zeit, und sie lehnen jedes Geschenk oder Dankeschön scheu ab. Ich habe dadurch diese Leute auf dem Berg neu entdeckt. Leute, die man sonst nie sieht, von denen ich nicht einmal den ganzen Namen weiss, die man aber seit der Kindheit oder seit Generationen kennt. Menschen sehr karg an Worten und die ihre Gefühle ungern zeigen, die aber, wenn man sie braucht, einfach da sind. Eine Berggemeinschaft.
Ich wünsche euch einen schönen Spätsommer
Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi
Nochmals zur Erinnerung: Seit April ist die Website www.samuel-widmer.ch online. Diese ist in den letzten zwei Jahren entstanden, als so zusagen Höhepunkt der Arbeit des Vereins Samuel Widmer Nicolets Erbe und ist als Dokumentationszentrum für Samuels Lebenswerk und Lehre entstanden. Zu jedem Thema, mit dem sich Samuel in seinem Leben befasst hat (Psycholyse, Selbsterkenntnis, Gemeinschaftsbildung, Tantra, Inzesttabu, Liebe, Schichtenmodell, uvm), gibt es zusammenfassende Texte, die auch als .pdf herunterladen werden können. Die meisten Werke (Vorträge, Meditationen, Artikel, Briefe, Gedichte, seine Bilder,…) sind schon hochgeladen und stehen allen zur Verfügung. Habt Freude damit!
Bevorstehende Termine des Hofs zur Kirschblüte:
Die Praxis Hof zur Kirschblüte informiert Interessierte ein paar Mal jährlich per E-Mail über ihr
Seminarangebot. Ihr könnt euch hier eintragen:
https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
Die letzten Newsletter findet ihr hier
hier.
Die Programmübersicht mit den Angeboten für 2024 und für 2025 findet ihr jeweils hier:
https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
- Am 15. August treffen wir uns online für die Meditation zum Thema "Spirituell-Magisches Träumen" (auch als Vorbereitung für die 3-jährige Ausbildung im "Spirituell-Magischen Träumen" ab Herbst 2025 geeignet).
- Im August treffen wir uns wieder in der Seminarreihe "Das Allerinnerste – Vom Duft des Ankommens".
zum Thema "Mut/Sanftmut".
- Im September findet wieder ein Kleingruppenseminar statt.
- Ebenfalls im September findet ein offenes Tantra-Seminar mit dem Titel "Heimat beinhaltet Authentizität" statt.
- Im Oktober 2024 geht es zum zweiten Mal nach Kolumbien im amazonischen Regenwald:
- Im Dezember 2024 finden im Neredu Valley in Indien zwei Seminare statt, ein freundschaftliches Treffen zum Thema «Der Weg mit Herz» und anschliessend ein tantrisches Zusammensein.
- Im April 2025 werden wir wieder in der algerischen Sahara sein.
Ab sofort bietet die Praxis Hof zur Kirschblüte für Menschen mit einem Euro-Einkommen eine
Preisermässigung bis zu 20% nach eigenem Ermessen für die Seminare in der Schweiz an.
Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (
https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden.
Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis.
Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (
https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft
(
https://gemeinschaft-kirschbluete.ch) oder auf dem Facebook-Kanal der Kirschblütengemeinschaft (
https://www.facebook.com/Kirschbluetengemeinschaft).
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen, Basic Editions, 2005
Der durchschnittliche, mittelmässige Geist denkt nicht global, er denkt selbstbezogen, selbstsüch-tig. Im besten Fall ist er identifiziert mit einem Stammesdenken, einer Nationalität, einer Familie, für die er denkt. Darin ist Konflikt, endloser Krieg, wir gegen euch, Gewalt, im besten Fall Mut, ganz bestimmt Missmut, aber nie und nimmer Sanftmut und Gleichmut. Und schon gar nicht Demut.
