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Newsletter 1/2021 - Die Sehnsucht
.pdf Februar 2021


E

in See
tiefer Sehnsucht
in meinem Herzen

Sehnsucht
nach einer ganzen Welt

in Frieden
in Liebe

Mein Herz
hält die Antwort
immer wieder

Stille

Stille
bis die Sehnsucht
ein Ende hat

Ein See
tiefer Stille
in meinem Herzen (1)



Es gibt keine Vollkommenheit ohne Traurigkeit und Sehnsucht.
Don Juan




Liebe Leser

Danièles Gedichte auf der Vorderseite des letzten Newsletters sollten eine Ahnung davon sein, was schon seit Wochen mein Herz füllt: die Sehnsucht.
Es ist einerseits eine schmerzhafte, sehr persönliche Sehnsucht nach Samuel, nach dem, was war und nicht mehr ist, begleitet von der besonderen Traurigkeit der winterlichen Abschiedszeit und dem Vermissen dieser tiefen, bedingungslosen Liebe, wie ich sie mit ihm erleben durfte.
Und dann sind auch die „erdigen“ Sehnsüchte, z.B. nach absoluter Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, nach Einfachheit im Zusammensein unter den Menschen allgemein und in den ganz konkreten Beziehungen.
Neben diesen materiellen Sehnsüchten, die mich oft daran erinnern, dass ich einfach die Ohnmacht über die Welt und ihre Herausforderungen nicht nehmen kann, gibt es noch eine unpersönlichere, unfassbare Sehnsucht.
Eine Sehnsucht nach etwas, was ich nicht in Worte übersetzen kann, wovon ich nur eine vage Ahnung habe. Ausgelöst vielleicht durch den beharrlich drückenden Nebel der Vorweihnachtszeit – manchmal eine echte Strapaze für meine Tessinerseele –, durch die Absage der Reise nach Indien – deren Gerüche und Stimmung mich schon länger umhüllten –, und eben durch diese besonders traurige Zeit, kam in mir eine Sehnsucht nach weiten, grossen Räumen auf, ein Drang nach etwas Grösserem, Endgültigem, nach einem definitiven Ankommen und Wiedersehen. Nach dem Tod.
In der Zwischenzeit hat der Nebel dem Schnee Platz gemacht, und mit ihm dem Frieden und der Stille. Und gestern beim Spazieren dachte ich, ich wäre so sehnlichst gerne eine Schneeflocke.

Mit einem weissen Gruss

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi

P.S. Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins „Samuel Widmer Nicolets Erbe“ (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden.
Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Rundschreiben (auf Deutsch und Englisch). Nun sind alle Rundschreiben auf Englisch übersetzt!

P.S.2 Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch/), die seit dem 13. November einen neuen Auftritt hat.

P.S.3 Die Praxis Hof zur Kirschblute hat ebenfalls einen neuen Webauftritt (https://hof-zur-kirschbluete.ch). Die Seite wird laufend erweitert und mit neuen Angeboten und Themen ergänzt.


