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Newsletter 2/2022 - Unausweichlichkeit
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März 2022

I

ns Unausweichliche geboren

Du bist immer da, allgegenwärtig
Jetzt gerade, gerade hier
Und doch: Du bist nicht Hier und Jetzt
Du gründest viel, viel tiefer
Bist lediglich im Augenblick verborgen
Du ruhst in allem Schicksal
Aber bist nicht Schicksal
Alles Geschehen ist nur Hinweis auf dich –
Du bist im Tod
Aber nicht der Tod
Alles Sterben ist nur Tor zu dir
Alles Leiden führt zu dir hin, alle Freude, alles Sein
In der Tiefe aller Einsamkeit lernen wir, uns dir zu öffnen
Du aber bist jenseits von all dem
Jenseits von allen Toren
Unnennbar bist du, unkennbar
Das Unausweichliche, Unentrinnbare, Andere –
Du kennst keinen Namen
Und doch zeigen alle Namen nur auf dich
Herrlichkeit nennen wir dich und Ewigkeit
Liebe ist dein Wesen, Wahrheit dein Kleid –
Immer wieder neu wirst du uns
Von einer Ewigkeit in die andere geboren – (1)




Das Unausweichliche bringt immer einen Neubeginn
Samuel Widmer




Liebe Leser

Nach nur wenigen Jahren hat das Schicksal wieder mit voller Wucht an meine Tür geklopft und mich mit der Unausweichlichkeit des Tods konfrontiert, als vor zwei Wochen mein Bruder mit dem Helikopter tödlich abgestürzt ist. Wie schon bei meinem Vater und bei Samuel, meldete sich der Tod ganz plötzlich und unerwartet; für einen Moment stand die Welt still und seither ist nichts mehr wie es war.

Wenn man endlich den Stress der behördlichen Untersuchungen und der traditionellen Abschiedsfeier hinter sich hat und wieder Raum für Trauer und Innigkeit da ist, wird man sich unter anderem nochmals über die Unausweichlichkeit des eigenen Schicksals bewusst, und darüber, dass wir über den Zeitpunkt unseres Rückkehrs ins Universum überhaupt nichts zu sagen haben.

„Lebe so, als ob du morgen sterben würdest“, sagte Mahatma Gandhi. Lebe im Bewusstsein darüber, dass jeder Augenblick der letzte sein könnte. Aufgeräumt beim Materiellen, damit die Zurückgebliebenen nicht im Chaos hinterlassen werden; bei sich selbst, damit man leicht loslassen und „übergehen“ kann; in jeder persönlichen Beziehung, damit der letzte Augenblick zusammen eine schöne Erinnerung bleibt. Mit Samuels Tod wurde mir erstmal richtig bewusst, dass wir leider nicht immer die Gelegenheit für einen bewussten Abschied haben. Auch deshalb ist mir seitdem der Gedanke an den letzten schönen Abend mit ihm und den letzten Gutenachtkuss ein besonderes Geschenk. Das sollte man nicht verpassen….

Herztraurige Grüsse

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi

P.S. Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden. Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis. Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch).


Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen, Basic Editions, 2005
Unausweichlichkeit, Endgültigkeit
"When you‘re in love, you‘re in forever", singt die sechzehn-jährige Hollie Smith in ihrem schönen Lied. Krishnamurti drückt dasselbe aus, wenn er sagt: "Die Liebe ist endgültig wie der Tod." So ist es! Das, was wir zuinnerst in uns finden, in den Tiefen der Seele, in den hintersten Winkeln der Hirnwindungen, in den tiefsten Abgründen des Bewusstseins, das, was wir im Prozess der Selbsterkenntnis offenlegen, ist unausweichlich, ist Unausweichlichkeit. Dort, wo nicht mehr klar ist, ob das Allerinnerste eigentlich ein Inneres oder ein von aussen Kommendes ist, wo diese Unterscheidung hinfällig wird, finden wir diese Qualität, diese Facette des Unergründlichen: die Unausweichlichkeit.
In der Welt, im Äussern, kann man beobachten, herrscht dort, wo es unausweichlich wird, immer der Schrecken. Darum haben wir Angst davor. Aber das müsste nicht so sein. Das Unausweichliche ist in der Welt immer ein Schreckliches, weil niemand darin seine Heimat bauen will. Im Innern, wenn man im Innern, im Prozess der Meditation dem Unausweichlichen, dem Unabwendbaren begegnet, ist es nicht schrecklich, sondern erfüllt von der ganzen Schönheit des Innersten. Auch der Tod gehört dazu.
Was ist eigentlich Schicksal?
Ist Schicksal ein vorgegebener Plan, dem wir willenlos zu folgen haben? Den wir verwirklichen, ob wir wollen oder nicht, ob wir uns dagegen sträuben oder nicht? Besteht unsere einzige Macht darin, willig und erkennend dieser Berufung zu folgen und dadurch leichtfüssig durchs Leben zu gehen und in Schönheit zu wandeln oder ihr dann widerstrebend zu gehorchen, so dass unser trotzdem unausweichlicher Weg gepflastert ist von Konflikt und Schwere und allen Glanz verliert? Oder ist Schicksal etwas, was wir gestalten durch unsere Willensimpulse, die wiederum unausweichlich gegeben sind? Können wir das Rad des Schicksals drehen, das Blatt für uns wenden? Oder haben wir gar keinen Einfluss darauf, was mit uns geschieht?
Wer von uns konnte denn wählen, in welche Verhältnisse er geboren wurde, welche Fähigkeiten er mitbrachte, welchen Menschen und Situationen er begegnet ist oder in welchen Beruf und welche Umstände er schliesslich gedrängt wurde? Oder wer kann wählen, wann er wieder zu gehen hat? Ist das Ganze ein Wechselspiel zwischen angelegtem, vorgefertigtem Plan und innerem Impuls, der eine gewisse Freiheit und Unberechenbarkeit kennt? Oder ist auch unser späteres Wählen und Entscheiden längst festgelegt, wenn wir hier ankommen? Niemand weiss wirklich etwas über diese Dinge. Sie liegen verborgen im Mysteriösen des Seins, im Unfassbaren, im für den Verstand nicht aufschlüsselbaren Zusammenwirken der Kräfte des Allerinnersten. Beide Betrachtungsweisen — freier Wille oder völliges Determiniert-Sein — scheinen darin eine Teilwahrheit der letztlich widersprüchlichen ganzen Wahrheit zu verkörpern. Sicher ist, dass so oder so Schicksal mit Unausweichlichkeit zusammengeht, davon durchtränkt ist. Und sicher ist, dass wir im Allgemeinen die Unausweichlichkeit nicht lieben, ihr zu entrinnen versuchen, wo wir können, davon ausgehen, dass sie etwas Schreckliches sei, überzeugt sind, sie führe uns in lauter Erschreckendes hinein. Und weil wir sie fliehen, weil wir sie meiden, weil wir nicht füreinander gerade darin unsere Heimat bauen, ist es, das Unausweichliche, dort, wo es sich zeigt, im Krieg, in Katastrophen, in Krankheit und Tod, dann tatsächlich ein Schreckliches. Was ist denn Unausweichlichkeit wirklich? Ist sie tatsächlich bedrohlich? Was ist Endgültigkeit? Ist sie wirklich ein Todesurteil, etwas Vernichtendes, Zerstörung pur? Oder sind lediglich unsere Bilder, die wir mit ihr verbinden, voller Terror, und sie wäre eine Kraft, die für uns das Gute will? Könnte es sein, dass gerade unsere Abwehr gegen sie die Unausweichlichkeit zu einer unerbittlichen, gnadenlosen Kraft werden lässt, die uns schliesslich in die Knie zwingt mit Krankheit, Krieg und Gewalt, mit Tod und Folter, weil wir ihre führende und gütige Hand nicht sehen? Uns ihr nicht ergeben? Macht unser Widerstand alles, das ganze Leben, zu einer unerträglichen Serie von Schicksalsschlägen, zu einer bedrohlichen Gefahr, so wie die Mauer des Hauses, die uns beschützt, zur tödlichen Waffe würde, wenn wir mit dem Kopf dagegen zu rennen begännen? Könnte Unausweichlichkeit, könnte Schicksal ein wunderbares Blühen sein, wenn wir ihm willig und freudig zu folgen bereit wären? Könnte Schicksal, unausweichliches Schicksal die ersehnte Heimat sein, in der alles ins Lot fällt, der einzige Ort, innerlich, in dem es ein Ankommen gibt? Unausweichlichkeit! Endgültigkeit! Ja, die beiden gehen mit dem Tod zusammen, mit Schöpfung und Zerstörung. Sie bringen Vernichtung. Aber ist denn der Tod ein Schrecken, Zerstörung und Vernichtung tatsächlich ein zu vermeidendes Elend? Braucht es nicht Tod und Vernichtung für jede Erneuerung, für jeden Neubeginn? Kann Schöpfung überhaupt stattfinden, das Immer-Neue geboren werden, ohne dass der Tod und die Destruktion seine beständigen Begleiter sind? Sind es nicht die Bilder unseres sich an Sicherheit klammernden Gehirns, die Tod und Zerstörung negativ konnotieren, ihre Schönheit nicht würdigen können, das ganze Leben aufspalten wollen in das Gute, den Anfang, den Frühling, die wir für uns pachten wollen, und in das Böse, das Ende, den Winter, von denen wir uns trennen wollen, die wir anderen zuschieben wollen? Und ist nicht darum Unausweichlichkeit für uns etwas Schreckliches, so dass wir ihre Schönheit nicht mehr sehen und würdigen können? Denn das Leben ist als Ganzes heilig. Aufgespalten, zersplittert in tausend Teile, wie wir es kennen, ist es zu einem Elend geworden. Sich ihm zu ergeben in seiner Ganzheit, in seiner Unteilbarkeit und Unergründlichkeit ist ein Dasein voller Würde, voller Wunder. Das zu sehen und sich darein zu schicken, bringt eine ungekannte Stabilität und Verlässlichkeit ins Dasein, die einzige Sicherheit, die es gibt, etwas Heiles und Gutes, das kein Gegenteil kennt. Darin ist der Tod nicht das Schlechte, sondern Teil des Wahren, des Edlen, der Freund, der uns dann besucht, wenn alles andere nicht mehr geht, um uns auf eine neue Ebene zu holen, um das Alte, das in einer Sackgasse gelandet ist, in eine neue Seinsweise zu transformieren.
S. 80