Globales Denken ist sanftmütig und demütig. Es steht allem in einer Innigkeit und Anteilnahme gegenüber, kommt aus dem tiefen Verstehen, dass ich und die Welt eins sind, dass du und ich nicht getrennt sein können, dass mein Glück dein Glück und dein Unglück mein Unglück ist, dass wir unzertrennlich sind. Deswegen äussert es sich sanftmütig und gleichmütig. Ein Geist, der aus dem Innersten lebt, kennt viel Sanftheit. Er ist sanft mit dir, weil er sich Sanftheit auch von dir wünscht. Er ist nachsichtig, immer zur Aussöhnung bereit, friedliebend.
S. 56
Selbstlosigkeit
Wenn Beharrlichkeit die Kraft ist, welche uns schliesslich trotz allen Scheiterns das Ziel auf dem Weg der Selbsterkenntnis erreichen lässt, was ist dann das Ziel? Gibt es überhaupt ein Ziel? Gibt es nicht nur den Weg, das Sich-Interessieren für Wirklichkeit, für Wahrheit? Gibt es darin ein Ankommen?
Selbsterkenntnis hat mit dem Erschliessen, mit dem Bewusstmachen der Machenschaften des Selbst, des Ich, des Ego in einem drin zu tun. Man lernt, den Schlichen und Ränken der Selbstbe-zogenheit nachzugehen bis in die hintersten Winkel und sie aufzudecken. Die Wege der Selbst-sucht werden einem allmählich völlig offenbar. Sie sind nicht mehr versteckt, nicht mehr verbor-gen, wirken nicht länger aus dem Unbewussten. Durch diese Bewusstmachung findet eine Läute-rung, eine Veränderung, eine tiefe, innere Wandlung statt. Das Selbst verliert die Macht über ei-nen. Man beginnt eine Alternative zu sehen zu den leidvollen, konflikthaften Bestrebungen des Ich.
Das Ego scheut das Licht. Dem Strahl des Bewusstseins hält es nicht endlos stand. Wenn ich ein-mal eine Haltung, eine Einstellung, eine Handlungsweise in mir als falsch, als egoistisch, als nicht das Ganze berücksichtigend erfasst habe, fällt es mir schwer, sie weiterhin vor mir selbst und an-deren zu rechtfertigen. Sie verliert ihre Kraft, sie verliert ihre Rechtschaffenheit. Ich verstricke mich in Schuldgefühlen, wenn ich daran festhalte, Schuldgefühlen vor dem Allerinnersten in mir, das durch die Bewusstwerdung in mir spürbar wird. Etwas in uns weiss, dass es dieses Allerinners-te gibt und dass es falsch ist, sich seinen Forderungen zu verweigern.
Der Prozess der Selbsterkenntnis, ernsthaft betrieben, führt unweigerlich zur Auflösung des Selbst hin. Diese Bastion der Abwehr beginnt zu zerbröckeln. Das, was dabei herausgeschält wird, ist das Allerinnerste. Und all die Qualitäten dieses Allerinnersten sind zusammengefasst im Zu-stand der Selbstlosigkeit, einem unschuldigen, selbstvergessenen Zustand, in dem man es aufge-geben hat, ein Zentrum zu haben, ein Zentrum zu besitzen, irgendetwas zu besitzen, in dem man verloren ist ans Ganze. Man erreicht diesen Zustand einerseits durch Gnade. Es geschieht einfach, man wird eingeladen. Aber dies geschieht auf der Grundlage eines ernsthaften Suchens, das vo-rausgegangen ist, an dem man schliesslich verzweifelt ist, wodurch man dann durchbrechen konn-te, durch die Mauer der Selbstbezogenheit durchbrechen konnte.