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Sag mir Liebste, was ist das Leben? Und sag mir Liebster, was ist der Tod? - Ein Briefwechsel zwischen Liebenden (zusammen mit Danièle Nicolet), Basic Editions, 2003
Je tiefer ich ins Alleinsein, in die Stille und in die Unermesslichkeit einsinke auf meinem Samoa-Trip, desto mehr packt mich diese Frage, die uns gegenwärtig umtreibt, ob das Menschliche nicht vielleicht die schlechtere Wahl sei, wenn ich mich gleichzeitig dem stellen könnte, was darüber hinausgeht. Viele Fragen beschäftigen mich. Der Zwiespalt, diese heilsame Qual hat mich wieder einmal. Vielleicht weisst du mir Antworten.
Tief in mir drin habe ich eine Sehnsucht entdeckt. Wenn alles still geworden ist, alles beruhigt ist auf allen Ebenen, das Denken still ist, der Körper ausgeruht und entspannt, die Energie auf einem hohen Niveau, aber glatt und alle Emotionen schweigen, dann zeigt sich im Gehirn eine Sehnsucht, ein Gefühl, das ohne Gedanken einfach da ist. Es ist im Herzen spürbar und im ganzen Körper, ein Ziehen, ein Verlangen, eine Sehnsucht. Es richtet sich auf nichts, obwohl man es auf alles projizieren könnte. Es sucht nichts, weder Sex noch Vergnügen noch Erfahrung. Nicht einmal Liebe, Kameradschaft, Zusammensein.
Es will nicht einmal mehr eine bessere Welt, ein anderes Leben. Wenn es überhaupt etwas will, dann etwas noch viel Tieferes. Es will einfach tiefer gründen, tiefer eindringen ins Unbekannte, ohne dass es darum weiss, ohne dass es wüsste, was das bedeuten könnte. Es möchte tiefer gründen im Mysterium des Seins. Tiefer eindringen in das Wunder unseres Seins.
Vielleicht möchte es den Traumkörper erreichen, mit ihm gehen in diese andere Dimension des Seins, in diesen Raum der Freiheit, der freien Bewegung, in dem Zeit und Distanz nicht mehr unüberwindbare Barrieren sind, in dem alles erreichbar ist in einem Augenblick, in dem es keine Grenzen gibt, keine materielle Behinderung und alles möglich ist. Vielleicht möchte es das, dieses Gefühl der Sehnsucht in mir. Aber eigentlich weiss ich es nicht. Eigentlich ist das auch nur eine Vorstellung, mit der es sich verbinden kann. Aber tatsächlich ist es ausgerichtet auf etwas, was jenseits von allen Vorstellungen liegt, ungerichtet, ohne Frage und ohne Antwort. Es möchte einfach tiefer gehen, was immer das heisst.
Und der Weg, das spüre ich, ist weiterhin wie immer schon derselbe: damit sein, einfach mit diesem Gefühl bleiben. Dankbar sein, dass es erwacht ist in mir, und ohne Ungeduld mit ihm still sein, ohne etwas damit zu tun. Bis es sich schliesslich aufschliesst, bis es sich öffnet und das Neue zeigt.
[…]
Die Sehnsucht ist auch eine Art Einsamkeit, die auszutragen ist. Sie ahnt sich ausgeschlossen von etwas, das sie nicht kennt. Und wie jede Einsamkeit ist sie Tor zu dem, wovon sie ausgeschlossen ist, sofern man sie nimmt, sie nicht flieht, sondern beherbergt in sich.
S. 190

Dieser Zustand der Leere auch ist eine Gnade. Aber wenn er immer vorherrschend wäre, wäre darin nicht Stillstand, ein Sich-zufrieden-Geben, ein Sich-Einrichten im Möglichen? Dieser Zweifel meldet sich dann irgendwann und führt über in den anderen Zustand, in dieses leidenschaftliche Brennen mit einer Frage, dieses sehnsüchtige Verlangen nach dem Unmöglichen. Dieser Zustand ist nicht bequem, nicht eigentlich angenehm, aber ich liebe sein Feuer. Er lässt mich oft deprimiert zurück, unglücklich über meine Begrenzung, das Ganze je zu fassen, das Erreichbare auszuschöpfen und das Unerreichbare zu erlangen. Er ist eigentlich ein konflikthafter Zustand, der sich nicht zufrieden geben will mit dem, was ist, der darüber hinaus will. Nicht im Sinne einer Abwehr von dem, was ist, sondern aus einem tiefen Verständnis heraus und einer tiefen Akzeptanz dessen, was ist, des Menschlichen und seiner Beschränktheit. Dieses Verlangen strebt nach dem äussersten Erreichbaren und muss dann immer wieder daran scheitern.
Trotzdem würde mir etwas fehlen, wenn dieses innere Reissen nicht immer wieder käme, mich vorantriebe, nicht zulassen würde, dass ich mich definitiv einrichte, im Bequemen niederlasse. Aber irgendwann meldet sich dann doch der andere Zweifel, ob dieses innere Ringen nicht einfach dem konflikthaften Denken entspringe, dem Ehrgeiz, etwas sein zu wollen, was ich nicht bin. Er führt mich dann wieder ins Loslassen hinein, ins Sich-Ergeben, und daraus kommt dann wieder der erste, der selige Zustand der Unschuld, der gar nichts will und einfach glücklich ist. Ist es gut so, zwischen diesen beiden Zuständen zu wechseln? Ist so das Leben?
S. 194


