Newsletter 4/2023 - Über das Alter und das Älterwerden
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August 2023
I
mmer, wenn du fort bist,
Erwacht in mir der Dichter,
Und das, was dich vermisst,
Erahnt all die Gesichter
Des stilldüsteren Falters.
Blickend von der Schulter dein
Spricht er von des Alters
Bald uns ereilender Pein(1)
Middle age is when they keep asking you to do more and more,
and you’re not yet decrepit enough to turn them down.
T.S. Elliott
Liebe Leser
Ob ich mit 53 über das Alter schreiben könne, fragte mich vor ein paar Wochen ein 76-Jähriger Freund. Wahrscheinlich nicht, aber es sind ja eh Samuels Texte. Obwohl ich finde, wie Samuel auch mal beschrieben hat, dass man ab 50 plötzlich das Älterwerden viel deutlicher spürt: Seh- und Hörvermögen lassen nach, das Gehirn beginnt Löcher zu haben (und nicht nur wegen Long Covid), die Gelenke halten einen nicht mehr so wie früher, bei der Frau beginnen vielleicht auch noch die Hormone zu spinnen…. Ein ziemlich abruptes «Erwachen» im Altwerden.
Dies ist allerdings nicht der Grund, wieso ich über das Älterwerden einen Newsletter zusammenstellen wollte.
Das Thema ist mir schon vor mehr als einem halben Jahr begegnet, in einer Zeit, in der überall davon die Rede
war, sei es in der Gemeinschaft, an Seminaren oder Quartiertreffen, als ob das Thema alle im In- und
Ausland angesteckt hätte. Die Fragen des würdigen Alterns, der drohenden Langeweile, der abnehmenden
sexuellen Energie, von Tantra im Alter, von dem Den-Jungen-Platz-Machen… waren sehr präsent, als
richtige und gesunde Auseinandersetzungen eines ernsthaften Kriegers.
Danièle hatte im Februar bei einer Meditation anlässlich des Erneuerungstreffens des «deutschen» Tantrameisterkurses, bei
dem man sich eben auch mit dem Thema auseinandergesetzt hatte, eine schöne Zusammenfassung gemacht:
Das mit dem würdig Altern hängt sehr von der Feigheit ab. Es ist nichts Nicht-Schönes an einer sterbenden Rose, Ich finde eine verblühende Rose genau so schön wie eine aufblühende Rose.
Wenn man sich nicht getraut, diejenige zu sein, die man eigentlich ist oder wenn man sich nicht getraut, das zu leben, was man möchte oder müsste, oder gemusst hätte, ist dann altern bitter, und eben mit Langeweile verbunden. Es ist natürlich eine Verlockung mit der Bequemlichkeit, mit dem Kein-Risiko-mehr-eingehen-Wollen, mit der Sicherheit. Wenn man ganz wahr war und ist, dann hat es auch etwas sehr Schönes, dass man nichts mehr muss, was man nicht ist, dass das Sein wichtiger wird als das Tun. Dass man auf gewissen Ebenen und in gewissen Beziehungen einfach definitiv angekommen ist. Und nicht mehr meint, dass man unter unendlichen Möglichkeiten wählen können muss. Aber wenn das, worin man sich niedergelassen hat, nicht etwas ganz Lebendiges und immer wieder Neues und etwas ganz Sinnliches-Tantrisches ist, dann geht mit Älterwerden vielleicht schon ein Gefühl von Scheitern einher. Das ist aber nicht wegen des Alters, das ist wegen mir!
(2)
Das war eben, was mich beunruhigt hatte: die häufigen Aussagen wie «ich bin zu alt für XY», wobei XY ziemlich alles enthalten hatten. Ich hatte irgendwann, auch etwas frustriert, den Eindruck bekommen, dass das Alter als Vorwand für das eigene Aufgeben, einen Krieger sein zu wollen, oder eben für das eigene Scheitern benutzt wurde. Ich habe mich im Stich gelassen gefühlt, weil ich auf meinem persönlichen Kriegerweg auf Gegenüber (jedes Alters!) angewiesen bin.
Auch hatte mich innerhalb der Gemeinschaft eine zunehmende «Generationentrennung» (die Alten, die Jungen, die jungen Erwachsene, die «midlife crisler») beschäftigt. Es ist ein solches Glück innerhalb eines so bunten Haufens von Menschen zu leben, wo man von der Erfahrung, Weisheit, Unschuld und vielleicht sogar auch von der Verrücktheit der anderen profitieren kann. Wo jeder seine eigenen (auch alterspezifischen Themen) mitbringt, aber wo alle schlussendlich für etwas Grösseres unterwegs sind, was altersunabhängig ist.
Also hier unten Texte für jede Generation, zur «Vorsorge» oder zur Wiederaufmunterung.
Einen lieben sommerlichen Gruss
Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi
Neu informieren wir Interessierte 1-2 jährlich per E-Mail über unser Seminarangebot. Ihr könnt euch hier eintragen:
https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
Der erste Newsletter von Juni 2023 findet ihr
hier.
Die Programmübersicht mit den Angeboten bis Ende 2023 findet ihr jeweils hier:
https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
Bevorstehende Termine des Hofs zur Kirschblüte
- Im September gibt es das zweite Rendezvous des Jahres mit dem Kleingruppenseminar .
- Ebenfalls im September findet das Seminar «Das Allerinnerste – Vom Duft des Ankommens» statt, zu Thema «Unausweichlichkeit/Endgültigkeit».
- Im November 2023 treffen sich die Krieger und Kriegerinnen zum dritten Mal im Seminar «Der Kriegertrupp III (über das erwachte Herz, das
Gehirn als Sinnesorgan, Meditation und das Spirituelle Träumen)».
- Im April 2024 findet wieder aufgrund grosser Nachfrage ein Seminar zum Thema Zärtlichkeit.
- In Kolumbien werden wir wieder im Oktober 2024 sein, in Indien wieder im Dezember 2024, in der Wüste im Frühling 2025.
Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (
https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden.
Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis.
Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (
https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft
(
https://gemeinschaft-kirschbluete.ch) oder auf dem Facebook-Kanal der Kirschblütengemeinschaft (
https://www.facebook.com/Kirschbluetengemeinschaft).
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Weg mit Herz,- Die Essenz aus der Lehre des Don Juan/ Eine Würdigung des Werkes von Carlos Castaneda, Sachbuch Psychologie, Nachtschatten-Verlag, 2002
"Ein Mensch hat vier natürliche Feinde: Angst, Klarheit, Macht und das Alter", sagt Don Juan. "Angst, Klarheit und Macht können überwunden werden, aber nicht das Alter. Seine Auswirkungen können hinausgeschoben, aber es kann nie wirklich überwunden werden."
S. 27
Für den gewöhnlichen Menschen ist die Welt kein Geheimnis. Wenn er alt wird, ist er überzeugt, dass es nichts mehr gibt, wofür er leben könnte. Ein alter Mensch hat die Welt nicht ausgeschöpft. Er hat nur ausgeschöpft, was die Leute normalerweise tun. Aber in seiner dummen Verblendung glaubt er, dass die Welt kein Wunder mehr für ihn bereithalte. Was für ein verrückter Preis für unsere Schilde. Ein Krieger ist sich dieser Verirrung bewusst und lernt, die Dinge richtig zu sehen.