Eine Lebenszeit lang ist uns die Möglichkeit gelassen, Vernichtung und Neugeburt zu vermeiden, identifiziert zu bleiben mit dem Vergänglichen, festzuhalten am Brüchigen. Erst im Tod werden wir gezwungen, indem alles, was wir sind, wieder ins Allerinnerste hineingezogen wird, im Feuer des Allerinnersten verbrannt wird. Diesem unausweichlichen Prozess können wir uns freiwillig schon vorher stellen, schon während unserer Lebenszeit, sofern wir den Eingang dazu finden. Unsere ganze Bedürftigkeit, unsere Kontrolle, unser Denken, unsere Glaubenssysteme, alles fällt der Vernichtung im Allerinnersten anheim.
Diese Zerstörung fürchten wir. Darum sträuben wir uns dagegen, erstarren im Gewohnten, im Sterblichen, an dem wir uns ängstlich festklammern. Und träumen dann von Magie und Alchemie, vom Mysterium des Lebens, das es doch irgendwo geben muss und von dem uns noch eine unbestimmte Ahnung, eine Sehnsucht geblieben ist und das wir im Bekannten, im Bereich, auf den wir uns versteift haben, vermuten.
Wir sehen die Chance in der Zerstörung nicht. Wir sehen die Schönheit des Zerbrechens nicht. Wir sehen nicht, dass das Wunderbare, das Todlose, das Unsterbliche nicht im Bereich des Bekannten und Gewohnten liegt, an dem wir festhalten, sondern jenseits von dem, was vergänglich ist und sterben muss. Das, was zerbrechen muss, ist das Ich, das Angehäufte, damit das Andere, das Ewige sein kann.
S. 143