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Im Irrgarten der Lust - Abschied von der Abhängigkeit/ Die Geburt der Freude: Eine Liebesgeschichte, Sachbuch Psychologie, Basic Editions, 1992
ZUR SEHNSUCHT
Eine Meditation
Geh dorthin, wo du verletzt bist, wo deine Sehnsucht sitzt, wo du Schmerz spurst. Bleibe damit, mach keine Bewegung davon weg. Geh nicht in die Gedanken; bis es zu einem totalen Stillstand in dir kommt. Dann findet dort eine neue Bewegung statt. Lass den Schmerz, die Sehnsucht, das Verletztsein sich ausweiten in dir, bis alles Platz hat in dir. Es findet ein schmerzhafter, sorgfältiger Prozess statt. Du kannst nichts tun, alles was du tust, behindert den Prozess nur. Geh dorthin, wo du hilflos bist, wo du ohnmächtig bist, lass dich tragen, habe Vertrauen. Wenn es ganz ausgeweitet ist, wenn alles Platz hat, ist die Liebe da.
Lass sie zu dir kommen, lass sie da sein. Du hast sie ein Leben lang gesucht, überall, mit allen Mitteln, in den Beziehungen, im Sex, in der Sucht, in der Arbeit. Oft hast du vergessen, dass du sie suchst, dann ist es dir wieder bewusst geworden, doch du hast sie nirgends gefunden. Es gibt sie kaum unter den Menschen, bei deinen Eltern nicht, bei deinem Mann, deiner Frau nicht. Bei deinen Arbeitskollegen nicht, bei deinen Freunden nicht und auch bei dir nicht. Sie hat keinen Platz in unserem Leben, sie ist zu gefährlich. Und doch können wir ohne sie nicht leben. Es gibt sie nicht in deinem Leben.
Wenn du bis dahin gehen kannst, bis zu dieser Einsicht, dann stirbst du, lost du dich auf in dieser totalen Verzweiflung, die zu gross ist, um in dir Platz zu finden. Darum wird da dein Ego gesprengt, und dann ist sie da. Denn sie kann nur da sein, wenn es dich nicht gibt. Sie ist immer schon da gewesen. Sie ist überall. Aber solange es dich gibt, schliesst du dich davon aus. Aber du kannst dich nicht einfach loslassen. Zuerst musst du dich ganz annehmen, ganz seinlassen, sonst endest du nicht in der Liebe sondern im Wahnsinn. Du kannst dich nicht einfach aufgeben, du musst dich hingeben, du musst verschmelzen mit ihr, du musst sie sein, du musst das Gefährliche, Verbotene, Unerwünschte, Verstossene sein. Dann wird sie Wirklichkeit in deinem, in unserem Leben, in unserer Welt. Wenn du die Liebe willst, musst du in dir dorthin gehen, wo du nichts anderes akzeptierst als die wirkliche Liebe, in dir, in deinen Beziehungen, überall. Wenn du dich mit nichts anderem zufrieden gibst, bist du allein, weil sie in unseren Beziehungen nicht existiert. Wenn du aber allein bist, ist sie da.
S. 95