Andererseits gibt es aber auch gewisse Stellen oder Abschnitte auf dem Weg, an denen es unsere Entscheidung braucht. Lange ringt man manchmal, jahrelang vielleicht, um diese Entschiedenheit. Vielleicht ist man jahrelang unterwegs auf dem Weg der Selbsterkenntnis, scheint dieser Lebens-weise vollkommen verpflichtet, ein ernsthafter Sucher zu sein, und trotzdem trägt man ein grund-sätzliches Nein in sich. Zuerst ist es einem gar nicht bewusst. Mit der Zeit wird es dann schliess-lich deutlicher: Ich will gar nicht selbstlos sein. Ich will gar nicht Liebe sein. Ich will gar nicht teilen, mich gar nicht einfügen in ein Feld von liebendem, konfliktlosem Bezogensein, in ein Feld von offenen Beziehungen, in denen jeder frei sein darf, in denen ich auf alle Besitzrechte verzich-te, aufhöre damit, irgendetwas kontrollieren zu wollen, aufhöre damit, meine egoistischen An-sprüche in den Mittelpunkt zu stellen. Ich will, dass alles nach meinen Vorstellungen geht, dass ich mein Vergnügen gesichert bekomme, dass meine Rechte unangetastet bleiben. Ich. Ich. Ich. Ich will. Daran halte ich fest.
Allmählich dämmert mir diese Tatsache. An diesem Punkt, oder vielmehr sind es mehrere, an die ich auf dem Weg der Selbsterkenntnis immer wieder geführt werde, die immer noch ein tieferes Erkennen dieser Fakten über mich bringen, braucht es eine Entscheidung. Bevor ich mich nicht durchgerungen habe — und das braucht manchmal sehr lange Zeit — geht es nicht weiter, stag-niere ich, kann die Gnade nicht zu mir kommen. Ich gebe meine Rechte, auf die ich immer ge-pocht habe, preis. Das kommt zuerst. Und an jeder solchen Wegbiegung kann ich auch vom Weg abkommen, definitiv scheitern, mich neu verirren, weil ich schliesslich an meinem Wollen bezie-hungsweise Nicht-Wollen festhalte, nicht bereit bin, es zu lassen.
Ein definitives Ankommen, ein endgültiges Ziel gibt es auf dem Weg der Selbsterkenntnis tatsäch-lich nicht. Er ist ein Weg ohne Ende in unergründliche Tiefen, die immer noch gründlicher ausge-lotet werden können. Und doch gibt es Stationen, die erreicht werden können, wo etwas gewis-sermassen endgültig in einem etabliert werden kann, das man dann nicht mehr verlieren wird. Es sind Stationen der wachsenden Aufmerksamkeit, der wachsenden Bewusstheit, des Erwachens. Und es sind Schritte in eine zunehmende Selbstlosigkeit hinein. Das Ziel ist Selbstlosigkeit, die Überwindung des Selbst, dadurch, dass man es erkennt. Zu sehen ist genug, hat Krishnamurti immer wieder betont. Es sind Entscheidungsschritte auch, in denen man bewusst und sich über-windend auf die Wege und die Rechte des Selbst verzichtet aus Einsicht, aus dem Drang heraus, noch tiefer ins Allerinnerste hinein aufgenommen zu werden, was dann auch geschieht als Akt der Gnade.
Ohne Selbst zu sein ist ein Zustand intensiver, energetischer Zentrierung. Man ist zentriert in Bezug auf das Ganze, geöffnet für das Ganze, daran ausgerichtet im Becken, im Bauch, im Herzen und im Kopf. Ein unmittelbares Bezogensein auf dieses Ganze, eine direkte Verbindung, ein Einssein im gemeinsamen Herzen, im einen Geist, der einen Intelligenz. Man ist völlig zentriert; aber man ist ohne Zentrum. Der Zustand der Selbstbezogenheit ist gerade konträr dazu. Darin ist man nicht zentriert, aber man hat ein Zentrum. Man ist darin herausgefallen aus der Verbindung mit dem Ganzen, die Zentrierung darin ist mangelhaft, unvollständig. Und als Ersatz für diese Ganzheit bildet man ein eigenes Zentrum, das um sich selbst kreist, nur auf sich selbst bezogen ist, kein Auge und keinen Sinn für das Ganze hat. Ähnlich wie ein Staatsmann, der in die eigene Kasse wirtschaftet, das Vermögen seines Landes auf Schweizerkonten parkiert für die Zeit nach seinem Sturz und sich nicht um sein Volk kümmert.
