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Newsletter 1/2023 - Mitgefühl
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Februar 2023

G

lobales Denken ist sanftmütig und demütig.
Es kommt aus dem tiefen Verstehen,
dass ich und die Welt eins sind,
das du und ich nicht getrennt sein können,
dass dein Glück mein Glück und
dein Unglück mein Unglück,
dass wir unzertrennlich sind.
Globales Denken ist Mitgefühl (1)



Liebende sind wir, wenn wir jedem, dem wir begegnen
und jedem, der uns in den Sinn kommt, unter allen Umstanden
mit Mitgefühl und Verständnis gegenüber stehen können.
Im Irrgarten der Lust, Samuel Widmer





Liebe Leser

Nach vier "unendlich" langen Jahren durften wir über Weihnachten wieder nach Indien reisen, zu unseren Freunden in das magische Neredu Valley. Nun ist der Ort nicht nur magisch, sondern auch wunderschön grün geworden. Dank der starken Regenfälle der letzten zwei Jahre und die von unseren Freunden betriebene Aufforstung des letzten Jahrzehnts ist Neredu Valley ein Paradies für viele Vogelarten, Schmetterlinge, Eichhörnchen, Kröten, Blumen und Pflanzen, und natürlich auch für uns Menschen, geworden.
Wir haben uns dort erholt, Sonne, Wärme, Stille und Ruhe getankt und auch gefeiert. Zuerst das ersehnte Wiedersehen mit unseren indischen Freunden in einem Workshop zum Thema „Gemeinschaft als Aufgabe“ und zum Schluss der Höhenpunkt der dreijährigen Ausbildung in Psycholytischer Psychotherapie mit der Abschlusswoche und Diplomierung.

Es waren Feste der Freundschaft, der Liebe, des Zusammenseins, des Einheitsgefühls…. Und dennoch, oder deshalb, nie wie dieses Jahr hat mich dort das Gefälle zwischen den indischen Klassen, die Ungerechtigkeit und Ungleichheit unter den Menschen, konfrontiert. In Indien (über)leben fast 70% der Leute mit weniger als 2 Dollar pro Tag, während sich die Mittel- und Oberschicht einen Lebensstandard leistet, von dem wir manchmal auch nur träumen können. Wenn man unsere Freunde fragt, wie man als Mittelschichtinder leben kann, während die Mehrheit in den ärmsten Verhältnissen lebt, sagen sie, es sei halt so, man könne eh nichts dagegen tun, ausser schauen, dass die eigenen Angestellte es besser haben als andere. Und in Neredu geniessen die Angestellten tatsächlich bessere Arbeitsbedingungen, aber trotzdem… sie bleiben arm, mit keinen Perspektiven in diesem Leben der Armut zu entkommen, da sie nie in der Schule waren und weder lesen noch schreiben können. Ihre Kinder sind die erste (!) Generation, die in die Schule gehen kann, weil nun die Kosten für alle bis zur Sekundarschule vom Staat übernommen werden. Und das im 21. Jahrhundert in einem Land, das ganz stolz Gastgeber des G20 in 2023 sein wird. Ist es nicht zum Amoklaufen?

Es ist für mich persönlich schwierig, die Ohnmacht zu nehmen, wenn ich solche Sachen höre. Ich kriege grad Lust, eine Revolution zu machen. Tatsache ist aber auch, dass die indische gesellschaftliche Struktur auf eine jahrtausendalte Kastentradition beruht, und vielleicht noch so viele Jahrtausende nötig sein werden, um ein Bewusstsein von Liebe und Mitgefühl, Gleichheit und Gerechtigkeit zu entwickeln. Trauriger, unbegreiflich und entsetzlich ist für mich, wenn das mangelnde Mitgefühl aus unseren Breitengraden kommt. Man empört sich nicht über die Lebensbedingungen der indischen Mitmenschen, sondern versteckt sich hinter Aussagen wie "Ist es nicht die typische europäische Arroganz, zu denken, dass sie es unter unseren Lebensbedingungen besser hätten? Sie sind ja glücklich". Ja, Arroganz haben die europäischen Kolonialisten in den letzten Jahrhunderten zur genüge gezeigt, und ja, vielleicht sind diese Leute glücklich und haben keine besonderen Wünsche, solange genug Nahrung für ihre Kinder da ist. Aber nein, arrogant sind genau diese Aussagen! Ob es Arroganz, mangelndes Mitgefühl, Egoismus, Unbewusstheit ist, oder von allem ein wenig, spielt auch keine Rolle. Traurig ist es auf jeden Fall.
"Man sollte öfters in diese Ländern reisen, um zu merken, wie gut wir es in der Schweiz haben", hat mir mein 20-jähriger Stiefsohn Camille kurz vor seiner Abreise aus Indien gesagt. Ja, aber nur wenn man mit einem offenen Herz, voll Liebe und Mitgefühl, reist.

Lasst in euch das Mitgefühl erwachen!