Solange wir noch eine Sehnsucht in uns finden, ist auch eine Angst in uns. Oder solange noch eine Angst in uns ist, ist auch noch eine Sehnsucht in uns. Die Sehnsucht richtet sich letztlich auf das Bedürfnis nach Einssein, nach Einheit, nach Harmonie. Angst besteht letztlich immer vor dieser Auflösung in der Einheit, im Ganzen.
Wenn wir aber tief in uns hineinschauen, wollen wir diese Einheit, diese Auflösung, furchten aber, was wir wollen. Dieses Wollen in sich zu entdecken, heisst den inneren Kontaktpunkt zum Ganzen zu entdecken. Das eigene Wollen, wenn es ganz von egohaften Bestrebungen gesäubert ist und nur dem ursprünglichen, heilen und gesunden Wollen entspricht, entpuppt sich nämlich, gleichzeitig damit, dass ich mir eingestehe, was ICH will, als das, was ES will in mir, und ist somit gleichzeitig die Transzendenz meines Willens. Mein Wille fällt zusammen mit dem Willen des Ganzen.
S. 103

ÜBER FREUNDSCHAFT
Ich will mit Euch meinen Traum von Freundschaft teilen, meine Vision:
Als Kind haben wir alle erfahren, dass wir zu kurz gekommen sind, nicht genug bekommen haben an Liebe und Zuwendung, weil wir umgeben waren von selbstsüchtigen Menschen, die nur mit ihren Problemen, ihrem Ehrgeiz und ähnlichem beschäftigt waren. Daher wurden wir selbst selbstsüchtig, lernten nur für uns zu schauen und zu nehmen, was wir brauchen und verlernten das Schenken und Teilen.
Und so haben wir keine Freunde, sind alle hungrig und hoffen, dass jemand unseren Hunger stillt. Und aus dieser Haltung heraus schaffen und erhalten wir eine Gesellschaft die auf Gier, Geiz und Macht aufgebaut ist, auf Selbstsucht statt auf Liebe und Freundschaft. Da sitzt eine Sehnsucht in uns, und aus der heraus handeln wir ständig.
Handeln aus der Sehnsucht führt aber zu Verwirrung und unguten, das heisst konflikthaften Situationen. Sehnsucht muss ausgehalten, in sich gehalten, nicht ausagiert werden im Handeln.
Handeln muss aus der Freude kommen. Dann entstehen gute, richtige Situationen, die harmlos sind, nichts zerstören, keine Verletzungen hinterlassen. Freude verlangt nach Ausdruck, der kein Ausagieren ist. Sehnsucht, die ausgehalten wird bis ans Ende, löst sich auf in der Freude und kann sich dann in richtigem Handeln entfalten.
Sehnsucht, die nicht bis zum Ende ausgetragen wird, schafft hingegen Leid und Enttäuschung.
Wenn wir die Sehnsucht aushalten, bis sich die Freude entfaltet, entfaltet sich auch unser Traum von Freundschaft, eine neue Gesellschaft, die auf Freigebigkeit und Anteilnahme aufbaut.
Mein Traum sieht so aus: Ich sehne mich nicht mehr so sehr danach, Freunde zu haben, die mir etwas geben, sondern Freunde, mit denen ich teilen kann.
Dabei ist es wichtig, die Grenzen des Traums zu sehen, die Grenzen der andern zu sehen, sonst handeln wir aus der Sehnsucht und enden in der Illusion und Enttäuschung.
Was habe ich denn zu teilen?
S. 238