S. 62
Aus: Samuel Widmer Nicolet (zusammen mit Danièle Nicolet): Heute wurde uns eine Tochter geboren / Ein Lebensjahr – ein reiches Jahr – ein Jahr der Wandlung / Von Geld, Macht, Besitz und Gerechtigkeit, Basic Editions, 2005
Wenn man jung ist, ist man vor allem Fleisch; je älter man wird, desto mehr wird man zum Knochen. Man fühlt sich wie ein Knochen. Und man findet diese Art, sich zu fühlen, nicht mehr so sehr als unangenehm, wie in jungen Jahren. Ein Knochen ist hart und eng, aber ausdauernd und anspruchslos. Fleisch hingegen ist anfällig, wehleidig und weich. Dafür kann es Lust empfinden, Sehnsucht und Verschmelzung. Trotzdem ist es gut, ein alter Knochen zu sein. Im Gegenteil, je früher und vollständiger man "verknöchert", desto besser. Denn ein Knochen ist still und beständig, im Gegensatz zum Fleisch, das voller Gedanken und Unruhe ist. Ein Knochen, der seine eigene Enge und Härte ganz genommen hat, ist nicht länger mit ihr identifiziert. Er kümmert sich nicht darum. Darum lebt er in und mit der Weite und Stille des Ganzen, die ihn umgeben. Allerdings ist es nicht dasselbe, ein Knochen zu sein im Sinne des Akzeptierens von dem, was ist, des materiellen Prozesses, oder zu verknöchern, weil man sich dem Lebendigen, dem Fleisch, nie ganz geöffnet hat. Das Alter raubt einem zunehmend die Beweglichkeit, zieht einen hinunter und hinein in die Enge, ins ganz essentiell Wesentliche, ins Einfache. Ist man gereift zum Knochen, heisst das, dass das Fleisch mit seinen Beschwerden von einem abfällt und man das Karge, das Einfache, das Nüchterne immer mehr zu lieben versteht. Ist man aber vertrocknet zum Knochen, bleibt das Verweste des nicht gelebten Fleisches an einem hängen. Man wird nicht frei von seinen unruhigen Gedanken, von seinem Suchen und seinen Träumen. Dann wird der Knochen nicht zum Kristall, der sich dem Unermesslichen öffnet und ihm widersteht, sondern zum Gefängnis, in dem er verrottet und man senil wird. Diese Art der Verknöcherung – das ungelebte Leben, das sich wieder aus einem zurückzieht – hat viel zu tun mit Geiz, dem Geiz, der das Leben verweigert hat. Solange man Fleisch war, trotzte man gegen sein Schicksal und seine Berufung, verausgabte seine Energie verschwenderisch und rücksichtslos. Aber von einem grossen Trotz, der eine grosse Kraft der Befreiung hätte werden können, bleibt im Alter nur der Geiz, dieses Altersgeschwür, das nicht sterben kann, weil es sich nicht zu leben getraute und das die Erde bedeckt mit seiner Bosheit, Habgier und Mitleidlosigkeit.
S. 100
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Wer Heilt, hat Recht, Die Art des Kriegers, Zusammenfassende Gedanken zum Lebenswerk, Basic Editions, 2010
Altersmedizin / Alterspsycholyse
[…] Mit dem Älterwerden treten die speziellen Aspekte des Alters grundsätzlich, aber auch speziell bezüglich unserer Arbeit, vor allem der psycholytischen, in den Vordergrund und werden zu einem besonderen Zweig, den man auch noch zu berücksichtigen hat, um die Ganzheit des Lebens richtig zu würdigen. Natürlich kommt man dabei mit dem vierten grossen Tabu der Menschen (neben Bewusstseinstabu, Inzesttabu und Geldtabu) in Berührung, mit dem Tabu um Tod und Sterben. Grundsätzlich kann man die Weisheit des Alters wohl so zusammenfassen: Worauf man verzichtet, macht vor allem das gute Leben, und weniger, was man sich nimmt.
Gleichgewicht, Balance wird mit dem Älter-Werden viel mehr ein erstrebenswerteres Ziel als Ekstase: Der alternde Krieger erkennt immer mehr Gleichgewicht, den Zustand vollkommenen Ausgeglichenseins in jeder Hinsicht, als die wirkliche Ekstase und nicht irgendwelche auszehrenden und erschöpfenden Gipfelerlebnisse. Die Suche nach Erfahrung hat er längst als Illusion eines unreifen Geistes aufgegeben. Das stille Erleben jedes einzelnen Augenblicks, ohne nach irgend¬etwas zu suchen, enthält für ihn die wahre Magie des Lebens.
Im Umgang mit den psycholytischen Hilfsmitteln wird ihn natürlich ein Leben lang die Frage beschäftigen, wie weit die allgegenwärtige Negativpropaganda gegen die bewusstseinsfördernden Substanzen eine Berechtigung hat. Inwiefern sind sie tatsächlich schädlich? Hat man einen Preis zu bezahlen dafür, dass man diese Hilfen in Anspruch nimmt? Wird im Alter die Rechnung dafür serviert, dass man den Gipfel nicht zu Fuss besteigen, sondern die Gondel in Anspruch nehmen wollte? Insgesamt gilt wohl, was Alan Watts in dieser Sache laut Timothy Leary gesagt haben soll:
"…als Bedrohung für die geistige Gesundheit können [die Drogen Psilocybin und LSD] kaum mit dem täglichen Geschwätz konkurrieren, das durch Rundfunk, Fernsehen und Zeitung auf unsere Gedanken einstürmt."
Alan Watts (zitiert nach Leary, 1970)
Eine definitive Antwort auf solche Fragen wird wohl nur das einzelne, individuelle Leben geben können. Vor allem, weil die Hauptgefahren des Gebrauches psycholytischer Medikamente nicht im Bereich physischer Schädigung liegen, sondern sich als Folge fehlender Integration der gehabten Einsichten im psychologischen Bereich und in der Stabilität eines Lebenswerkes zeigen. Psycholytische Mittel bringen Einsicht. Diese Einsicht muss umgesetzt werden.
Wer sich nur am schönen Gefühl, das mit Einsichtnehmen einhergeht, erfreuen, die Integrations-arbeit danach aber nicht leisten will, wird bald merken, dass die Substanzen ihm keine neuen Einsichten, nur noch seichte Entspannung bringen. Sofern er es dann überhaupt realisiert und nicht übersieht, dass die Magie längst wieder gegangen ist. Wie in Beziehungsgeschichten gilt auch in der Beziehung zu den psycholytischen Substanzen: Was nicht eine Liebesgeschichte ist und zur Vergnügenstour verkommt, endet bald im Sumpf der Oberflächlichkeit und Konflikthaftigkeit. Die Einsicht, die wir nicht umsetzen, wird zu einem Gift in uns.
Was wir einmal verstanden haben, aber nicht befolgen, wird sich gegen uns wenden und uns zerstören. Wer Psycholytika benutzt, muss ein Krieger werden, so könnte man es zusammenfassen; wer das nicht leisten will oder die Kraft dazu nicht hat, sollte es lieber lassen. Die Spätfolgen fehlender Integration decken sich weitgehend mit den Spätfolgen des unbewusst geführten Lebens eines Durchschnittsmenschen: allgemeiner körperlicher und geistiger Zerfall, Alzheimer, zuneh¬mende Beschränkung auf die Gefangenschaft im eigenen Ich. Allerdings werden sie ausgeprägter sein oder schwerer zu tragen, da ein doch etwas gewecktes Bewusstsein schwer mit dem Scheitern fertig werden wird.
Neben dieser grundsätzlichen Problematik gibt es aber auch noch ein paar spezielle Punkte, die bezüglich der Alterspsycholyse zu berücksichtigen sind:
Mit einer gewissen Schädigung des Serotoninbaums, wie Gerald Hüther diesen wichtigen Ast in unserem Gehirn und Nervensystem nennt, ist wohl bei exzessivem Gebrauch und vor allem bei den mit dem Amphetamin verwandten Substanzen, als Preis für den Beschleunigungsprozess bei der Bewusstwerdung tatsächlich zu rechnen. Es lohnt sich daher, in jungen Jahren damit zurückhaltend zu sein. Wir haben immer gemahnt, einen vernünftigen, das heisst, therapeutischen Umgang mit diesen Dingen zu suchen und nicht in einen hedonistischen, süchtigen Missbrauch abzurutschen. Wer sich daran hält, muss nicht mit derartigen Schäden rechnen.