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi

Bevorstehende Termine des Hofs zur Kirschblüte
  • In Februar findet das Seminar "Das Allerinnerste – vom Duft des Ankommens" zum Thema "Glück/ Glücksfähigkeit" statt.
  • Die nächste Online-Meditationen< findet am 15. Februar 2023 statt.
  • Im März findet wieder ein Kleingruppenseminar statt.
  • Vom 8. - 22. April 2023 geht es für ein Seminar in die Weisse Wüste Ägyptens.
  • Vom 23.-25.Juni 2023 organisiert die Ärztegesellschaft Avanti in Zusammenarbeit mit der Kirschblütegemeinschaft das sechste internationale Kongress für Echte Psychotherapie, Psycholyse und Alternative Psychiatrie zum Thema „Bewusstseinserweiterung, Schamanismus und Heilung - Psychoaktive Substanzen in der Psychotherapie“.
  • Im November 2023 beginnt eine neue Ausbildung in Psycholytischer Psychotherapie unter der Leitung von Danièle Nicolet Widmer.
  • Im April 2024 findet wieder aufgrund grosser Nachfrage ein Seminar zum Thema Zärtlichkeit.
  • In Kolumbien werden wir wieder im Oktober 2024 sein, in Indien wieder im Dezember 2024.
Die Programmübersicht mit den Angeboten bis Ende 2023 findet ihr jeweils hier: https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.

Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden. Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis. Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch) oder auf dem Facebook-Kanal der Kirschblütengemeinschaft (https://www.facebook.com/Kirschbluetengemeinschaft).


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Sag mir Liebste, was ist das Leben? Und sag mir Liebster, was ist der Tod? - Ein Briefwechsel zwischen Liebenden (zusammen mit Danièle Nicolet), Basic Editions, 2003
Der Durchschnittsmensch kennt nicht einmal das Reich der Gefühle wirklich. Man muss schon tief gründen, um die ganze Schönheit dieses Bereichs des eigentlich Menschlichen zu erfassen, zu sehen, dass hinter jedem Gefühl, das mich zuerst ängstigt, sich etwas Wunderbares versteckt, Ehrfurcht hinter der Angst zum Beispiel, Kraft hinter dem Trotz, Mitgefühl hinter dem Traurigsein und das Geheimnis der Geheimnisse schliesslich hinter der Einsamkeit. Aber da ist dieses ganz andere Reich, das aus der Sicht des Gewöhnlichen bestenfalls wie ein Märchen, wenn nicht gar wie ein wahnhaftes Gedankenkonstrukt erscheint. Aber hinter dem Tor, wenn du zurückschaust, siehst du nur Verrücktheit, wirklichen Wahn, und wenn du vorwärts schaust, nur Wirklichkeit.
S. 139

[Danièle] Die Frage, die mich darin dann berührt, ist die:
Wie weit darf man sich denn lösen vom Menschlichen, um ihm dennoch ganz dienen zu können?
Oder vielleicht eher: Was ist denn Egoismus, Uneingelassensein und Verweigerung, die sich schützen will vor all dem Leid, das kein Mitgefühl kennt, und wo ist denn im göttlichen Bewusstsein die Wärme und das Mitgefühl?
Ich fühle, dass die Ganzheit wächst, je weniger Identifikation es gibt in meinem Sein. Der liebe Gott identifiziert sich mit keiner und keinem, schaut ohne Reaktion und in Gelassenheit auf unser ärmliches, verwirrtes Treiben; aber wo ist darin das Herz? Wo kommt die Wärme her, die Mitgefühl hervorbringt?
Manchmal kommt mir «Ganz»-Sein, Still-Sein so kühl und weit vor wie der Wind, der durch das Universum zieht…!
Gehört Mitgefühl allein dem Menschen? Und, ist es nicht das, was immer wieder die Verantwortlich¬keit in einem erneuert? Muss man sich um das Mitgefühl kümmern, oder ist es eher so, dass es von selbst erblüht aus der Leidenschaft? Und wo kommt die Leidenschaft her in dieser Losgelöstheit, die entsteht, wenn Bindung an das menschliche Elend mehr und mehr gelöst wird –?
S. 149