Ein Leben, das nur noch den Tod als letzten Ausweg kennt und das mit ganzer Hingabe gelebt wird, ist erst ein glückliches und reiches Leben. Und das Mass der darin genommenen Enge und Unausweichlichkeit bestimmt die Weite des Himmels, in der der Geist schliesslich frei fliegen kann. Hingabe und Ergebenheit begleiten das Glück. Wo sie zu finden sind, taucht das Glück gerne auf.
S. 38

Leider drängt es sich in unserer Welt, so wie wir sie zusammen für uns gestalten, auch auf, Ausgeliefertsein als etwas Schreckliches zu sehen. Überall, wo Unausweichlichkeit auftritt, ist sie unerträglich, weil wir uns nicht darauf verstehen, unsere Heimat darin einzurichten. Es braucht einen unschuldigen Geist, der sich gereinigt hat von aller Vergangenheit, der persönlichen und der kollektiven, der nochmals neu auf alles schauen kann, um Verlorensein als ein Geschenk zu erleben.
S. 46


Samuel Widmer: Stell dir vor, du wärst ein Stück Natur, Von der Lust am Verbotenem, 1995, 2. Auflage Basic Editions, 2021
Der Tod

Wenn du zu mir kämst heut’ Nacht
um mich zu nehmen
würde ich dann stehen bleiben
in dein Angesicht schauen
und mich erschüttern lassen
zutiefst in meinem Sein –?
Würd’ ich mich stellen deiner Wucht
und dir meine Hand entgegenhalten
damit du mich nicht gewaltsam nehmen musst
und alles, alles stehen lassen
was ich geliebt, gewollt
woran ich gelitten habe?
Würd’ ich denn mit Neugier
mit grosser Achtsamkeit
und mit zittrigem Herzen
ob so viel Unausweichlichkeit
mit dir kommen, ohne mich zu sträuben
aber im Wissen darum
dass du zu gross bist für mich?
Könnt’ ich mit dir gehen
in Leidenschaft und Liebe
in ein neues und ganz anderes Sein hinein
in dem nichts mehr sein wird
wie es vorher war…?
S. 14

Vom Unausweichlichen unausweichlich ins Unausweichliche geworfen. Unentrinnbar, das ist unser Schicksal. Wenn wir uns damit anfreunden können, wird dies immer mehr zu einer gewaltigen, aber beglückenden Sache, einem Mysterium, einem Rätsel, das wir nie ganz ergründen können. Wenn wir uns nicht damit abfinden können, wird die gleiche Tatsache zu einem entsetzlichen Albtraum, dem wir auf jede erdenkliche Weise zu entfliehen versuchen, was uns doch nie gelingen wird.
S. 18

Wir befinden uns zu einem gegebenen Zeitpunkt immer in irgendeinem gegebenen Zustand, und die Welt als Ganzes befindet sich ebenso ständig in einem gegebenen Zustand, in einem Gefühlszustand. Wir sind ein Gefühl, die Welt ist ein Gefühl, unsere Situationen sind Gefühlssituationen. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, ob wir es verdrängen, ihm ausweichen, davor fliehen, es ist trotzdem so: Jeder Moment ist ein unausweichlich gegebener Moment. Unsere Reaktionen darauf verändern zwar die Gefühlssituationen, in denen wir stecken und zwar immer in Richtung schwieriger, schwerer, unangenehmer, stressiger und nicht etwa in Richtung angenehmer und erfreulicher, wie wir es eigentlich damit beabsichtigen, aber sie bleiben auf jeden Fall Gefühlssituationen. Abgesehen davon, dass wir solche Gefühlssituationen, durch die wir uns selbst und unsere Welt sich bewegen, in negativer Richtung durch Fluchtversuche verschlimmern können, sind diese Zustände einfach gegeben, und wir haben keinerlei Einfluss darauf. Sie kommen zu uns und gehen von uns, wie sie wollen.
S. 71