Auf den Punkt der zunehmenden Vergesslichkeit bin ich in meinem Vortrag am Ekstase-Kongress in Deutschland […] eingegangen. Nach gründlicher Prüfung dieser Geschichte sind wir der Ansicht, dass zunehmende Einschränkung des Kurzzeitgedächtnisses infolge des Gebrauchs psycholytischer Substanzen eine Folge der fehlenden Integration und nicht der Substanzen ist. Etwas, was ja auch bezüglich des süchtigen Gebrauchs von Haschisch oder Heroin bestens bekannt ist. Die Symptome verschwinden auch nach jahrelangem Missbrauch wieder nach einem konsequenten Entzug mit entsprechender Ausrichtung im Leben.
Eine Frage ist, ob sich die Wirkung der Substanzen in einem alternden Gehirn anders gestaltet, als in einem jugendlichen und wenig entwickelten Gehirn und Bewusstsein. Oder auch, wie sich die Substanzwirkung zeigt in einem bewussteren, durch Selbsterkenntnis geschulten Gehirn im Unterschied zum unbewussten. Offensichtlich ist, dass mit dem Älterwerden sich verhärtende Gehirne höhere Dosierungen benötigen, um überhaupt noch eine Wirkung zu spüren, dass im Bewusstsein gewachsene ältere Menschen aber umgekehrt kleinere Dosen benötigen, um die ursprüngliche Wirkung zu erzielen oder zum Teil die Substanzen gar nicht mehr brauchen oder auch nicht mehr vertragen.
Ob das Risiko von vaskulären Prozessen (Apoplexie, Herzinfarkt) unter psycholytischen Substanzen verstärkt ist, ist schwer zu beurteilen. Als auslösendes Moment können sie allerdings, wie tausend andere Dinge auch, sicher wirksam werden. Eine Schwierigkeit in der praktischen Arbeit besteht darin, einen solchen physischen Prozess während der Durchführung einer Sitzung überhaupt vom psychologischen Geschehen unterscheiden zu können. Sterben kann man überall und in jeder Situation. Die Verantwortung dafür, dass dies auch während einer Sitzung eintreten kann, ist wohl vom Einzelnen zu tragen, sonst darf er sich auf so etwas gar nicht einlassen.
Eine alternative Altersmedizin hat heute sehr viel zu bieten. Für teures Geld, allerdings, kann man sich in vielerlei Hinsicht aufmöbeln lassen. Vitamine, Geschlechts- und andere Hormone, Somatotropin und viele andere Dinge scheinen tatsächlich viele Verbesserungen bringen zu können, so dass der Alterungsprozess leichter ertragen werden kann. Wo die Gefahr lauert, sich der Wirklichkeit des Alterns entziehen zu wollen, was bestimmt nicht hilfreich wäre, und wo eine Hilfe angeboten wird, eine gütige Erleichterung zu finden, muss wohl jeder selbst herausfinden. Auch die offizielle Medizin anerkennt heute die Tatsache, dass das Altern nur zu einem Drittel genetisch bedingt ist, dass die anderen zwei Drittel aber durch Lebensführung und Einstellung beeinflussbar sind.
Auf jeden Fall kann gesagt werden, dass es wohl noch viel in diesem Bereich zu erforschen gibt und dass es sich auch lohnt, diese Forschung anzugehen. Wie immer in den wichtigen Dingen darf man dabei nicht unbedingt mit der Unterstützung des Mainstreams rechnen, sondern es bleibt dem einzelnen Individuum überlassen, die Kräfte der Selbstorganisation, die in seinem Innern schlummern, zu nutzen und das Beste für sich selbst zu finden. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die Arbeit des Zürcher Psychoanalytikers Paul Parin, der darauf hingewiesen hat, dass es eine schlechte Entwicklung ist, dem Alter Drogen wie Morphin, Kokain oder Amphetamine vorzuenthalten, und dass diese ab einem gewissen Alter jedem zugänglich sein sollten. Dies kann ich nur unterstützen. Und die ganzen Psycholytika würde ich dieser Palette natürlich gleich beifügen. Bestimmt hat die Verteufelung von Opium und Kokain den alten Menschen auch einer natürlichen Unterstützung beraubt, die ihm eigentlich zugedacht war und die er jetzt auf andere Weise zu ersetzen versuchen muss. Der exzessive, süchtige Gebrauch von Morphin, Heroin, Kokain und Amphetaminen scheint ja tatsächlich definitiv zerstörerische Folgen für die Psyche und zum Teil auch für den Körper zu haben und keineswegs empfehlenswert zu sein. Ein gemässigter, verantworteter Umgang damit, wie er dem gereiften Alter zugetraut werden könnte, hätte aber dadurch nicht ausgemerzt werden müssen. Wie weit beim rigorosen Verbot dieser billigen und in der Natur vorkommenden Substanzen auch wirtschaftliche Interessen der Mächtigen (z.B. der Pharmaindustrie) eine Rolle spielen, die nicht nur dem alten Menschen, sondern ganz allgemein lieber teuren Ersatz verkaufen, als das Natürliche, Gottgegebene lassen, sei dahingestellt. Auf jeden Fall gibt es zum Beispiel für das Morphin Ersatzsubstanzen, die zehnmal teurer sind und einen schönen, unverfänglichen Namen haben (wie zum Beispiel Oxycontin), von denen der Fachmann aber weiss, dass sie sich nach der Einnahme im Körper sofort zu Morphin umwandeln und eigentlich gar nichts anderes sind. Dienen die Verteufelung und das Verbot des Natürlichen eigentlich den Interessen der Mächtigen?
S. 266
Kriegertext XII
Dass das Alter der grösste und letztlich nicht zu überwindende Feind sein soll, darüber kann ein junger Krieger, der sich gerade auf den Weg macht, nur lachen. Aber das Alter ist tatsächlich gnadenlos. Wenn du dich darin gehen lässt, kommt alles zurück, was du längst überwunden glaubtest. Sogar die Angst. Und wenn du dich in jungen Jahren nicht darauf vorbereitet hast, ein Alter in Würde zu leben, bezahlst du deine Nachlässigkeit nicht nur mit einem frühen Tod, sondern vor allem mit Gebrechlichkeit und Leiden. Natürlich entscheiden noch ganz andere Faktoren über dein Schicksal, über den Zeitpunkt deines Todes oder darüber, ob du deine letzten Jahre auf der Erde mehr vegetierend verbringst oder ein Beispiel für die Weisheit des Alters sein wirst, aber die Art, wie du dein Leben gestaltet hast, ist ein wichtiger Punkt darin, wie das Ergebnis deiner Performance auf der Erde schliesslich aussehen wird. Nach der Art des Kriegers dein Schicksal gestaltet zu haben, gibt dir auf jeden Fall die besten Chancen, aufrecht bis an die Pforte des Todes zu gelangen.
S. 267
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Aus dem innersten Herzen gemeinsamen Seins, Von den Basics bezüglich Gemeinschaftsbildung/ Weitere Briefe an die Gemeinschaft, Basic Editions, 2007
Das Alter ist der vierte Feind, der auf dem Weg des Herzens zu überwinden ist, meint Don Juan. Und er ist der schwierigste von allen, weil wir ihm alle schliesslich unterliegen werden. Wir können ihn lediglich eine Zeit lang abschütteln.
Seit acht Jahren, seit meinem Herzinfarkt mit achtundvierzig Jahren, bin ich nun mit dem Altwerden und Sterben konfrontiert und führe eine intensive innere Auseinandersetzung damit. Diesen interessanten Teil der Selbsterkenntnis habe ich bis jetzt mehr oder weniger für mich behalten, weil ich bisher dachte, dieser Prozess betreffe eigentlich nur mich. Plötzlich habe ich nun Lust gekriegt, euch ein bisschen davon zu erzählen, und zwar vor allem, weil mir in den letzten Monaten bei einigen von euch das Älterwerden und vor allem auch die Ausweichmanöver davor ins Auge springen.