Du sagst, liebe Danièle, dass im Zustand der Losgelöstheit, in dem man alle Identifikation aufgegeben und sich mit der Unendlichkeit vermählt hat, das Mitgefühlt fehlt, dass er ein Zustand ist von Kühle und Weite, von eiskalter Unerbittlichkeit, von völligem Alleinsein. So nehme ich es auch wahr. Er ist der Zustand Gottes, wenn man dieses Bild bemühen will, ein Zustand von Ganzheit, von Stille und Einssein, den etwas in uns unaufhörlich anstrebt. Trotzdem würde ich ihn nicht als mitgefühllos erleben. Im Gegenteil, in seiner Essenz ist er genau Mitgefühl. Gemeinhin verstehen wir Menschen unter Mitgefühl ein irgendwie gutgemeintes oder verzweifeltes Sich-Identifizieren mit dem Leiden eines andern. Mitgefühl geht aber viel tiefer. Mitgefühl ist ein Einssein mit dem andern, ein ihn ganz und gar Fühlen, als wärst du er selbst. Im Zustand der Einheit und Ganzheit ist diese Losgelöstheit von sich selbst so auf die Spitze getrieben, dass nur noch das Gefühl des Ganzen bleibt. In diesem Gefühl des Ganzen ist aber der Bereich des Menschlichen fast vernachlässigbar klein; und das da draussen, dieses eine grosse Mysterium durchzieht wirklich ein kühler Wind.
In der Tantrawoche im letzten Oktober hatte ich dieses einschneidende, nächtliche Erlebnis, in dem ich von einem inneren Helfer in eine spezielle Situation in einem Armenviertel nächtlicherweise in einer dunklen Stadt geführt wurde. Alles in mir wollte das Kind, das ich dort schreien hörte, weil es geschlagen wurde, beschützen. Es war ein fast unwiderstehlicher Sog dahin. Gleichzeitig erkannte ich aber, dass dies, wenn ich ihm nachgeben würde, zu einer unguten Verwicklung und letztlich wenig hilfreichen Situation führen würde. Der Zustand meines nächtlichen Begleiters, der ein vorurteilsloser Zeuge war, absolut eins mit der Situation, aber ohne Handlungsimpuls, schien darin die Lösung. Wenn ich mir dieses Geschehen oder ähnliche Episoden aus meinem Alltag genauer anschaue, sehe ich, dass mein unwiderstehlicher Hang, mich reinzuschmeissen und andere retten zu wollen, nicht aus Mitgefühl, sondern tatsächlich aus einem Mangel an Mitgefühl kommt. Ich kann etwas in mir nicht ertragen, deshalb kann ich nicht bis in alle Tiefe mit dem andern mitfühlen, bis dahin, wo ich erkenne und sehe, dass er mein Eingreifen nicht wirklich braucht. Da ist noch etwas in mir, das zu wenig rekapituliert ist, etwas, was im Stich gelassen war als Kind oder auch überhaupt, das nach dem Vater schreit, der nicht da war, um mich zu beschützen. Dieses Unaufgelöste will sich identifizieren mit dem Leid des andern und schreit nach Gerechtigkeit für ihn, da, wo die am eigenen Leib erfahrene Ungerechtigkeit noch nicht ganz genommen ist. Damit bin ich hier beschäftigt, Liebste, diesen Rest an Einsamkeit aus mir auszuräumen. Identifikation ist nicht Mitgefühl. Identifikation kommt genau daraus, dass ich noch nicht hundertprozentig in mich hinein- und darum mit dem andern mitfühlen kann. Vollständiges Mitgefühl hat kein Mitleid mehr, weil es kein Selbstmitleid mehr kennt. In diesem Zustand ist man ein vorurteilsloser Zeuge. Man mischt sich nicht ein. Man schaut aus dem Auge Gottes, voller Leidenschaft, und man sieht, dass es nichts zu tun gibt. Alles ist so, wie es sein muss. Alles entfaltet sich folgerichtig. Es gibt darin keinen Irrtum, auch wenn ich dies in meiner Beschränktheit vielleicht in Bezug auf eine bestimmte Situation nicht sehen kann. Mitgefühl ist tatsächlich dieser andere Zustand, in dem ich völlig durchdrungen bin vom Du, so sehr eins bin mit allem, dass ich darin unentwegt die Quelle berühre.
Und die Quelle ist Stille, Losgelöstheit, ein kühler Wind. Und sie liegt jenseits vom Menschlichen oder vielmehr umfasst sie das Menschliche als Teil, der in ihr fast ohne Bedeutung erscheint. Das macht dann, dass mit dem menschlichen Auge geschaut, der Zustand Gottes ein Zustand ohne Mitgefühl zu sein scheint. Die Quelle ist Mitgefühl pur, man muss sich nicht darum kümmern.
S. 155

Was mir in diesem Prozess auffällt ist, dass ich gelassener und geduldiger werde mit den Menschen, je mehr ich ausserhalb stehe: Jede gelöste Bindung und jede transformierte Abhängigkeit lässt in mir mehr Mitgefühl zu den Menschen aufblühen. Ich sehe, Mitgefühl ist ein Zustand grosser Nüchternheit, in welchem alle Enttäuschung, alle Verletzung und Einsamkeit zu einem Ende gekommen ist. Ich grenze mich darin nicht ab vom Menschlichen, weil ich von diesem enttäuscht wäre, sondern ich stelle mich ihm ganz und gar, bis in mir diesbezüglich alles, alles zur Ruhe gekommen ist. Dann wachse ich darüber hinaus und es bildet lediglich den Boden, von welchem aus ich immer wieder zu Flügen ins Unermessliche abhebe…
S. 200


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Erneuerung von uns selbst und unserer Welt, Briefe an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis, Basic Editions, 2018
Nur wer allein stehen kann, wird den Zugang zu tiefem und echtem Glücklichsein, das immer mit vollkommenem und allumfassendem Mitgefühl zusammengeht, finden. Wer ein abgespaltenes Vergnügen sucht, wird niemals mit wahrem Glück in Berührung kommen. Er hat schlicht keine Ahnung davon.
S. 31