Samuel Widmer Nicolet: Vom Weg mit Herz,- Die Essenz aus der Lehre des Don Juan/ Eine Würdigung des Werkes von Carlos Castaneda, Sachbuch Psychologie, Nachtschatten-Verlag, 2002
Unschuld
geboren aus der Hingabe
an die Unausweichlichkeit des Lebens
Schönheit
erblüht aus fraglosem Einverständnis
mit der Abhängigkeit
Stille
entfaltet aus dem Einssein
mit dem Du
S. 149


Samuel Widmer Nicolet: Im Irrgarten der Lust - Abschied von der Abhängigkeit/ Die Geburt der Freude: Eine Liebesgeschichte, Sachbuch Psychologie, Basic Editions, 2. Auflage 1997
Aus allem machen wir eine Gewohnheit, einen Tramp, eine Tradition und schon ist die Lebendigkeit weg, die Unmittelbarkeit des Seins verloren, die Angst gebannt. Gewohnheit dient dem Verdrängen der Angst vor dem Unausweichlichen, vor dem Tod, der jedem Moment innewohnt, vor dem Abschied von Augenblick zu Augenblick vom Bekannten, vor dem Nicht-wissen-Können des Lebendigen, vor der Freiheit. Nicht der Freiheit tun zu können, was man will, sondern der Freiheit, den innern und äussern Prozess beobachten zu können, in Musse betrachten zu können, nicht gefangen zu sein in einem Problem, einem Vergnügen, einer Sucht. Warum will ich nicht unausweichlich mit dem sein, was ist in mir und was um mich ist? Wenn ich mich dazu entschliesse, habe ich Musse, nichts mehr zu tun, weil jedes Streben aufhört. Warum will ich das nicht? Es steht mir nichts im Weg, ausser dass ich nicht will. Ich will das Unangenehme nicht, ich will das Angenehme, das Bessere. Ich will mich nicht unterwerfen, nicht gehorchen, nicht fügen dem, was ist. Ich will frei sein, im Sinne tun und lassen zu können, was ich will. Es besteht ein Autoritätsproblem mit meinem tieferen Sein, ein Kampf des Egos mit dem Sein überhaupt. Ich will auch die Angst und die Unsicherheit des Lebendigen nicht haben. Ich unterwerfe mich lieber dem gesellschaftlichen Zwang, dass es mir immer oberflächlich gut gehen muss.
Was kann ich also tun, wenn ich nicht will? Wenn ich vielleicht nicht einmal sehen will, dass ich nicht will? Dass ich lieber in der Tradition, in der Gewohnheit hängen bleibe, als mich meiner Wahrheit zu stellen und trotzdem das authentische Gefühl möchte, das sich daraus ergäbe? Denn wenn ich mich der Unausweichlichkeit des Seins stelle, löst sich alles auf, der Boden von allem fällt schliesslich raus, und es bleiben nur Weite, Raum, Fluss, Freiheit. Nicht unbedingt die Freiheit, tun und lassen zu können, was ich will, aber die Freiheit, sein zu können, was ich bin. Was kann ich also tun, wenn ich nicht will? Nichts kann ich tun! Nichts! Wenn ich in dieser Tatsache lange genug geschmort habe, immer wieder geschmort habe, entscheide ich mich vielleicht eines Tages zu wollen. Denn darin bin ich frei.
Was zu wollen? Ununterbrochen, unausweichlich mit dem zu sein, was ist, in mir und um mich, keine Gewohnheit mehr entstehen zu lassen, den Alltag immer wieder neu anzugehen. Dann fällt irgendwann der Boden raus, das Ego löst sich auf und es bleibt nichts als leere, reine Wahrnehmung, welche identisch ist mit dem Energiefluss, identisch ist mit der Liebe, identisch ist mit dem Nichts.
Die Selbstsucht hört auf, wenn ich die ganze Verantwortung übernehme für das, was immer gerade ist, und das ist Liebe. Ununterbrochen mit dem zu sein, was ist, heisst keinen Gedanken, keine Bilder, keine Illusionen und Phantasien mehr aufkommen zu lassen, auch nicht mehr den guten Gefühlen nachzugehen. Aber ohne etwas zu unterdrücken, nein, es einfach nicht mehr zu wollen und darauf zu achten. Es heisst auch zu gehorchen; dem, was ist und übergeordnet ist, sich zu unterwerfen. Der Autoritätskonflikt, der umso ausgeprägter ist, wenn mir während der Erziehung andere Autoritätskonflikte aufgepfropft wurden, und wenn ich vom Charakter her zu Machthunger neige, der Autoritätskonflikt zwischen Ego und innerem Selbst ist recht einfach zu lösen, sobald ich (der Egoteil) das will.
S. 79