Ohne Selbst zu sein ist ein Zustand des Verlorenseins. Aber das Verlorensein hat darin seinen Schrecken verloren. Das Verlorensein ans Ganze ist tatsächlich das Ankommen darin, wandelt sich in ein Aufgehobensein. Selbsterkenntnis beginnt damit, dass man sein Verlorensein erkennt, sein Verlorensein in den Wirrnissen der Selbstbezogenheit. Selbsterkenntnis führt zu einem neuen Verlorensein, zum Verlorensein ans Ganze. Man ist darin der Selbstbezogenheit verloren gegan-gen und wurde wieder aufgenommen als Akt der Gnade ins Ganze, in den Zustand der Selbstlo-sigkeit. In diesem Zustand hat alle Zersplitterung ein Ende. Meine Verantwortung, mein Mitge-fühl haben darin immer das Ganze im Auge. Mein Handeln und Wirken sind darin immer aufs Ganze bezogen. Wir ist wichtiger geworden als Ich. Ich bin erwacht für ein globales Denken. Al-les Stammesdenken, alles Denken in Kategorien von Nationalität, Rasse oder irgendwelchen Zu-gehörigkeiten ist von mir abgefallen. Ich sehe ununterbrochen die Einfachheit für die Lösung aller menschlichen Probleme. Ich sehe die Möglichkeit der Liebe. Ich bin die Liebe. Ich wirke dafür, dass sie in uns allen die Führung übernehmen könnte, und ich bleibe gelassen mit der Tatsache, dass diese Lösung niemand will.
S. 61
Selbstbilder sind die Bastion, hinter der sich das Ich verschanzt. Die Selbstbezogenheit ist eine tückische Angelegenheit. Sie versteckt sich gekonnt hinter altruistischen Idealen. Sie findet jeden Trick, um sich selbst als Selbstlosigkeit zu verkaufen. Es braucht eine grosse Ernsthaftigkeit, eine enorme Redlichkeit, um diese Mauer der Selbstbilder zu zerbrechen.
Die grösste Täuschung, welcher der Geist im Allgemeinen vielleicht unterliegt, ist die Illusion der Trennung, die Einbildung, es gäbe ein Ich, das vom Rest der Welt, vom Rest der Menschheit, vom Rest des Seins überhaupt getrennt existiere. Das Ich verteidigt seine Existenz, die in der Tiefe eine Illusion ist, mit allen Mitteln. Es will nicht sterben. Es will nicht nichts sein. Es will sich den Fak-ten, dass es ein Luftschloss, ein Lügengebäude, eine Fata-Morgana ist, nicht beugen. Es bauscht nötigenfalls die wildesten Bilder der Selbstlosigkeit auf, um seine Ich-Bezogenheit zu übertün-chen. Es gibt vor, sich einem so genannten grossen Selbst ergeben zu haben, wobei dieses grosse Selbst natürlich nichts anderes ist als ein besonders fettes Ego. Es baut sich eine Fassade von Alt-ruismus auf, von Mitgefühl und Anteilnahme, welche seine tatsächlichen, eigensüchtigen Motive verschleiern soll. Nur absolute Ehrlichkeit wird diese Falschheit durchdringen, nur ein redliches Zweifeln und In-Frage-Stellen wird diese Mauer der Verlogenheit schliesslich bezwingen.