Tantra verstehe ich als den Prozess des Erwachens dafür und der Bewusstwerdung darüber, dass alles eins und aus Liebe gemacht ist. Es ist wie Meditation ein Weg, auf dem man sich schliesslich „jedes Lidschlags gewahr“ wird und entdeckt, dass genau dieses umfassende Gewahrsein die Stim¬mung der Erleuchtung und des Kriegers im Wesentlichen ausmacht, da es schliesslich alle Emotion hinter sich lässt und zentriert bleibt im Raum der reinen Wahrnehmung, des einen Gefühls.
Womit wir einmal mehr wieder bei der Liebe wären, bei Liebe und Mitgefühl, dem Weg und dem Ziel des ganzen Unternehmens Selbsterkenntnis. Denn um Liebe und Mitgefühl geht es im Tantra und nicht etwa um Lust und Ekstase, wie viele verirrte Tantrikas meinen. Obwohl Lust und Ekstase natürlich in der Liebe umschlossen sind und sogar zu ihrem Höhepunkt geführt werden. Lust und Ekstase generieren, für sich selbst angestrebt, hingegen lediglich mit Leid und Angst verbundenes und halbherziges Vergnügen. Lust und Ekstase dürfen im Tantra sowie im ganzen Leben nicht an erster Stelle, nicht vor der Liebe stehen, sonst verkommen sie zum seichten Vergnügen. Sie sind als Nebenprodukt von Liebe und Mitgefühl gedacht und erreichen lediglich in dieser Nebenrolle ihr Maximum. Diese Überlegungen stossen uns unmittelbar auf eines der wichtigsten Themen der Basisarbeit der Selbsterkenntnis, der wir uns bald zuwenden werden, dem menschlichen Drang, Vergnügen mit Liebe zu verwechseln.
S. 112

Das Allerinnerste ist Einheit. Es drückt sich aus in Liebe und Mitgefühl. Es ist Heimat und Ankommen, schenkt Freude und Glück und ist bezüglich allen Handelns Gelassenheit und Stille. Seine Qualitäten zu beschreiben, hat kein Ende. Das Nennen aller erdenklichen Tugenden würdigt es nur ungenügend. Es ist das Heilige, die Ganzheit, die Offenbarung.
S. 274


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Der Gesang des Begnadeten/ von der unendlichen Liebe (The Song of the Blessed One/ about love infinite), Samuel-Shri-Prem-Avinash-Gita, Meditationen, Basic Editions, 2017
Was wäre höchstes Wissen wert,
wenn es nicht Mitgefühl
in mir wecken würde?
Das höchste Wissen,
dass alles Bewusstsein ist,
alles eines ist, schliesst ein,
dass alles auch Liebe ist.
Wo wäre darin ein Unterschied?
S. 44

Jeden Traum zu lieben,
heisst, das Eine zu lieben.
Das Eine zu lieben,
bedeutet, jeden Traum zu lieben,
den dieses gebiert.
Mitgefühl lässt deinen Traum
zum meinen werden
und zum einen Traum damit.

Könnte Mitgefühl, mein Mitgefühl,
dich im Tiefsten treffen
und gar in deinen Körper gleiten,
um deinen Traum zu vollenden?
Könnte Mitgefühl, dein Mitgefühl,
mich im Tiefsten finden wollen
und mein Leben verklären
zum einen Traum?

In der Natur geschieht
alles von selbst.
Nichts wird getan.
Nur der Mensch meint
immer etwas tun zu müssen.
Hätte er ein Gefühl, ein Mitgefühl
für das, was geschieht,
würde sich alles harmonisch entfalten.
S. 47

Zuerst das Aufsteigen
in die Einheit,
das ist der Pfad der Weisheit.
Danach das Heruntersteigen
in die Form,
das ist der Weg des Mitgefühls.
Die Weisheit sieht,
dass das Viele eins ist,

das Mitgefühl erkennt,
dass das Eine identisch ist
mit dem Vielen.
Das eine Herz, der eine Geist,
das ist die Vereinigung
von beidem.
Die Dualität wird an ihrem Ursprung
wieder überwunden.
S. 72

Liebe ist Mitgefühl.
Mitgefühl ist ein Einssein
mit dem anderen,
die Fähigkeit, energetisch,
gefühlsmässig seinen Schmerz,
sein Leid, seine Angst,
sein ganzes Sein mitzufühlen.
Mitgefühl ist Liebe.

Mitgefühl ist Liebe, die sich mit dem Schmerz
über die menschliche Tragik
gepaart hat, eine Leidenschaft,
die für Wahrheit und Wirklichkeit geht
und nicht locker lässt,
bevor alles wirklich gut ist.
Die bereit ist zu tragen und
zu transformieren, bis nur das Gute bleibt.
S. 105


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Liebe - Bilder, Gedichte und kleine Meditationen, Basic Editions, 2014
Die Leidenschaft der Liebe wird aus dem Leiden geboren, das wir nicht länger ausagieren, sondern dem wir stattdessen stillhalten. Aus der Gesamtheit der Gefühle, für die wir eine Sackgasse werden. Die Bereitschaft, das Leiden, den Schmerz der anderen, der Menschheit letztlich, in uns zu tragen, weckt das Mitgefühl in uns, eine Leidenschaft, die sich über das Leiden erhebt und unser Herz mit Liebe füllt.
S. 83