VOM TAL DAZWISCHEN
Das Ende der Geschichte
Für heute, zum Schluss, ist mir auch nochmal eine Geschichte eingefallen. Vom Tal dazwischen habe ich sie genannt: Es ist eine eigenartige Geschichte. Auch sie ist eine fast wahre Geschichte, weil sie wie alle andern Geschichten unsere Geschichte ist. Sie beginnt dort, wo alle andern Geschichten enden, nämlich beim Ende, beim Tod, bei der Hoffnungslosigkeit. Und sie endet dort, wo alle andern Geschichten anfangen, nämlich beim Beginn, bei der Hoffnung, bei der Geburt.
Am Ende gibt es nichts mehr zu sagen. Jedenfalls nicht, wenn man das Ende als Gefühl zulässt. Bei jemandem zu sitzen, der stirbt, seine Hand zu halten, mit ihm zu sterben, ist ein unausweichliches, tiefes Gefühl, und dazu gibt es nichts mehr zu sagen.
Am Ende von allen Geschichten sterben die Menschen. Und dann gehen sie dorthin zurück, wo wir in der ersten Geschichte angefangen haben: Sie sitzen um den lieben Gott herum, fühlen sich eins und ganz, besinnen sich wieder, was ihre Aufgabe eigentlich gewesen wäre auf der Erde, bereuen, was sie alles falsch gemacht haben und nehmen einen neuen Anlauf, um es beim nächsten Mal besser zu machen.
Und dann kommen sie wieder: Ein Neuanfang, eine Geburt, eine Hoffnung; versuchen, so gut sie es können, ihre Aufgabe zu erfüllen, nämlich das Einssein, das Ganzsein in die materielle Existenz hinein zu tragen; im dichtesten und dunkelsten Bereich des Universums die Einheit, die Schönheit, die Ganzheit und die Liebe zur Blüte zu bringen.
Auch die Geburt ist ein Gefühl; auch dazu gibt es nichts zu sagen. Die Geburt und der Tod sind unausweichliche, unmittelbare Geschehnisse, und darum gibt es nichts zu sagen darüber. Darum will diese Geschichte auch nicht so recht eine Geschichte werden, weil es eigentlich nichts zu sagen gibt dazu. Und wenn das Leben dazwischen, zwischen der Geburt und dem Tod, genauso unmittelbar und unausweichlich, genauso ganz gelebt wurde, gäbe es auch nichts mehr zu sagen dazu.
S. 224


Samuel Widmer Nicolet: Vom Weg mit Herz,- Die Essenz aus der Lehre des Don Juan/ Eine Würdigung des Werkes von Carlos Castaneda, Sachbuch Psychologie, Nachtschatten-Verlag, 2002
Ich habe zwar gelernt, dass es gut und notwendig ist, sich jedem Krieg – und mit Freude – zu stellen, zu dem man unausweichlich aufgefordert wird. Aber ihn direkt zu suchen, selbst Kriege anzuzetteln, nein, das möchte ich nicht.
S. 163