Die falschen Selbstbilder müssen fallen, damit sich Wirklichkeit zeigen kann. Alle Selbstbilder müssen fallen. Denn alle Selbstbilder sind falsch. Es gibt keine wahren Selbstbilder. Wie sollte ein Bild von dem wirklich sein, was gar nicht existent ist? Wozu würde man überhaupt ein Bild von etwas brauchen, das es gar nicht gibt?
Alle Bilder über sich selbst zeigen an, dass es da ein Selbst gibt, das sein Überleben verteidigt. Wirklichkeit lebt ohne Bild, ist ein Zustand der Leere, der reinen, simplen Wahrnehmung. Zweifel schliesst das Tor zu ihm auf.
S. 138
Meditation kommt aus dem Nichts. Man kann sie nicht rufen, nicht einladen. Wenn sie kommt, ist sie ein Segen, empfinden wir sie immer als ein Gnadengeschenk. Keiner wird diesem Gnadenzu-stand begegnen, der ein Suchender ist, der ihn sich herbeisehnt, ihn sich verdienen will. Der Geist muss völlig leer geworden sein von aller Ambition, von allem Suchen, Hoffen, Sehnen, von allem Denken in Kategorien von Verdienst, von Bestrafung und Belohnung, bevor sie sein kann. Der Geist muss leer sein, leer von der Selbstbezogenheit, leer vom Ich. Dann ist sie da. Dann ist dieser Zustand der Meditation da. Er ist das, was übrigbleibt. Er ist der universelle Geist im Zustand der Leere und Unschuld.
S. 134
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Kriegerschule / Die Kriegertexte, Sachbuch Spiritualität, Basic Editions, 2010
Ein Krieger ist ganz und gar auf sich selbst bezogen, aber nicht auf eine eigensüchtige Weise, sondern im Sinne einer totalen und kontinuierlichen Prüfung seines Selbst. Alles beginnt und endet mit ihm selbst. Da er seine eigene Wichtigkeit verloren hat, wird diese Art der Selbstbezo-genheit abstrakt und unpersönlich.
S. 64
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Erneuerung von uns selbst und unserer Welt, Briefe an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis, Basic Editions, 2018
Ehrliche, exakte Selbsterkenntnis zeigt uns schliesslich, dass alle Selbstbezogenheit und Ich-Sucht die Einheit zerstören, die Ganzheit und das Heilige unseres Einsseins missachten und damit für alle Trennung und Zersplitterung, in der sich die Welt der Menschen wiederfindet, verantwortlich sind. Die Wurzel dieser Trennung ist das Selbstmitleid, in dem wir Menschen uns gerne gehen lassen. Die Krieger nennen es „die schier unüberwindbare Nachlässigkeit der menschlichen Kon-dition“. Selbstmitleid trennt uns, lässt uns zurück als etwas Abgetrenntes, etwas Verlassenes und Ausgeschlossenes. Aus diesem Ausgeschlossensein heraus, das wir nicht lieben, versuchen wir dann die Verbindung wieder herzustellen, indem wir uns mit tausenderlei Dingen identifizieren, mit Besitz und einander besitzen vor allem, was zusätzliche Spaltung und damit einhergehenden Schmerz erzeugt. Krishnamurti nennt das Selbstmitleid die Finsternis der Unehrlichkeit.