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Kriegerschule / Die Kriegertexte, Sachbuch Spiritualität, Basic Editions, 2010
Die grösste Tat des Kriegers ist es, die Beschäftigung mit dem Selbst in sich schliesslich zu beenden. Irgendwann kommt die Stunde, da er im Prozess der Selbsterkenntnis soweit gegangen ist, dass er wahrhaftig sagen kann, alles gesehen und verstanden zu haben. An diesem Punkt entscheidet er sich, die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der Angst, mit dem Widerstand, mit dem Leid überhaupt zu beenden. Er lässt sich nicht mehr darauf ein. Er hat das gesehen und die Fruchtlosigkeit davon verstanden. Darum hat er die Freiheit, mit dem allem Schluss zu machen, darum setzt er dem allem ein Ende in sich. Damit findet er seine Ganzheit. Das Schwierigste, worum er gerungen hat, die Stimmung des Kriegers in sich definitiv zu etablieren, ist ihm gelungen. Er ist frei. Er sieht alles, und doch kann ihn nichts mehr von dieser inneren Freiheit abbringen. Alles begleitet er nun mit seiner inneren Stille, mit seiner schweigenden Wahrnehmung, ohne je wieder da rauszufallen. Gelassen und friedvoll, voller Mitgefühl und Nüchternheit, folgt er fortan den Wegen seines Schicksals.
S. 40

Was bringt uns eigentlich die Haltung des Kriegers im Unterschied zur Lebenshaltung des Durchsch¬nittsmenschen?
Die normalen, gewöhnlichen inneren Reaktionen des Menschen sind eigentlich sehr einfach: Auf etwas, was wir nicht wollen, reagieren wir mit Widerstand, auf etwas, was gefährlich ist, mit Angst, und, wenn wir etwas verlieren, mit Trauer und Schmerz. Wenn wir hingegen entspannt und zufrieden sind, spüren wir Liebe und Mitgefühl. Das ist unser gewöhnliches Selbst. So sind wir.
S. 51

Ein Krieger ist unfähig, Mitleid zu empfinden, weil er sich selbst nicht mehr Leid tut. Umso mehr ist er voller Mitgefühl, was ganz und gar nicht dasselbe ist.
S. 64


Aus: Samuel Widmer: Stell dir vor, du wärst ein Stück Natur, Von der Lust am Verbotenem, 1995, 2. Auflage Basic Editions, 2021
Wenn wir ohne Regung, mit der Angst einfach sind, mit dem Leid einfach sind, mit dem, was ist, einfach sind, werden wir nun immer tiefer eindringen in das, was wirklich ist im kollektiven Bereich.
Der gleiche Prozess der zuerst in uns stattgefunden hat, findet noch einmal statt im Kollektiven. Wir beginnen den ganzen Prozess zu verstehen, die ganze Welt, das ganze Leiden der Menschheit mit seinen Auswüchsen. Wir durchdringen allmählich alle Illusionen, in welchen die "wirkliche" Wirklichkeit gefangen ist. Und weil wir spüren, dass wir damit unausweichlich, unzertrennlich verbunden sind, erwachen in uns Mitgefühl und Liebe, die uns befähigen, end¬los dranzubleiben, endlos zu tragen, bis alles abgetragen ist.
S. 75

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Letters to the World/ Briefe an die Welt, Briefe, Basic Editions, 2009
Aus dem dritten Brief an die Welt
Was es braucht ist eine innere Revolution, das Erwachen der Liebe, des Mitgefühls, des Gemeinschaftsgeistes in jedem Einzelnen. Das kommt immer wieder zuerst. Nur Selbsterkenntnis wird dieses Erwachen bringen. Aber dieses Erwachen mündet schliesslich in gemeinsame Aktion, welche die Welt verändern wird, in eine umfassende, äussere Revolution, in eine Umgestaltung unseres ganzen Lebens. Vom Wunder, vom Wunder der Liebe, das uns Menschen möglich ist und das wir zusammen auf unserem Planeten bewirken könnten und auch werden, haben wir noch kaum eine Ahnung. Auf sein Erblühen warten wir.
S. 40