Gerade eben hat mich die Wucht der Unausweichlichkeit getroffen, als ich erfahren habe, dass ein Mann in unserem Dorf, den ich flüchtig, Danièle aber recht innig kannte und der mir deshalb trotzdem irgendwie nahe stand, ganz plötzlich an einem Hirnschlag verstorben ist. Alles steht still in einem solchen Moment. Das Herz tut weh und das Gehirn sieht die Fruchtlosigkeit ein, nach Antworten und Erklärungen zu suchen. Stille ist die Folge. Eine Stille, die das Erschlagende des Unausweichlichen hat und die Leichtigkeit eines Traums, der sich in etwas absolut Neues hinein öffnet.
Etwas Schreckliches ist geschehen, wenn ich an die noch junge Frau des Mannes denke und an seine zwei Kinder. Meine Augen füllen sich mit Tränen dabei. Und doch ist mein Herz erfüllt vom andern, das ich gleichzeitig sehe, dass darin nämlich ein Auftakt liegt, eine Chance, ein Ausbreitender Flügel der Wahrnehmung, für den Flug in etwas Neues hinein. Der Schmerz in der Brust ist die alte Geschichte, man kann an ihm, an ihr festhalten. Die Sehnsucht darin eröffnet einen anderen Raum, die neue Geschichte. Einen Raum der Liebe, welche dem Tod nicht nur trotzt, sondern ihn besiegt.
S. 383


Samuel Widmer Nicolet: Der Gesang des Begnadeten/ von der unendlichen Liebe (The Song of the Blessed One/ about love infinite), Samuel-Shri-Prem-Avinash-Gita, Meditationen, Basic Editions, 2017
Liebe ist endgültig
wie der Tod.
Wo nicht mehr klar ist,
ob das Allerinnerste
ein Inneres oder
ein von aussen Kommendes ist,
findet sich die Qualität
der Unausweichlichkeit.

In der Welt ist
das Unausweichliche
ein Schreckliches,
weil niemand darin
seine Heimat bauen will.
Im Innersten ist
das Unabwendbare
voller Schönheit.

Schicksal ist Unausweichlichkeit.
Weil wir nicht darin
füreinander Heimat bauen,
weil wir es fliehen,
ist das Unausweichliche
dort, wo es sich zeigt,
in Krieg, Krankheit und Tod,
tatsächlich ein Schreckliches.
S. 102

Ein Leben, das nur den Tod
als letzten Ausweg kennt
und mit ganzer Hingabe
gelebt wird, ist erst
ein glückliches, reiches Leben.
Das Mass der darin genommenen
Enge und Unausweichlichkeit
bestimmt die Weite des Himmels,
in welcher der Geist frei fliegt.

Hingabe und Ergebenheit
begleiten das Glück.
Wo sie zu finden sind,
taucht das Glück gerne auf.
Gelassenheit lebt mit dem Tod,
der die Liebe bringt.

Gelassenheit wendet sich
dem Unbekannten zu,
dem einzigen, was immer neu ist.
Sie lebt mit der beständigen Zerstörung
von allem Gewohnten.
Daraus erhebt sich das Einzige,
was immer frisch, immer lebendig,
immer unverbraucht ist,
die Liebe.
S. 120


Samuel Widmer Nicolet: … der Tod hingegen ist ein Morgen/ Sterben - Tagebuchnotizen von Samuel Widmer Nicolet, Autobiographisch, Basic Editions, 2015
Sterben und Tod beinhalten die ultimative und unausweichliche Konfrontation mit Wirklichkeit. Der Durchschnittsmensch versucht dieser ein Leben lang auszuweichen. Darum ist er am Ende dem Tod nicht gewachsen, kann er vor diesem nicht bestehen. Daher wird ihn der Tod auslöschen, seine Energie zerschlagen und zerstreuen.
S. 56

Sterben zu lernen, heisst, seine Geschichte gut zu rekapitulieren. Die bewusste Rekapitulation aller Geschehnisse eines Lebens ist es, die zur Integration der tiefen Gefühle in uns führt. Ihre völlige Akzeptanz, das still werden Können mit ihnen, erwirkt in uns schliesslich diese Fähigkeit zur Hingabe, die sich auch dem Tod als dem ultimativ Unausweichlichen willig stellen kann. Allen Gefühlen im Verlaufe des Lebens in sich Platz zu geben, entspricht dem Sterbeprozess, als der unser Dasein angelegt ist.
S. 116


1) Gedicht zur Geburt von Danièles und Samuels Sohn Joshuan. Aus: Samuel Widmer Nicolet: Stell dir vor, du wärst ein Stück Natur, Von der Lust am Verbotenen, Basic Editions 1995, S. 14