Ein Teil der Überforderung, die mich vor einiger Zeit plötzlich überfallen hatte, hing damit zusammen, dass ich – obwohl im Allgemeinen ein guter Kalkulierer – bezüglich meiner Lebensplanung einen Faktor nicht genügend eingerechnet hatte: Dass man sich allenfalls auch ganz unvermittelt anders fühlen könnte, dass man ganz unerwartet plötzlich alt sein kann. Ich wusste es einfach nicht, habe nicht daran gedacht. Erst vor ein paar Jahren wollte ich noch jede Frau der Gemeinschaft mit einer Liebesnacht beglücken. Nicht eingerechnet hatte ich, dass ich heute, nur wenige Jahre später, nicht mehr die geringste Lust auf solche Experimente verspüre. In den letzten sechs Jahren habe ich nochmals sechs Kinder gezeugt. Nicht erwartet habe ich, dass meine unbeschränkte Tragfähigkeit irgendwann auch nachlassen könnte. Viel habe ich angezettelt in meinem Leben; ein reiches, wunderbares Leben ist es geworden. Nicht vorhergesehen habe ich, dass mir das Zurück¬gezogensein allmählich ein viel grösseres Bedürfnis werden könnte als der Rummel auf dem Marktplatz. Das Alter beginnt früher, als man denkt. Die Kunst besteht darin, es abzuschütteln, nicht es zu verdrängen.
Man hört viel, die Menschheit verdränge Tod und Alter; immer habe ich mich gewundert, dass man aber eigentlich mit jedem ohne Weiteres darüber reden kann. Nun sehe ich, wo das Tabu sitzt. Es liegt nicht darin, dass wir nicht ans Sterben denken – das tun wir vielleicht sogar eher zu viel –, sondern dass unser ganzes Leben so eingerichtet ist, als wäre immer Frühling, als stünden für immer alle Möglichkeiten offen, als gäbe es nur Aufbruch und Entfaltung, nur das Blühen und nicht auch das Welken der Blüte. Schon früh beginnt das Leben, das Schicksal die ersten Türen definitiv hinter einem zuzuschlagen. Ich erinnere mich, dies mit sieben Jahren zum ersten Mal intensiv gespürt zu haben. Damals stellte ich plötzlich fest, dass ich ununterbrochen unbewusst auf etwas wartete und entdeckte schliesslich, dass ich mich danach sehnte, dass der Körper, der Leib sich wieder anfühlen würde wie früher. In den ganz frühen Kindheitsjahren war er sich seiner selbst nicht bewusst gewesen, er war leicht und in gewisser und angenehmerweise abwesend gewesen. Mit Sechs vielleicht hatte es begonnen, dass er schmerzte, dass er ein Bewusstsein von unangenehm, von schwer zu entwickeln begann. Und mit Sieben erkannte ich dann mit Schrecken, dass dies nun immer so bleiben würde. Dass das verlorene Paradies nie mehr wiederkehren würde. Später mit Dreiundzwanzig stellte ich fest, dass ich es nicht mehr vertrug, nächtelang durchzufeiern. Mit Zwanzig war mir dies noch problemlos möglich gewesen. Aber all das war nur Vorgeplänkel, die ersten Zeichen einer Auseinandersetzung, die dann mit Fünfzig mit voller Wucht einsetzte – oder habe ich es da erst realisiert? –: Die Türen fielen reihenweise hinter mir ins Schloss, kein Zurück mehr. Das Schicksal ist geschmiedet. Das, was ich ein Leben lang angestrebt, beabsichtigt habe, materialisiert sich nun definitiv. Aus den tausend Möglichkeiten eines aufbrechenden Lebens war das eine unausweichliche Leben, mein Leben, geworden. Ein schönes Gefühl – und gleichzeitig erschreckend. Kein Ausweg mehr. Kein Entrinnen. Das Unvermeidliche. Sofern die Motive unlauter waren, sofern die Absicht unklar war, sofern man die Entwicklungen schlecht eingeschätzt hat, bezahlt man allenfalls einen hohen Preis. Ich bin das, was ich sein wollte. Und bei jedem in meinem Alter sehe ich es: Das Schicksal ruft zur Ernte. Was man gesät hat, wird einem nun serviert. Ein Leben der Verweigerung – und nun die Isolation und Bitterkeit. Ein Leben des sich Gehenlassens – und nun die Auswüchse davon; Krankheit, Entgleisungen jeder Art. Ein Leben der Liebe – und nun das Getragensein von ihr. Das, was man – möglicherweise insgeheim, im Verborgenen – beabsichtigt hat, kriegt man am Ende. So ist das wunderbare, aber auch erschreckende Gesetz des Alterns. Unausweichlich steuert jeder in das hinein, was er in der Tiefe will. Wer Kontrolle will, ist am Ende kontrolliert, wer Macht will, muss am Ende ihre Last tragen, wer für die Liebe gegangen ist, den umgibt sie schliesslich. Überall kann man es sehen, zwischen Fünfzig und Sechzig zeigt es sich: Das unbewusst Gewählte gewinnt die Oberhand, der Bonus der Jugend, konsequenzfrei die verrücktesten Dinge anzetteln zu können, wird plötzlich zurückgezogen, der Preis für das heimlich oder offensichtlich Gewollte wird nun eingefordert. Viele von euch sind noch nicht Fünfzig. Sie stehen inmitten des Lebensmittags, in der hitzigen Zeit, in der man seine Kräfte entfaltet, seine Macht, sofern man überhaupt für Kraft gegangen ist. Es ist eine kurze Zeit, bevor sich dann die Lebenskräfte bereits wieder zurückzuziehen beginnen. Und die ersten Symptome sind schon bald fühlbar. Bei den Frauen fällt, für alle sichtbar, meist bereits mit Fünfundvierzig eine erste grosse Türe krachend ins Schloss: keine Kinder mehr. Wenn man sich vorher nicht darum gekümmert hat, ist es jetzt zu spät. Und dann beginnt das Ringen, das Feilschen, das Kämpfen. Und man verpasst erneut das wirkliche Leben, das, was gerade ansteht, weil man sich den Gegebenheiten nicht beugen kann. Das Altwerden zum Beispiel. In vielen Bereichen wird es bald sichtbar; das Sich-Aufbäumen, weil man noch leben möchte, was man zur Zeit, da es leben wollte, verweigert hat. Nun kann man nicht sterben, nicht loslassen, sich nicht wandeln. Nicht in Würde alt werden. Wie widerlich, wenn das Alter unentwegt versucht, die Wünsche der Jugend zu befriedigen.