Aus dem Brief an die Armen
Unser heutiges System, das kapitalistische, das wirtschaftliche System, beruht auf einer grossen Lüge, auf einem Aberglauben, der nie in Frage gestellt wird. Es ist daher zur Religion verkommen, in welcher der Mammon unser Gott ist. Wir sind überzeugt, dass das eigennützige Streben aller schliesslich ganz von selbst allgemeine Wohlfahrt hervorbringen wird. Das ist aber nicht wahr. Womit man anfängt, das hat man auch am Ende eines Prozesses. Wenn wir mit Gier, Ehrgeiz und Konkurrenz beginnen, werden sie sich unterwegs zu riesigen Monstern auswachsen, wie wir es heute kennen. Wenn wir etwas anderes wollen, werden wir uns ändern müssen, innerlich erneuern müssen, reifen müssen, uns besinnen auf die Intelligenz von Liebe und Mitgefühl, die allein die Probleme der Menschheit und des Lebens lösen kann.
Es ist auch nicht so, dass ein neues, faires Geldsystem, ein gesellschaftliches System, das vom Ganzen ausgeht und jeden berücksichtig und einschliesst, die Armut einfach beseitigen und uns alle zu fetten, reichen, überfressenen Rüpeln machen wird. Im Gegenteil werden wir, wenn wir uns endlich um Selbsterkenntnis, um Liebe und Mitgefühl, um ein Miteinander und Füreinander kümmern werden, die Würde, ja die Schönheit der Armut entdecken. Wir werden alle innerlich arm werden, bescheiden, demütig, anspruchslos. Keiner wird länger mehr für sich beanspruchen, als er braucht, keiner wird länger nach Ersatz streben für das Glück des Einsseins und der Verbundenheit, das uns heute fehlt. Wirkliche Gemeinschaft wird uns etwas schenken, was all unser Fragen, unser Suchen, unser Wünschen schliesslich stillen wird. Ein Alleinstehen im Ganzen wird unser ganzes Sein zur Blüte bringen und die heutige Einsamkeit, das heutige Verlorensein der Isolation, der Ich-Bezogenheit aus uns vertreiben. Nur aus der inneren Einfachheit, der inneren Stille, der inneren Leere und Armut, die daraus kommen, kann man die Wahrheit eines Lebens erkennen, das ohne jeden Konflikt ist.
S. 84

Aus dem Brief an die Toten
Gerne würde ich euch fragen, wie es früher war. Vor allem viel, viel früher. Ob es schon mal eine Zeit gab, in welcher der Mensch und seine Gemeinschaft heil und ganz gewesen sind, zum Beispiel, in der die menschliche Gesellschaft erblühte in Liebe und Mitgefühl. Oder warum dies verloren gegangen ist, wenn es je da war beziehungsweise warum es bisher nicht heranwachsen konnte, was im Wege stand. Auch über diese Fragen wird viel spekuliert.
Aber was die Toten betrifft, können die Lebendigen sagen, was sie wollen; diese wehren sich nicht. Darum wurden ja auch seit jeher unter uns Menschen die Toten mehr verehrt als die Lebendigen: Man kann mit ihnen machen, was man will. Aber ich fürchte, es gab gar nie eine Zeit, in der sich die Liebe und das Mitgefühl grossflächig auf der Erde ausbreiteten. Ich finde bei der inneren Tiefenforschung nichts Derartiges in mir.
Ich finde funktionale Stammeskulte, Hoch-Zeiten, in denen Kulturen effizient funktionierten, aber nie basierte euer Zusammensein, genauso wenig wie das unsere, auf Liebe. Das ist immer noch Zukunft. Eine Zukunft, von der wir hoffen, aber nicht wissen, ob sie je kommen wird.
S. 153

Aus dem Brief an die Kommenden
Wisst ihr eigentlich schon, was unsere Aufgabe ist, was eure Aufgabe sein wird? Weiss man es da, wo ihr auf euer Kommen wartet, eventuell gar besser? Und vergisst es dummerweise dann, sobald man hier den Altlasten ausgesetzt wird? Oder gibt es kein Dort, wo ihr seid? Ist Dort nur die grosse Leere, dieselbe, die uns vielleicht nach unserem Tode erwartet, was immer wir hier geleistet haben?
Nun, unsere Aufgabe ist es – jedenfalls vorläufig noch –, die vorderste Front im evolutionären Prozess zu bilden. Das Unerklärliche, das was macht, dass etwas ist und nicht nichts ist, das was macht, dass wir lebendig sind und Bewusstsein haben, will sich seiner selbst bewusst werden. Gewahrsein ist wie ein Licht, es schlummert in allem als Unbewusstes. Wenn es zu Bewusstsein erwacht, geschieht ein Wunder. Ein Licht geht an, das Licht von Liebe und Mitgefühl. Unsere Aufgabe – immer schon –, um die wir ringen, besteht darin, dieses Licht auf unserem ganzen Planeten zum Leuchten zu bringen, in die dunkelsten Ecken der Menschheit und der Erde zu tragen. Gott denkt uns – immer schon – als einen Stern, blühend in Liebe und Mitgefühl. Aber es ist unsere Aufgabe, dies zu vollbringen. Dies zu vollbringen, indem wir dafür erwachen.
S. 158

Aus dem Brief an die Erwachten
Nehmen wir uns wichtig? Geht es uns um Macht?
Die Macht ist das, was am Ende der Reise des Erwachens, der Selbsterkenntnis noch zu überwinden ist, nicht wahr?
Erwachen tun wir für die Kraft, für die Macht des Universums, der Evolution, für die Intelligenz, die hinter allem steht, für etwas ganz Grosses und Gewaltiges. Das Erwachen führt dazu, dass wir das sind. Dass wir Liebe und Mitgefühl sind, die Träger davon. Uns ist es gegeben, die Liebe anzuführen, sie zu verantworten. Wir folgen ihren Wegen so total, dass wir schliesslich eingeladen werden, sie anzuführen, sie gar zu lenken.
S. 166