Beziehungen sind nicht das letzte Ziel im Leben, wie wir oft meinen, sondern die Ganzwerdung und das ist die Ganzwerdung des Individuums und des Kollektivs, die nicht zu trennen sind.
Beziehungen sind Vermittler auf dem Weg dorthin, genauso wie Drogen, Sexualität, Meditationen und so weiter. Beziehungen werden ganz, Freundschaften werden ganz, wenn wir selber ganz werden.
Darum gibt es diese unbestimmte Sehnsucht nach Ganzheit in uns.
Wenn wir bei unserer Sehnsucht nach Freundschaft noch tiefer graben in uns, stossen wir auf die Sehnsucht nach Ganzheit, nach Einssein. Es ist die Sehnsucht, die zu Ihren Freunden sagt, wenn ihr nur kämt und ganz in mein Herz hinein wolltet, kommen und sagen würdet, ich will alles von dir, es ist mir nicht genug, was du gibst, ich gebe mich nicht mit weniger als allem zufrieden. Ich würde mitmachen, sagt die Sehnsucht, ich würde mich freuen, ich würde alles andere aufgeben dafür. Aber die Sehnsucht holt den andern nicht ab.
Er muss selbst über die Schwelle kommen. Wenn sie ihn holt, bleibt er abhängig und eine Last. Er muss ganz allein, freiwillig über die Schwelle kommen, weil er das nur tun kann, wenn er es selber ganz will und dabei wird er selber ganz, und dann entfaltet sich die Freude und Freundschaft ganz, und Ganzheit, Einssein sind da.
Es gibt zwei Wege zur Ganzheit: Ich kann in mir alle Teile vereinigen, alle und alles in mich hinein nehmen, im Kollektiv aufgehen, zu dritt sein lernen und so weiter. Der zweite Weg ist paradoxerweise genau das Gegenteil: Ich kann alles gehen lassen, alles aufgeben, den Weg über das Alleinsein nehmen, das Nichts, den Tod. Letztlich führen die Wege zum gleichen Ziel und sind in sich letztlich auch identisch.
Die eigene Ganzheit, das tiefere Selbst oder wie man das immer nennen will, verhält sich zur bewussten Persönlichkeit wie ein guter Freund. Es wartet endlos, dass wir uns ihm zuwenden, von uns aus und gibt uns alles, was wir wollen, wenn wir es tun. Aber es macht keinen Schritt auf uns zu, weil es unser Schritt sein muss, und im Gegensatz zum guten Freund leidet es nicht einmal an Sehnsucht. Es kann warten.
S. 286

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Essenz schauen, Vom Ruhen im Urgrund allen Seins, Die Spiritualität beginnt im Becken, Ein Buch über Esoterik und Freundschaft, Basic Editions, 1998
Von der Angst und Sehnsucht der Menschen:
eine besondere Geschichte

[…] Die Menschen scheinen von einer Hauptsehnsucht getrieben zu sein, der Sehnsucht dazugehören zu wollen, und gleichzeitig beherrscht sie eine fürchterliche Angst, die Angst, eben diese Zugehörigkeit zu verlieren. Fast alles, was sie tun, ist gesteuert von dieser Sehnsucht und dieser Angst, wobei sie aber für ein Bewusstsein dieser Kräfte in ihnen noch nicht erwacht sind, was natürlich zu einiger Verwirrung und zu vielen Komplikationen führt.
Nun wäre zu erwarten, dass sie, so beschaffen, sich diese Zugehörigkeit ununterbrochen gewähren, bestätigen, ja schenken würden. Dem ist aber nicht so. Obwohl sie im Grunde ihres Herzens ausserordentlich liebenswürdige, friedfertige und harmoniebedürftige Tiere sind, verweigern sie sich selbst und einander ununterbrochen die Erfüllung dieser ihrer grössten und ewig ungestillten Sehnsucht. Daher leben sie tragischerweise fast ständig in Angst, welche ihren Planeten wie eine düstere Wolke umkreist und zu einer Aussparung von Isolation und Paranoia im Übrigen, durchwegs freundlichen Universum verkommen lässt. Das Leiden, welches daraus resultiert, ist, wie ihr euch vorstellen könnt, immens; und mitfühlende Existenzen aus verschiedensten Dimensionen versuchen daher ununterbrochen auf die Erde als Ganzes und auch auf die einzelnen Seelen darauf einzuwirken, natürlich ohne sie ihrer Freiheit und Würde dabei zu berauben. Es ist aber bis heute aussichtslos geblieben, in diese in sich selbst rotierende Wolke, in dieses schwarze Loch gewissermassen des Geistes einzudringen und die Verzweiflung dieser armseligen Menschenkinder auflösen zu helfen.
S. 89