Das Alter kann auch ein letztes Blühen sein. Auch welke Blumen haben ihre Schönheit. Auch ein toter Ast kündet vom Mysterium des Seins. Aber Voraussetzung dazu ist, dass wir zu integrieren verstehen, dass wir ausgeschieden werden, dass wir unnütz werden, dass wir nicht unersetzlich und schliesslich überflüssig sind. Und dies setzt voraus, dass wir die Weichen frühzeitig richtig stellen, dass wir, wenn wir jung sind, richtig leben. Das Leben ist ein Experiment. Wir dürfen zwar auch alles falsch machen. Aber es ist hart, den Preis dafür zu bezahlen, wenn wir alt sind. Darum lohnt es sich, umsichtig zu sein, in allem ein Gleichgewicht zu suchen. Erschreckend war für mich die Aussicht, ich könnte mich definitiv überschätzt haben. Depression und Verbitterung warten am Ende eines fehlgeleiteten Strebens. Inzwischen zeigt es sich, dass der vierte Feind mir nur sein beängstigendes Gesicht gezeigt hat. Er wird mich (noch!) nicht erschlagen. Wie die drei anderen Feinde zuvor – die Angst, die Klarheit, die Macht – hat er sich lediglich als Erstes in bedrohlicher Weise vor mir aufgebaut. Und wie bei allen anderen Feinden war da zuerst die Angst zu unterliegen. Aber ich habe mich auch diesem Feind gestellt, wie allen vorher. Darum begann er auch wieder zurückzuweichen. Es gelte, gewissenhaft anzuwenden, was wir auf dem Weg des Kriegers und des Herzens gelernt haben, meint Don Juan. Aber niederringen werde ich diesen Feind nicht endgültig. Keiner von uns wird ihm entgehen. Alles, was uns letztlich bleibt, ist, ihm in Würde entgegenzuschreiten. Man ist so alt, wie man sich fühlt, hört man oft sagen. Und seit Castaneda und Don Juan ist es definitiv nicht mehr ‚in’, alt zu werden. Wer sich alt fühlt, macht bestimmt einen Fehler, so sieht man es. Aber das Alter abschütteln ist nicht dasselbe, wie es verdrängen. Altwerden ist ein unheimlich mächtiger und letztlich alles verschlingender Prozess. Schwierige Gefühle wollen integriert sein wie Zurückbleiben, Ausgeschiedenwerden, Nicht-mehr-Schritt-halten-Können, Überflüssigsein, Im-Weg-Sein usw.... Ihnen gerade ins Auge zu schauen, sich ihnen zu stellen und ihr Vermögen, jeden von uns schliesslich in die Knie zwingen zu können, zu anerkennen, verhelfen uns dazu, unsere Vitalität auch ins hohe Alter zu retten. Krankheiten wie Alzheimer und Senilität habe ich immer als Ausdruck davon verstanden, dass Menschen nicht fähig waren, sich den Erfordernissen einer neuen Herausforderung anzupassen, dass sie sich gehen lassen und in der Folge schliesslich versanden. Anfänglich glaubte ich, dass ich da ganz allein einen neuen Prozess für mich zu erforschen habe, weil ich den meisten von euch doch ein paar Jahre voraus bin. In letzter Zeit mehren sich aber doch die Zeichen bei vielen von euch, dass das Alter euch auch schon zu zeichnen beginnt. Und dies, obwohl ihr vielleicht gerade im Begriff seid, eine neue Familie, ein neues Geschäft zu gründen oder euch sonst in irgendwelche Unternehmungen zu stürzen. Manchmal mache ich mir Sorgen, bei einigen auf jeden Fall, ob ihr euch nicht überschätzen werdet, ob ihr die Last der Materialisierung, die ihr euch vorgenommen habt, in zwanzig Jahren dann noch tragen könnt.
Zuerst dachte ich, das betrifft alles nur mich. Inzwischen sehe ich, dass sich da in mir seit Jahren der Hit für die kommenden Jahre vorbereitet. Wenn ich dann längst durch bin und euch aus fast schon jenseitigen Augen nur noch gütig zulächeln kann, werdet ihr mitten in dieser Geschichte drinstecken. Wir leben nicht ewig! Das wissen wir längst. Aber vor dem Ende kommt noch ein langer, langer Abgang. Wissen wir das auch? Das, was verdrängt ist unter den Menschen, ist dieses Geschehen.
Wenn man einem älteren Mann begegnet, der von einer jungen, hübschen Frau geliebt wird, denken wir vielleicht, er sei ein Glückspilz. Stellt euch vor, wie ich mich gefühlt habe mit gleich zwei jungen und schönen Frauen! Inzwischen stehen diese Frauen allerdings gerade am Anfang der Lebensphase, in der sie ihre volle Kraft entfalten werden. Die nächsten fünfzehn Jahre werden sie in ihrer Blüte stehen. Werde ich die Grösse haben, sie darin liebevoll zu begleiten und zu unterstützen, währenddem mein Stern bereits sinkt, bis ich schliesslich nur noch im Weg herumstehe und eine Last bin? Oder werde ich bitter werden, wenn ich nicht länger der Mittelpunkt sein kann? Es wird davon abhängen, ob ich auch dieses Tabu, das Tabu ums Altwerden und ums Sterben, durchbrechen und ein integriertes Altsein leben kann, oder ob ich mich in Furcht vor dieser Übermacht in Illusionen und Verleugnungen verkrieche. Wenig gesagt habe ich jetzt darüber, dass das Altwerden auch sehr schön sein kann, dann natürlich, wenn wir es nehmen können. Dann bringt es auch ein Losgelöstsein und eine Freude, welche die Hitzigkeit des Lebensmittags nicht kennt. Auch über andere Aspekte, die mich im Zusammenhang mit dem Altern interessieren, habe ich hier nichts berichtet. Vielleicht werde ich euch ein anderes Mal davon erzählen. Von den Möglichkeiten der Altersmedizin, dem Anti-Aging oder Healthy-Aging, wie es auch genannt wird. Und der Frage, die natürlich damit zusammenhängt, wo die Verbesserung der Lebensqualität durch die verfügbaren Möglichkeiten sinnvoll ist und wo ein Einsetzen solcher Hilfen dann zu einem Ausweichen vor den Fakten werden könnte.
S. 167
Aus: Samuel Widmer Nicolet: … der Tod hingegen ist ein Morgen/ Sterben - Tagebuchnotizen von Samuel Widmer Nicolet, Autobiographisch, Basic Editions, 2015
Die grosse Überraschung vor neun, zehn Jahren, im Alter von siebenundfünfzig, achtundfünfzig Jahren, als das Alter sich unvermittelt und mit grosser Wucht bemerkbar zu machen begann, war, dass ich keine Ahnung davon hatte, wie sich Altsein, Altwerden anfühlt. So viel hatte ich mich vorher schon mit Tod und Sterben auseinandergesetzt, dass ich wähnte, ich wüsste bestens Bescheid. Aber überwältigt musste ich erkennen, dass ich nichts darüber wusste. Alles war nochmals ganz anders. Alles war vollkommen neu. Damit umzugehen, war nochmals eine echte Herausforderung. Und zum ersten Mal eine, für die mir eigentlich die Kraft fehlte. Denn diese wurde mir durchs Altwerden genommen und durch eine unsägliche Müdigkeit ersetzt. Sie zu überwinden, schien mir zuerst ähnlich unmöglich, wie es mir in der Jugend zuerst nicht machbar erschienen war, die Angst loszuwerden. Nur hatte ich damals wenigstens alle Kraft dafür zur Verfügung und jetzt keine mehr. Dass es mir gelang, diese Müdigkeit wieder abzuschütteln, sie für weitere zehn, zwanzig, dreissig Jahre zurückzudrängen, betrachte ich als die vielleicht grösste Leistung in meinem Leben und als den eigentlichen Akt des Sterbens.
Dass plötzliche Nachlassen der zuvor unerschöpflich scheinenden Energie, die unsägliche Müdigkeit, die Sehnsucht, sich einfach hinzulegen und aufzugeben, der Kampf damit, der vor allem darin besteht, eine neue Motivation zum Dranbleiben zu finden, eine neue, noch reinere und vorbehaltlosere Liebe zu entdecken, um seinen Dienst, seine Aufgabe hier vollenden zu können, und die Reife, Schönheit und Würde, die als letzte Blüte sich daraus entfaltet, das ist für mich Altwerden. Sterben dann scheint in der Gelassenheit dem gegenüber zu liegen, zwar auch diese Prüfung makellos zu bestehen, aber letztlich doch darin zu unterliegen. Der Tod dann: die Erlösung von allem Ringen.
S. 19
Als spannend ist […] zu verzeichnen, dass die persönliche Kraft, die man sich in einem Kriegerleben aufgebaut hat, nicht etwa zusammen mit dem körperlich-geistigen Nachlassen zerfällt. Diese wächst eher weiter und erreicht wahrscheinlich erst im Zeitpunkt des physischen Sterbens den Höhepunkt. Tragisch mutet an, diese infolge der mangelnden körperlich-geistigen Bereitschaft nicht mehr vollumfänglich nutzen und einbringen zu können. Es ist, als hätte man ein wunderbares Werkzeug, aber gelähmte Hände, die es nicht bedienen können. Schwierig ist es auch mit der Verunsicherung umzugehen, die mit dem gesamten Alterungsprozess einhergeht. Viele Sicher¬heiten gehen verloren, was zwar wiederum die Fähigkeit zur Improvisation in einem weckt. Die zunehmende Vergesslichkeit spielt dabei eine grosse Rolle.