S. 130
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Stell dir vor, du wärst ein Stück Natur, Von der Lust am Verbotenen, Basic Editions 1995
Unsere innere, psychologische Struktur, die Egostruktur, welche darauf angelegt ist, selbstsüchtig die persönliche Sicherheit zu verteidigen und für sich selbst zu sammeln, hat ausgedient. Die Be-gleiterscheinungen dieser Selbstbezogenheit wie Gier, Neid, Ehrgeiz und Erfolgsstreben sind in unserer Welt zur Ursache allen Leids und Un¬glücks geworden. Dem heutigen Bewusstseinsstand des Menschen und auch den Problemen, die auf unserem Planeten anstehen, ist diese Haltung nicht mehr angemessen. Sie hilft nicht mehr der Selbsterhaltung und -entfaltung, wie sie das viel-leicht einmal getan hat, sondern wirkt zerstörerisch. Ein grosser Paradigmawechsel wird fällig und kündigt sich auch allenthalben an. Dies verursacht aber grosse Ängste in uns Menschen, da damit eine grosse Verunsicherung und ein völliger Umsturz aller inneren und äussern Strukturen ein-herge¬hen wird. Die Abwehr dieser Ängste führt zu Gewalt und Krieg. Eine tiefe Auseinanderset-zung mit einer ganzen Reihe von Tabus, die bis jetzt ins Unbewusste verdrängt waren, wird not-wendig. Das Gesetz des Bewahrens muss dem Gesetz des Wandels mehr Raum geben; der Tod muss endlich seinen Platz in unserem Bewusstsein bekom¬men; im Bereich der Sexualität wird eine wirkliche Revolution, wel¬che eine andere Art von Gemeinschaft als die herkömmliche Klein-familie ermöglichen wird, unumgänglich sein; der Verstand, der sich einige Jahrhunderte lang zum alleinigen Herrscher aufschwingen konnte, wird sich wieder dem Herzen unterordnen und dem Ganzen dienen müssen; eine neue innere Struktur wird entstehen, welche auf Liebe und Zunei-gung statt auf Ehrgeiz und Selbstsucht basiert.
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Wahrheit, Sachbuch Philosophie, Basic Editions, 2010
Krishnamurti sagt uns: Liebe hat kein Motiv. Das gute Motiv für irgendeine Handlung besteht also darin, dass gar kein Motiv vorhanden ist, dass wir keinen Zweck damit verfolgen, keine Hin-tergedanken haben, sondern lediglich unserem unmittelbaren Impuls folgen. Wenn wir herausfin-den wollen, ob wir das Gute tun und deshalb unsere Motive überprüfen wollen, gilt es also darauf zu schauen, ob wir überhaupt Motive haben. Wenn wir solche in uns finden, ist dies ein Zeichen, dass wir nicht für das Gute, sondern für eine egoistische Absicht unterwegs sind. Alle Motive sind selbstsüchtige Motive. Der wahrhaftige Impuls kommt aus der Leere, verbindet sich „selbstlos“ und unschuldig mit der universellen Absicht dieser Leere.
S. 180
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Zusammen leben - Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung, Basic Editions, 2013
Um das Wir der Gemeinschaft – und letztlich der Menschheit – zum Blühen zu bringen, braucht es Selbstlosigkeit, erwachsene Menschen, die ihr Ich, ihr Ego, ihr Selbst, so weit zurückstellen können, dass das Gemeinsame an Stelle des egoistischen, malignen Individualismus erblühen kann. Das Ich wird in diesem Selbsterkenntnisprozess nicht abgeschafft, sondern letztlich gestärkt und geläutert. Es wird zum Instrument, das eingesetzt werden kann, wo immer es gebraucht wird, und ausgeschaltet, wo es nicht dienlich ist. Es beinhaltet nicht länger diesen unbewussten Zwang, des-sen Ausagierungsmotorik man willenlos ausgeliefert ist, sondern ist ein Werkzeug, das dem Gan-zen dient. Die Integration von Ohnmacht und Ausgeliefertsein ist ein ganz wichtiger Schritt auf diesem Weg.
S. 170
Freiheit, Abmachung, Verbindlichkeit. Unablässig beschäftigt sich der Geist des Kriegers im Zusammenleben mit diesen Dingen. Frei geworden vom Drehen um ein illusionäres Selbst, fähig dadurch zur echten Gemeinschaft, erfüllen ihn diese Fragen, welche die Kriegerhorde, der er sich angeschlossen und verpflichtet hat, weiterbringen können. Wie Gemeinschaft wachsen und blühen kann, so dass sie zu einem Instrument werden muss, das schliesslich die ganze Welt verändern wird, ist sein Anliegen. Den Montagepunkt der Wahrnehmung für die ganze Menschheit schliess-lich vom Punkt der Selbstbezogenheit auf den Punkt der Selbstlosigkeit zu verschieben, ist ein weiteres grosses Ziel, auf das er seine Absicht richtet.