Der Mechanismus der Sucht, der unstillbaren Sehnsucht, des ewigen Dilemmas zwischen Sich-gehen-Lassen und Disziplin, findet in dieser Sicht auch seine Erklärung. Es wird sichtbar, dass unser Drang, dieses Problem zu lösen, das Problem an sich ist. Sich zu ergeben in die Unlösbarkeit, in die Unerklärbarkeit des Ganzen schafft Erleichterung. Es dem Leben zu überlassen, was für uns gerade gut ist, Alleinsein oder Bezogensein, hilft, dem Leben die Führung in diesen Dingen, im Lebendigen zu überlassen. Es gibt keine statische Wahrheit, sondern lediglich eine Wahrheit der Bewegung.
S. 386

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Zusammen leben - Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung, Basic Editions, 2013
Nähe, von Nicht-Trennung, kommt das Empfinden der Sehnsucht nach ihr und auch der Einsamkeit, die anzeigt, dass sie nicht da ist. Wer Einsamkeit abwehrt, wer die Sehnsucht nach dem Einssein nicht haben will, kann auch Nähe nicht wirklich in der Tiefe empfinden. Denn in der Welt, wie wir sie leben, ist Einssein und Nähe kaum je gegeben und die Sehnsucht nach ihr und die Einsamkeit vor ihr daher gross.
S. 337

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen , Basic Editions, 2005
Am Ende der Reise der Selbsterkenntnis ist es denn auch vor allem das Denken, das bis in seine feinsten und filigransten Ausstülpungen noch verstanden sein will, bis es sich auflöst beziehungsweise stillsteht im Verstehen seiner selbst. Der Denker erkennt an diesem Punkt, dass er mit dem Instrument des Denkens das Ziel seiner Sehnsucht zu erreichen versuchte, dies aber nie gelingen kann, da kein Gedanke und kein Gefühl je diesen ersehnten Raum betreten wird. Im Gegenteil muss alles Suchen enden, damit wir ankommen können. Im Erkennen dieser Tatsache lernt das Denken und all die Gefühle, zum Beispiel die Sehnsucht, die es hervorgebracht hat, zu schweigen, so dass sich das Tor auftun kann, das genau durch seine unablässige Aktivität verschlossen gehalten wurde.
S. 11

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Kriegerschule / Die Kriegertexte , Sachbuch Spiritualität, Basic Editions, 2010
Ohne Traurigkeit und Sehnsucht gibt es keine Nüchternheit. Kriegerinnen werden oft von Anflügen des Traurigseins heimgesucht, aber nur, um darüber zu lachen. Alle Melancholie erhebt sich aus übertriebener eigener Wichtigkeit.
S. 84

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Liebe äussert sich ganz einfach, Wundersame, hinterhältige, humorvolle und schauerlich schöne Geschichten, Geschichtenband, Heuwinkel-Verlag, 2000
Wenn ich nicht da bin
und du an mich denkst,
soll mein Cello für dich singen
in vollen, tiefen, dunklen Tönen
und dein Herz zum Zittern bringen,
da wo die Sehnsucht sitzt
und die Wehmut
und das Bodenlose der Freude,
damit es Schwingen bekommt
und sich mit meinem verbindet
und Eines ist, ungetrennt –