Auch dies zwar etwas, was bereits die Jugend kennt, das plötzliche Abreissen des Gedankenflusses, der Verlust des Fadens mitten im Satz. Aber im Alter wird es pointierter und vor allem beginnt man sich dafür verantwortlich oder gar schuldig zu fühlen. Es wird zum Beweis, dass man vorbei ist. Dass man es nicht mehr bringt. Disziplin und grosse Aufmerksamkeit helfen allerdings gegenzusteuern. Trotzdem ist es nicht einfach, beim allgemeinen Verlust der Kräfte auch noch mit diesen zusätzlichen Systemschwierigkeiten zurechtzukommen. Humor hilft oft.
Auch die allgemeine Verlangsamung, der man zum Opfer fällt, ist eine zusätzliche Hypothek. Allerdings auch eine grosse Hilfe, sofern man sie mit einem glasklaren, umsichtigen Gewahrsein verbindet. Sie schützt einen vor vielen Gefahren. Hätten wir nicht Krücken wie Brillen, Hörgeräte, künstliche Zähne etc. entwickelt, wäre man im Alter zu grosser Langsamkeit und oft zur Untätigkeit und zum am Rande Stehen verurteilt. Vielleicht wäre dies auch einfach normal. Ab Fünfzig kann man eigentlich nicht mehr lesen und ab Siebzig hört man auch nichts mehr. Ein allmähliches Hinübergleiten in die Stille eines einfachen Seins. Vielleicht wäre wirklich Altwerden viel schöner, als den mechanisch gestützten Stress des Sich-Beweisen-Müssens zu bestehen.
All dies, der ganze Alterungsvorgang, ist ein schmerzhaftes Geschehen. Ein Schmerz, kein Leiden! So wie es das Leben auch überhaupt ist. Aber im Alter schreibt man fast alles Schwierige, was schon immer schwierig war, diesem zu. Das Schwierigste am Altwerden ist vielleicht tatsächlich das permanente und zunehmende Bedürfnis, einfach aufzugeben und sich gehen zu lassen, sowie die Anstrengung, dem in echter Kriegermanier zu widerstehen und mit der Unsicherheit, ob dies nicht völlig unsinnig ist, fertig zu werden, die einen dabei befällt.
Interessant und nicht zu übersehen ist allerdings der Zusammenhang zwischen Altern und Erleuchtung. Auf jeden Fall, wenn, wie oben beschrieben, ein glasklares, umsichtiges Gewahrsein nicht verloren geht, sondern vielmehr zum Zerfall hinzukommt. Die beschriebenen Zustände wie Hilflosigkeit, Verlangsamung, sehr gegenwärtig sein Müssen,
Durchlässigkeit gegenüber allem und Ausgeliefertsein sind Zustände, die sich auch mit dem grossen Erwachen, der Erleuchtung, zunehmend einstellen. Ähnlich wie beim allmählichen Hinübergleiten beim Altwerden ist man auch im Zustand des Erleuchtetseins für den Prozess der Normalität kaum noch nütze und zu gebrauchen. Wie der transformierte goldene Drache in der Kindergeschichte von Jim Knopf hat man nur noch Weisheit und Güte zu verschenken, aber keine Teilnahme an materiellen Prozessen oder gar an Kämpfen und Kriegen mehr anzubieten.
Vielleicht müssten Alte sich wirklich freudig dem Prozess der zunehmenden Auflösung und Vergeistigung überlassen, statt weiterhin krampfhaft mithalten zu wollen. Vielleicht würden sie dann die Erde (wieder) mit ihrer Weisheit erfüllen, statt als Pflegefälle zu verkommen. Vielleicht wäre dann Alter tatsächlich mit Weisheit und damit auch mit Erleuchtung gleichzusetzen, so wie es vielleicht immer schon gedacht war.
S. 24
Meine Gedanken über Sterben und Tod, zum Alt- und Älterwerden mögen ja tatsächlich etwas deprimierend klingen. Das sind meine Überlegungen oder vielmehr Wahrnehmungen aber keineswegs. Dass es uns so vorkommt, hat eher mit der Tatsache zu tun, dass wir Menschen alles, was mit Tod und Sterben zu tun hat, als tragisch, düster und apokalyptisch erleben. Alles, was damit zu tun hat, ist von Tabus besetzt. Auch sonst erlebe ich oft, dass für andere Menschen Wahrheit bitter oder provokativ daherkommt, sobald man sie benennt und auf sie hinweist. Denn auch ganz allgemein ist die Wahrheit oft tabu. Man sieht sie nicht gern, geht ihr gerne aus dem Weg. Man will nichts von ihr hören. Wer sie ans Licht zerrt, gilt als Verräter. Solange Wahrheit nicht wirklich Platz hat, wird sie als Provokation gelten müssen.
Aber im Gegenteil, auch wenn es anders scheinen mag, ist das Altwerden für mich insgesamt ein spannender und auch fröhlicher Prozess, mit dem ich neugierig und staunend mitgehe. Das Alter scheint mir zwar eine der grössten Herausforderungen in einem langen Leben zu sein, aber diese zu bestehen, ist kein Unglück, sondern durchaus auch eine Freude.
Erst mit den Jahren wurde mir allmählich bewusst, dass man den Erfolg eines gelungenen Lebens unter anderem daran messen muss, wie die späteren Jahre bewältigt werden. All die Helden der Geschichte und ihrer verschiedenen Sparten wie Literatur, Philosophie, Kunst, Politik etc., die schon in frühen Jahren ums Leben kamen, scheinen mir seither nicht mehr wirklich glaubwürdig. Wem würde es nicht gelingen, mittels der Kraft der Jugend Heroisches zu vollbringen. Und ihren Kumpeln, herausgehoben aus der Masse der Vergessenen, die im Alter krank, verrückt oder umnachtet wurden, konnte ich auch nur noch bedingt huldigen. Der Test für ein geglücktes Schicksals-Kunstwerk schien mir immer deutlicher die Bewährung im letzten Lebensabschnitt zu sein. Ein wirklich grosses Leben strebt einem Höhepunkt und einer Erfüllung an seinem Ende zu. Lässt das Blühen nach einem frühen Herausragen schon bald nach, kündigt dies doch eher von einem Scheitern.
Das Schicksal ist zuweilen eine harte Lehrmeisterin. Es prüft uns manchmal gnadenlos. Andererseits verteilt es seinen Günstlingen auch grosszügig Boni und Geschenke. Auch mir wurde solches zuteil. Die Gaben des Schicksals an einen Sterbenden erwiesen sich in meinem Alterungsprozess als der Faktor des unverdienten Glücks, der mir über letzte Hürden helfen will, an denen ich allenfalls sonst gestolpert wäre. Genau im richtigen Augenblick kommt oft eine unerwartete Wende in einem niederdrückenden, hoffnungslos erscheinenden Geschehen, das einen endgültig „bodigen“ will. Und zuweilen leuchtet für einen plötzlich unerwartet der Stern einer neuen Liebesgeschichte oder einer neuen Entwicklung auf, mit denen man niemals gerechnet hätte.
So kommt es, dass ich dabei bin, sie auch loszulassen, währendem ich in meinem fortgeschrittenen Alter bezüglich der Sexualität tatsächlich nochmals rauschende Feste feiern darf.
So etwas erhält einen jung, verjüngt einen wieder in unglaublicher Weise. Dafür offen zu sein, das Angebot des Zufalls überhaupt zu sehen und die Freiheit zu haben, es zu ergreifen, gehört zur Lebenskunst, die das Alter und das Sterben schliesslich zum Höhepunkt eines Lebens machen und verhindern, dass man sang- und klanglos untergeht. Dass solche Gunst vor allem jene aussucht, die ihr ganzes Sein der Liebe, dem Mitgefühl und der Fülle des Lebens zur Verfügung stellten, scheint mir nahe liegend zu sein.