Aus dem Brief an die Rechten
Mitgefühl bedeutet, verstanden zu haben, dass das Schicksal uns an jeden Platz stellen könnte, und bereit zu sein, ihn allenfalls mit Freuden einzunehmen. Mit Freuden, weil uns die Gewissheit erfüllt, dass wir an jedem Platz wieder das Beste daraus machen würden, glücklich sein würden, fürs Ganze erwachen würden.
S. 198


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen, Basic Editions, 2005
Zuerst kommt das Aufsteigen in die Einheit, das ist der Pfad der Weisheit. Und danach kommt wieder das Heruntersteigen in die Form, das ist der Weg des Mitgefühls. Beides gehört zusammen. Die Weisheit sieht, dass das Viele eins ist, das Mitgefühl umgekehrt erkennt, dass das Eine identisch ist mit dem Vielen. Das eine Herz, der eine Geist, das ist die Vereinigung von beidem.
S. 19

Ein weiterer Aspekt der Liebe ist zum Beispiel, dass sie den anderen den Freundschaftsdienst nicht schuldig bleibt. Das heisst, sie ist fähig, Schmerz zuzufügen, da wo es notwendig ist. Sie trägt den anderen zwar in diesem Schmerz, sie leidet mit ihm im Mitgefühl, aber sie vermeidet nicht, dem anderen die schwierigen Gefühle in der Beziehung zuzumuten, die daraus resultieren, dass dieser falsche Bilder hat, die korrigiert werden müssen. Die Gefühle zuzumuten, an denen der andere wachsen kann.
Liebe ist Mitgefühl, oder zumindest eine Vorstufe davon. Mitgefühl ist kein nettes Gefühl zum anderen hin, sondern ein Einssein mit ihm; die Fähigkeit, energetisch, gefühlsmässig seinen Schmerz, sein Leid, seine Angst, sein ganzes Sein mitzufühlen. Mitgefühl ist Liebe, die sich mit dem Schmerz über unsere Tragik gepaart hat, eine Leidenschaft, die für Wahrheit und Wirklichkeit geht und nicht locker lässt, bevor alles, alles wirklich gut ist. Die bereit ist zu tragen und zu transformieren, bis nur noch das Gute bleibt.
S. 21

Ein losgelöster Geist schwebt über allem. Er ist nicht länger verstrickt im Unsinn der Menschen. Er kämpft nicht mehr gegen Ungerechtigkeit und Dummheit, er leidet nicht einmal mehr darunter. Das Traurigsein hat aufgehört. Es ist, wie wenn er die Menschen und ihr Tun von weitem betrachten würde; nicht aus Distanz, sondern mit viel Mitgefühl. Er ist nicht getrennt davon, er ist eins damit. Aber er ist darüber hinausgegangen, umfasst das alles, aber noch viel mehr. In seiner Losgelöstheit wundert er sich über das Menschliche und schwebt selbst im Wunder, im Mysterium des Ganzen, dem er immer und immer wieder im Materiellen eine Verankerung schafft.
S. 48

Normalerweise sind wir identifiziert mit unserer Rolle. Wir nehmen sie total wichtig, total ernst. Das macht unsere Verstrickung aus. Erst wenn wir erkennen, dass wir ein Stück spielen, das von einem unbekannten Regisseur einerseits der Konditionierung, die wir durch unsere Vorfahren über¬nommen haben, andererseits dem lieben Gott bestimmt wird, erst wenn wir aufhören, uns mit der Rolle zu identifizieren, wird uns heitere Gelassenheit möglich, ein Zustand der Losgelöstheit. Wir bilden uns dann nichts mehr darauf ein, wenn wir gerade eine „bessere“ Rolle spielen dürfen, und haben Mitgefühl für jeden, der eine schwierige zu spielen hat. Wir erkennen, dass auch der Mörder, der Verbrecher lebt, so wie er kann – was ihn nicht von seiner Verantwortung entbindet –, und dass auch er am Ende zu seinem Ursprung, zum Allerinnersten zurückkehren wird, um wieder neu mit einer neuen Rolle zu beginnen. Alles, was bleibt aus einer solchen Sicht, ist Mitgefühl in jede Richtung und Losgelöstheit. Schliesslich könnte es ja auch mir beschieden sein, im nächsten Leben – wenn es denn so etwas gibt – die schwierige Rolle des Sexualverbrechers, des Kindermörders über¬nehmen zu müssen. Es könnte sogar sein, dass solche Rollen, die mit viel Ächtung und Ausgeschlossensein einhergehen, besonders anspruchsvolle Parts im Stück sind, die nur relativ reifen Wesen zugeteilt werden, die bereits fähig sind, auch ganz diffizile Gefühle zu integrieren. Was wissen wir schon? Nicht viel auf jeden Fall, solange wir diesen Zustand des Losgelöstseins von allen naturgegebenen oder einkonditionierten Rollenspielen nicht kennen.
S. 49