S. 264
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Durchdrungen sein vom Du, Von der Praxis der Liebe, Protokol-le einer Gemeinschaft, ein ganz persönliches und ein gemeinsames Buch, Basic Editions, 2004
Den Rat, den ich […] geben kann […], ist ganz persönlich zu beginnen, dass du andere an deinem Besitz teilhaben lässt, dass du selbstlos Gemeinsames zu tragen beginnst, für nichts und wieder nichts. Und dabei wirst du auch ausgenutzt werden, das muss schon auch Platz haben, obwohl man nicht ein Tölpel ist und die Dinge und ihre Entwicklung gut im Auge und auch unter Kon-trolle behält. Aber es ist etwas vom Schönsten, etwas, was einem ganz besonders das Gefühl von Reichtum gibt, es sich leisten zu können, dass andere von einem profitieren.
S. 419
Aus: Samuel Widmer Nicolet und Mitautoren: Echte Psychotherapie, Eine Psychotherapie für eine neue Zeit, Ein Lehrbuch, Anleitung zur Selbsterkenntnis als therapeutischer Prozess, Basic Editions, 2013
Zum Weg des Kriegers gehört es (nach Carlos Castanedas Don Juan) dazu, die vier Feinde des Menschen zu überwinden. Diese vier Feinde, die Angst, die Klarheit, die Macht und das Alter, sind sozusagen auch unterschiedliche Behandlungsschritte in der Therapie und bergen damit auch Behandlungsprobleme in sich. Angst lässt sich nur überwinden, wenn man sich ihr ehrlich stellt. Der Klient ist, wenn er sich daran macht, den ersten Feind zu überwinden, überwiegend in Ver-wirrung, er hat kein klares Konzept. Wenn er der Angst ausweicht, hat er keine Chance, den Weg weiterzugehen. Die Überwindung der Angst aber führt schliesslich in die Klarheit.
Die Klarheit ist verführerisch, der Suchende (Klient) wähnt sich als angekommen. Zu sehen gilt es, dass die Klarheit nur die Konzepte des Denkens erfasst. Hilfreich, wie sie erst einmal ist, birgt sie in sich eine grosse Gefahr. Sie dringt nicht ein in das Wesen der Dinge, ist nicht verbunden mit dem alles durchdringenden Geist. Daher ist sie schliesslich loszulassen, zu negieren, um ins Nicht-Wissen einzutauchen. Einzutauchen, in das Unergründliche, in das, was immer ist, in das Alpha und Omega, in dasjenige ohne Anfang und Ende. In den einen Geist eben. Ist der Suchende so weit vorangeschritten, wartet der dritte Feind auf ihn. Die Macht.
Falls er nicht erkennt, dass die Kraft, die ihn durchströmt, nicht seine Kraft ist, er nur ein Werk-zeug dieser Kraft ist, scheitert er. Erst wenn er auch die Macht negiert, einsieht, dass es ein Fehler ist, sie selbstbezogen einzusetzen, wird er über sie hinausgelangen. Selbstlosigkeit ist gefunden. Der Adept hat verstanden, dass nicht er das Sagen hat, sondern die Kraft, die in ihm wohnt. Er ist erfüllt von Ehrfurcht, Liebe und Demut und sieht in allem das Wunder dieser Welt.
S. 255
1)
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Der Gesang des Begnadeten/ von der unendlichen Liebe (The Song of the Blessed One/ about love infinite), Samuel-Shri-Prem-Avinash-Gita, Meditationen, Basic Editions, 2017, S. 150