Aus: Samuel Widmer Nicolet: glitzerglimmerspotzerpuster, von Lydia, der kleinen Fee/ eine ganz andere Geschichte – für Kinder und Erwachsene (unter Paul Nicolet), Kinder/ Jugend-Roman, Basic Editions, 2001
Was war mit den Menschen geschehen? Warum war Verbundensein kein Glück? Überall, wo Lydia Verbindung etablierte, wo sie diese wieder herstellte, wenn sie verloren gegangen war, in alle Teile der Welt hinein, zu allen Kontinenten, zu den Tieren und Wesen und nun auch hinaus ins All zum Mond, überall war diese Verbindung eine schmerzhafte. Musste dem so sein? Eine schmerzhafte, traurige und voller Sehnsucht. Was hatten die Menschen getan, dass Verbundensein nicht mehr beglückend war? Sie entschloss sich von neuem und noch leidenschaftlicher, sich in den Dienst dieser Sache zu stellen, die Liebe wieder errichten zu helfen zwischen sich und allen anderen, zwischen allem und jedem. Und sie sah, dass sie nicht viel tun konnte, auch wenn sie alles dafür gab, auch wenn sie genauso ergeben und vorbehaltlos in ihrem Dienst stand wie das Männlein im Mond in dem seinen. Wie hatte dieser das Gesetz der Liebe zusammengefasst: «Was hätte das Dasein für einen Sinn, wenn man nicht für andere lebt?» Auch sie fühlte sich einsam, oder vielmehr noch, auch sie fühlte die Einsamkeit, wie sie der Mondesmann fühlte; darin waren sie verbunden. Und diese Verbindung machte, dass sie eins waren, dass keine Trennung zwischen ihnen war. Und diese Verbundenheit war Mitgefühl und Wärme. Liebe eben. Darin fand die Einsamkeit ein Ende, wenigstens in diesem einen Strang. Was würde es brauchen, wie viel Zeit würde wohl noch vergehen, bis in jedem Strang, in jeder Verbindung, in jedem Zusammenhang, zu jeder Geschichte und jedem Winkel der Erde und des Weltalls wieder dieses eine Gefühl, das wir Liebe nennen, Mitgefühl und Leidenschaft schwingen, und nicht mehr Einsamkeit, tiefe, tiefe Einsamkeit, den Raum der fehlenden Einheit erfüllen würde?
S. 92

So geht es einem oft, wenn man dem begegnet, was uns eigentlich ganz nahe ist. Man erreicht es, das ganz Nahe, du erinnerst dich, indem man mit diesem Lauschen beginnt, nach aussen in die weite Welt hinaus und nach innen in sein eigenes Fühlen hinein, und diesem pfadlosen Weg folgt, der sich daraus ergibt. Dann taucht man irgendeinmal ein in dieses Unergründliche, das uns das Nächste und gleichzeitig das Entfernteste ist. Das war nämlich exakt auch der Weg gewesen, den Lydia mit ihrem Trupp genommen hatte, um zu Rahel und Joshuan beziehungsweise in ihre Träume hineinzugelangen. Und wenn man dieses Nahe berührt hat, an das man sich kaum erinnern kann, bleibt danach eine Sehnsucht in uns, für immer mit ihm vereinigt zu sein, mit ihm ganz und gar zu verschmelzen. Einfach weil es so beglückend ist, mit demjenigen ganz nahe zu sein, was uns am nächsten ist.
S. 132

Aus: Samuel Widmer Nicolet (zusammen mit Danièle Nicolet): Heute wurde uns eine Tochter geboren / Ein Lebensjahr – ein reiches Jahr – ein Jahr der Wandlung / Von Geld, Macht, Besitz und Gerechtigkeit, Basic Editions, 2005

Ich bin nicht ein speziell begabter Träumer. Träumen ist nicht meine Spezialität. Wohl eher bin ich ein Pirscher. Aber unter den gegebenen Voraussetzungen fällt es mir ganz leicht zu träumen.
Der Bruch in der Gewohnheit löst einen heraus aus der stabilen Verankerung, und die Herzensverbindung zu den Geliebten hin zieht einen dann ganz leicht über den Strang der Sehnsucht zu diesen hinüber. Es entstehen nur undeutliche Bilder dabei, aber das Gefühl davon ist sehr eindeutig und wirklich. Leicht fällt dir, in allen Situationen die Gefühlsverfassung der anderen, ihre Gedanken, ihren Zustand zu orten. Darin habe ich wohl durch meinen Beruf eine Meisterschaft entwickelt, aber um eine räumlich und/oder zeitlich entfernte Wirklichkeit vor mir entstehen zu lassen oder mich gar selbst für andere darin zu materialisieren, fehlt mir die Übung und die Energie. Das Schönste daran ist die Losgelöstheit, dieses Hier-und-dort-zugleich-Sein, dieses Nicht-festgelegt-Sein auf Ort und Stunde. Ganz intensiv wird es oft auch im Flugzeug, wo man auch ganz physisch zwischen dem Ort, den man verlässt, und demjenigen, den man aufsuchen will, schwebt. Ganz leicht wird dann der Sprung vom einen Ort zum andern oder gar darüber hinaus ins Bodenlose, in die Leere, ins Nichts.
Letzterem gehört meine besondere Liebe. Der Sog dahin, der Sehnsuchtsstrang zum Nichts erweist sich immer wieder als der stärkste.
S. 14