Diese Art des Denkens ist global, aber nicht nur intellektuell global, sondern geboren aus einem tiefen Mitgefühl für alle Menschen, für die Tiere und Pflanzen, für die ganze Erde, für alles und jedes. Es ist ein unpersönliches Denken. Wir lassen darin zu, dass der universelle Geist sich direkt durch uns ausdrückt. Ein universelles Denken, das von Verantwortung, Mitgefühl und Liebe geprägt ist. Ein ganzheitliches Denken, das alle Zusammenhänge berücksichtigt, alle Gesichtspunkte anerkennt, wendig und flexibel ist und wirkliche Lösungen für jedes Problem findet, weil es aus einer fundamentalen, unpersönlichen Liebe kommt und die Schwierigkeiten tatsächlich lösen will. Es sieht, dass alle menschlichen Schwierigkeiten gelöst werden können. Dass wir sie lediglich nie lösen, weil wir die Lösung nicht wollen, weil wir in unserer Eigensucht die Liebe, aus der die Lösung heraus¬fliessen würde, nicht wollen.
S. 56

Beobachte dich einmal, wie du mit Fliegen umgehst, mit Mücken, mit Spinnen, mit Wespen, mit Bremsen, mit Schnecken oder Ameisen! Mit all den kleinen unbedeutenden Lebewesen, die einen zuweilen belästigen. Man kann viel lernen dabei. Über sich!
Es ist keine Sünde, eine Mücke zu erschlagen. Es ist keine moralische Frage. Manchmal kommt man nicht darum herum, sogar eine Maus zu vergiften oder Ameisen wegzuspülen. Aber tust du es mit Mitgefühl im Herzen, im Bewusstsein, dass du mit Leben umgehst, oder bist du voller Hass dabei, weil du keine Störung dulden kannst, oder hast du gar Freude daran, bereitet es dir Vergnügen zu töten, zu vernichten, Macht auszuüben? Kennst du Stille nur als die unheimliche Ruhe, die einkehrt, wenn alles ausgelöscht ist, was lebendig ist, oder ist Stille für dich das mitfühlende Stillsein mit allem Lebendigsein?
Beobachte dich darin! Schau dir zu! Lerne über dich in diesen alltäglichen Dingen! Das ist Selbsterkenntnis. Es ist keine moralische Frage. Es geht nicht darum, dich zu verurteilen. All das bringt nichts. Es geht darum, sich zu sehen, wie man ist — ohne Mitgefühl zum Beispiel, ohne Dankbarkeit dem Leben gegenüber —, daraus kommt ganz von selbst das Erwachen.
S. 101

Mitgefühl ist eine Eigenschaft des Allerinnersten. Mitgefühl ist die entfaltete Blume aus dem Innersten heraus, seine Ausdehnung bis in die Unermesslichkeit, ein bewusstes Erfassen und Umfassen der Einheit des Ganzen, der Einheit aller Dinge. Wenn Unschuld das Allerinnerste kristallisiert zum Diamanten ist, so ist Mitgefühl eine üppige Blume, deren Duft allen Raum durchdringt und erfüllt.
Ernsthaftigkeit ist eine Qualität des Allerinnersten. Mitgefühl geht zusammen mit einer tiefen Ernsthaftigkeit. Ernsthaftigkeit hat nichts zu tun mit Humorlosigkeit, im Gegenteil, sondern sie ist ein Erkennen und ein Eingehen auf die tiefe Bedeutung allen Seins in jedem Wesen. Der Ernsthafte hat alle Oberflächlichkeit hinter sich gelassen, er übergeht nichts, ist allem mit wahrhaftigem Interesse zugewandt. In jedem Menschen, hinter jeder menschlichen Fassade erblickt er die Essenz, das Wesen aller Dinge, mit dem er sich verbindet, mit dem er ein Zusammenwirken sucht, das er ernst nimmt. Ernsthaftigkeit kommt aus dem tiefen Gefühl der Verantwortung, welches das Mitgefühl mit sich bringt.
Verantwortung ist der innerste Gehalt des Allerinnersten. Mitgefühl erkennt das Einssein aller Dinge. Es lebt aus dem einen Herzen, lässt sich leiten vom einen Geist. Es hat begriffen, dass dein Leiden sein Leiden ist, mein Glück sein Glück. Solange nicht alle Menschen glücklich, in Frieden und Harmonie leben, hat es begriffen, solange noch Menschen darben in Elend und Armut, wird die Ekstase auch des erleuchtetsten Geistes nicht vollkommen sein können. Mich um dein Glück zu kümmern wird das meine mehren. Dein Leid zu vermindern wird letztlich meine Freude sein. Mitgefühl hat die Last der Verantwortung für das Ganze, für alles und jedes auf sich genommen. Mitgefühl hat die Berufung zum Boddhisattwatum angenommen. Es sieht. Und es sieht, dass Mein und Dein nicht existent sind, dass in der Tiefe des Allerinnersten Ich und Du nicht getrennt sind. Genau diese illusorische Trennung, in der wir uns der Verantwortung für das andere entheben wollen, verursacht das ganze Leid, an dem die Menschheit krankt.
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1) Aus: Samuel Widmer Nicolet: Der Gesang des Begnadeten/ von der unendlichen Liebe (The Song of the Blessed One/ about love infinite), Samuel-Shri-Prem-Avinash-Gita, Meditationen, Basic Editions, 2017, S. 132