„Im Alter ist man gezwungen, sich ausschliesslich mit dem Alter zu beschäftigen“, hörte ich kürzlich einen bekannten Schweizer Mundartdichter klagen. Das ist tatsächlich die Bedrohung, die unablässig über einen hereinzubrechen droht, wie ich es früher auch schon dargestellt habe. Und ob es einem als Krieger gelingt, diesen „vierten Feind“ bis zum Ende abzuschütteln, ist tatsächlich die grosse Frage bezüglich des Älterwerdens. Dass man dabei allerdings immer mehr der Einsamkeit ausgeliefert sein muss, wie der Volkspoet, was man von vielen immer wieder hört, bestätigt, möchte ich anzweifeln. Mir scheint, dem Umstand, der Einsamkeit im Alter preisgegeben zu sein, eindeutig ein Selbstverschulden zu Grunde zu liegen. Kümmert man sich ein Leben lang um beständige Liebesbeziehungen und um den Kontakt zu jüngeren Leuten, ereilt einen kein Schicksal des Verlassen- und Vergessenseins. Die Tendenz zur Selbstisolation, ein abgeschnittenes Ich zu sein, der sich viele Menschen ein Leben lang hingeben, fordert in den letzten Lebensjahren ihren Tribut. Möglicherweise gilt dies auch schon für die erste Klage: Dass die Zipperchen des Alters nicht abzuwenden sind und jeden früher oder später heimsuchen, scheint mir unabdingbar, dass sie sich auswachsen müssen, zu einem alles vereinnahmenden Geschehen, in welchem man sich mit nichts anderem mehr beschäftigen kann, jedoch kein Muss, sondern wenigstens zum Teil auch Folge und Resultat eines unstimmigen Lebensstils in jungen Jahren. Es mag auch Schicksale geben, die nicht Ausdruck von Ursache und Wirkung sind, aber im Allgemeinen sollte es einem Menschen, der sich in seinem Leben um die Haltung eines Kriegers bemühte, doch gelingen, das Alter und seine Beschwerden bis zur Todesnähe so weit in Schach zu halten, dass es nicht seine ganze Lebenskraft auffrisst und nicht seine ganze Existenz, sein ganzes Sein, vereinnahmt. Dass das Alter hingegen Gefühle und Zustände kennt, die der Jugend fremd sind, wie der Schweizer Schriftsteller behauptet, ist wohl schwer zu leugnen.
Die Geschenke des unverdienten Glücks, der Liebesgeschichten für Betagte, die das Schicksal uns gnädig gönnt, sind darin eine grosse Hilfe und ein Entgegenkommen, wie sie vielleicht nur ein Krieger auf sich zieht.
Andere Gefühle und Zustände kennt das Alter als die Jugend. Welche denn?
Ich weiss nicht, ob dies für jedermann gilt; was mich betrifft, kenne ich kaum mehr Gefühle, wie sie die jungen Jahre kannten. Wut, Schmerz, Eifersucht, all das ist längst verschwunden. Es hat etwas Grösserem Platz gemacht.
S. 70
Das Alter, ein Nutzlossein in vielerlei Weise, kann andererseits viel tragen, was der Jugend schwer fiele. Die Hektik, die Amokläufe, die wilden Reaktionen haben aufgehört. Gelassen kann das Alter ertragen, was die Jugend noch in Panik versetzt.
S. 104
Dafür, dass die Sexualität Zeit meines Lebens eine derart grosse Bedeutung für mich hatte, mutet es eigenartig an, vor der Beendigung dieses Manuskriptes realisieren zu müssen, dass ich beinahe „vergessen“ hätte, etwas zu ihrem Stellenwert im Alter anzumerken. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass sie uns vor dem Sterben wohl definitiv verlassen wird beziehungsweise wir sie wieder werden zurückzugeben haben.
Zwar stellte ich mir immer vor, dass es wunderbar sein müsste, den Abgang dann mit einem letzten sexuellen Zusammensein feiern zu können, doch eine realistischere Sicht auf Tod und Alter lehrte mich, eher von einem früheren Abschied bezüglich der sexuellen Freuden auszugehen.
Wahrscheinlich sind nicht alle Menschen in diesen Dingen gleich, möglicherweise gibt es in Bezug auf das Sexualleben die ganze Zeitspanne der Existenz hindurch grosse Unterschiede. Mich selbst hat die Sexualität auch im Alter nicht verlassen. Im Gegenteil ist sie immer noch inniger, reicher und beglückender geworden. Allerdings hängt dieses Glück gerade auch mit einem Hauch der Verflüchtigung zusammen, der sie zunehmend zu berühren und zu begleiten begann. Man spürt, dass sie sich aufzulösen beginnt, lange bevor sie ganz aus einem verschwindet, genauso wie man sich schon dreissig Jahre vor dem Tod als Sterbender fühlen kann.
Ein bisschen hat sie vielleicht nachgelassen, die sexuelle Kraft, obwohl das Bedürfnis, sich täglich in dieser Weise auszutauschen und vor allem zu lieben, nach wie vor da ist. Ein Orgasmus bei jedem Mal geht zwar kaum mehr und ist vielleicht auch nicht ratsam, will man sich bezüglich Lebensfreude und „jugendlicher“ Energie nicht erschöpfen, aber der Höhepunkt, den die Jugend unbedingt haben musste, hat längst nicht mehr die Wichtigkeit von früher. Etwas anderes ist viel zentraler geworden: das Einssein, das endlose Zusammensein, das ausgedehnte Liebesspiel, die Zärtlichkeit, das Schmusen, das ineinander Versinken. Darin brachte das Alter eine nicht enden wollende Verfeinerung und Sublimierung. Eine Transzendenz findet darin statt, die das materielle Geschehen beinahe eins werden lässt mit der energetischen Auflösung und Durchdringung voneinander. Die Sexualität des Alters erscheint mir eigentlich die grössere Freude als diejenige der Jugend zu sein. Nicht nur muss sie keine „Zwecke“ mehr erfüllen oder Ziele beinhalten, vielmehr noch ist sie frei geworden von allen Zwängen, Behinderungen und Konditionierungen, die man sich ein Leben lang mühte abzuschütteln. Gerade in ihr drückt sich die Wonne, Freude und Freiheit, um die ein Krieger gerungen hat, schliesslich unverblümt aus.
S. 106
Natürlich muss ein Buch über Sterben und Tod ein Fragment bleiben. Viel mehr, endlos viel gäbe es wohl dazu zu sagen, und ohne das wirkliche, physische Sterben, ohne den tatsächlichen, endgültigen Tod, bleibt alles, was man sagen kann, sowieso im Vorfeld des Altwerdens, des Alterungsprozesses verhangen oder bleibt hypothetisch oder gar illusorisch.
„Alle wünschen sich, das Alter zu erreichen, doch wenn sie es erreicht haben, beklagen sie sich darüber“, erkannte bereits Cicero und fasste die vier Feinde des Alters, zu deren Verleugnung und Verharmlosung er zwar neigte, wie folgt in seiner kleinen Schrift zum Alter zusammen: „So finde ich denn, wenn ich mir die Sache recht überlege, vier Gründe, weshalb das Alter beklagenswert erscheint: einmal weil es uns das tätige Leben verwehrt, zum anderen weil es unseren Körper schwächt, drittens weil es uns fast sämtlicher Genüsse beraubt und viertens weil es nicht mehr weit vom Tode entfernt ist.“
Damit hat Cicero den Alterungsprozess gekonnt in vier Problemkreisen umrissen: 1. Einschränkung bezüglich Aktivität, 2. Kraftverlust, 3. Verzicht auf Sinnenlust, 4. Angst vor dem Tod. Dass er in seinen Ausführungen zu einer gewissen Verdrängung bezüglich dieser Beschwerden neigte, nimmt seinem Text die wünschenswerte Tiefe, kann aber wohl als symptomatisch für die Angelegenheit betrachtet werden. Immerhin scheint er aber am Ende seines Lebens, das ihm auch nochmals schwierige Zeiten einbrachte, vielleicht auch durch die Auseinandersetzung mit dem Alter, eine ähnliche Gelassenheit gefunden zu haben, wie ich sie im Vorwort beschrieben habe. Den Todesstreich nach seiner Verurteilung zum Tode soll er auf jeden Fall gefasst entgegengenommen haben.
Warum wird eigentlich der eine in diesem Prozess des Alterns das Opfer gewisser Krankheiten und der andere nicht? Eine Frage, die man sich natürlich schon bei jungen Leuten stellen kann, die aber im Alter eine spezielle Brisanz erhält. Vielleicht gibt es körperliche Krankheiten, die offensichtlicher mit der vorgängigen Lebensführung der betroffenen Person zu tun haben. Je nachdem, wie sorgfältig oder nachhaltig man mit dem System seines Körpers umgegangen ist, gibt es andere und auch mehr oder weniger Abnutzungsschäden. Ein Extremsportler wird vielleicht an seinen Gelenken leiden, währendem ein Stubenhocker einen Herzinfarkt oder Diabetes bekommt. Und ein Mensch mit einer lebenslangen Suchtanamnese wird anders ausgelaugt sein, als ein Bauarbeiter nach dreissig Jahren Schwerstarbeit. Dass Stress negative Folgen hat und sich schliesslich in körperlichen Krankheiten wie Krebs ausdrücken kann, ist wohl inzwischen genau so bekannt wie die Volksweisheit, dass zu viel essen, rauchen oder Alkohol trinken mit der Zeit verheerende Auswirkungen auf unser Wohlbefinden haben wird. Diese ganzen psychosomatischen und damit auch durch die Lebensweise bedingten Zusammenhänge von den rheumatischen Erscheinungen bis zur Alzheimerschen Demenz, vom Zahnzerfall bis zu den Prostatabeschwerden, sind wohl hinlänglich erkannt. Was mich mehr wundert, ob die kleinen Bresten, die Zipperchen des Alters auch in gleicher Weise zu erklären oder mehr schicksalhaft bedingt sind. Warum wird der eine – ich zum Beispiel – im Alter von Viren befallen, die seine Augen chronisch röten und lästig jucken und tränen lassen, währendem der andere nichts Derartiges kennt? Was ist dafür verantwortlich, dass jemand mit allem, was er einnimmt, zunehmend vorsichtiger sein muss, indes andere robuste Mägen behalten, die auch im Alter nicht so leicht zu reizen sind?
Wahrscheinlich hängt all dies mit Lebensstil, mit psychischer Verfassung und gesunder Lebens-haltung zusammen. Aber nicht immer sind diese Verknüpfungen so leicht auszumachen. Manchmal scheint einem, es gebe darin auch Schicksalhafteres, etwas, das uns zugemutet werden soll, was ganz spezifisch uns persönlich in die Knie zwingt und keinen anderen, damit wir geweckt werden für grössere Zusammenhänge, die wir nicht selbst bestimmen und in deren Hände wir uns umso mehr ergeben lernen sollen, je mehr wir uns der Schwelle des Todes nähern.
Trotzdem ist es natürlich ratsam, bereits in der Jugend im Auge zu haben, mit welchen Auswirkungen seiner Ausschweifungen man im Alter wird leben können. Man wird sich den unaufhaltsamen Abstieg in die Depression […] dadurch ersparen oder zumindest die Depression erträglicher machen können. Und das Schicksalhafte, das durch die ernsthafte Auseinandersetzung mit Alter und Tod eine Integration findet, wird dadurch auch leichter zu dieser Gelassenheit führen, die es einen – wie Cicero den Todesstoss seiner Mörder – besser ertragen lässt.
S. 131
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen, Basic Editions, 2005
Weisheit gehört zum Alter, so wie die Weitsichtigkeit zum alternden Auge. Nicht dass das Alter von selbst Weisheit hervorbringen würde. Im Gegenteil sind Alte oft stumpf und versandet, aber es braucht doch Augen, die viel gesehen haben, einen Geist, der alles ergründet hat, um Weisheit zu finden. Und doch ist es nicht die Erfahrung, auf die sich die Weisheit stützt. Im Gegenteil hat sie alles Wissen, alle angehäufte Kenntnis überwunden, hinter sich gelassen und sich ganz einer ursprünglichen Unschuld wieder geöffnet. Sie schöpft aus dem Augenblick, der ausserhalb der Zeit steht und deshalb der Ewigkeit angehört. Wahrscheinlich müsste man daher eher von Reife als von Alter reden.
S. 28
Der Mensch wird am Ende seiner Reise des Lernens sein, und fast unversehens wird er dem letzten seiner Feinde begegnen: dem Alter! Dieser Feind ist der grausamste von allen; Er ist der, den er nicht völlig schlagen, sondern nur bekämpfen kann.
Das ist die Zeit, da ein Mensch keine Angst mehr kennt, keine ungeduldige Klarheit der Gedanken – das ist die Zeit, da er seine ganze Macht beherrscht, aber es ist auch die Zeit, da er ein unüberwindliches Verlangen nach Ruhe hat. Wenn er seinem Verlangen auszuruhen und zu vergessen völlig nachgibt, wenn er sich selbst in Müdigkeit wiegt, wird er seine letzte Runde verloren haben, und sein Feind wird ihn zu einem schwachen, alten Geschöpf niederstrecken. Sein Verlangen sich zurückzuziehen wird all seine Klarheit, seine Macht und sein Wissen unterdrücken.
Aber wenn der Mensch seine Müdigkeit abschüttelt und sein Schicksal zu Ende lebt, kann er ein Wissender genannt werden, wenn auch nur für den kurzen Augenblick, da es ihm gelingt, seinen letzten, unbesiegbaren Feind abzuschütteln. Dieser Augenblick der Klarheit, der Macht und des Wissens ist genug.
S. 29
Castanedas Don Juan hat von den vier Feinden gesprochen, die ein Mann, der ein Wissender werden wolle, überwinden müsse, der Angst, der Klarheit, der Macht und dem Alter. […] Das Alter ist dann sein letzter Feind. Die Müdigkeit, die es bringt, kann ihn leicht zum Scheitern zwingen, sofern er es nicht abschütteln und mit Würde tragen kann. Gelingt ihm dies nicht, gibt er seiner Müdigkeit nach, dem zu widerstehen, wird er bald alles verlieren und zu einem schwachen, ängstlichen Wesen niedergestreckt werden. Nur wenn er auch daran nicht scheitert, kann er wirklich ein Meister der Selbsterkenntnis, ein Angekommener, ein Wissender genannt werden, obwohl er wohl weiss, dass das Alter letztlich dann jeden zur Strecke bringen wird, jeden zum Scheitern zwingt, dass jeder im Angesicht des Todes wieder zu Staub werden muss, zu einem Nichts, unabhängig davon, was er sich in seinem Leben an äusseren oder inneren Errungenschaften zugelegt hat.
S. 147
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Zusammen leben - Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung, Basic Editions, 2013
Das Alter. Auch ein Thema, das zu Gemeinschaft gehört, für das Gemeinschaft eine Lösung haben muss. Was macht man mit den Alten? Wo finden sie einen Platz im Gemeinsamen? Wie fügen sie sich ein?
So weit sind wir noch nicht. Es sind noch Wenige, die sich bereits ernsthaft damit auseinander setzen müssen. Aber bald wird es kommen. Im Augenblick ist es mehr die Frage, wie Vergänglichkeit überhaupt zu integrieren ist, die uns beschäftigt. Wie verändert man sich im Laufe der Zeit? Wie lebt man in verschiedenen Lebensphasen? Wie sehen unsere Bedürfnisse in einem neuen Lebensabschnitt aus? Schliessen sich Zeitfenster plötzlich, etwas ist einfach vorbei? Ob man es gelebt hat oder nicht, das Thema verschwindet wieder aus einem? Daran hängen bleibt nur, wer sich geweigert hat, hinzuschauen. Und kleben tut er trotzdem an einer leer gewordenen Hülse.
S. 194
1)
Aus: Samuel Widmer Nicolet: … der Tod hingegen ist ein Morgen/ Sterben - Tagebuchnotizen von Samuel Widmer Nicolet, Autobiographisch, Basic Editions, 2015, S. 69
2) Audiodatei (CD oder mp3/wav): «Tantra und seine Tabu-Themen - Über Feigheit, Bequemlichkeit, Scheitern, Älter werden, Freiheit und Nichts-Sein»