Wieder zu Hause. Der Himmel ist grau. Die Erde schläft. Draussen ist es kalt und trüb. Eine andere Stille herrscht hier. Zuerst auch wohltuend; der Geist ist frisch darin, der Körper leicht. Aber bald drückt die Stimmung im Äussern auch auf die innere Gestimmtheit. Schnell kommt Todessehnsucht auf; vor allem wenn – wie in unserer Welt ständig – wenig Schönes im Menschlichen zu finden ist.
[…]
Todessehnsucht. Je älter ich werde, desto schwieriger scheint es mir, dem Sog des Nichts da draussen nicht nachzugeben. So wenig Verlockendes scheint mir am Menschlichen. Überdruss. Noch das Schönste, was das Menschsein zu bieten hat, kann einen nur knapp binden. Die Kinder, Freunde, die schöne Musik, die gerade für mich spielt. Aber meistens ist man nicht dem wirklich Schönen ausgesetzt. Zu oft umbrandet einen das Elend der Menschen; beim Nachhause- Kommen, beim Erledigen der angefallenen Post vor allem wieder sein verfluchter Hang zur Bürokratie. Schrecklich!
S. 45

Aus: Samuel Widmer Nicolet: kirschbaumblütenblätterweiss - Die ganz, ganz neue Geschichte (unter Paul Nicolet), Roman, Basic Editions, 1999

Die Sehnsucht, diese stille Trauer in der Mitte allen Glücks. Die Trauer, die nicht gänzlich schwinden kann, solange nicht die ganze Erde, die Gesamtheit der Menschen von der neuen Geschichte erfasst ist. In Celia verbindet sich die Sehnsucht immer gerne mit ihrer fernen Jugendzeit in südlichen Landen. Die Trauer des Mitgefühls, welche Innigkeit weckt, die nie ganz zufrieden ist, nicht bevor der volle, runde blaue Planet mit dem Rest des Universums strahlen wird.
S. 457

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Wer Heilt, hat Recht, Die Art des Kriegers, Zusammenfassende Gedanken zum Lebenswerk, Basic Editions, 2010
In uns finden wir das Bedürfnis zur Hingabe. Häufig ist es verschüttet, aber im Prozess der Selbsterkenntnis erwacht es wieder. Das Bedürfnis zur Hingabe ist die Sehnsucht nach der Einheit, ganz tief wahrnehmen zu können, so dass Einheit wahrgenommen wird.
Aber die Hingabe richtet sich nicht ans Du. Da draus entsteht Abhängigkeit. Die Hingabe richtet sich an das, was ist, und das ist in erster Linie immer das, was man in sich drin spürt. Die Hingabe an den andern ist darin ein Nebeneffekt, etwas, was sich ganz von selbst daraus ergibt.
S. 61

In uns steckt die Sehnsucht nach unserem Wesenskern: nach Liebe, Geborgenheit, Stille.
Dieser Kern ist jedoch umlagert von verschiedenen Mauern. Wir müssen die Öffnungen in den Mauern finden, um von aussen ins Innere des verwunschenen Gehäuses unserer Seele vorzudringen. Erst nach der genauen Inspektion unseres Standortes finden wir die Türöffner. Insgesamt liegen drei durch Mauern getrennte Räume vor uns. Am äusseren Rand treffen wir Angst und Trotz. Wenn wir sie identifiziert, angeguckt und gewürdigt haben, bekommen wir Einlass ins Gemäuer, in den äusseren dunklen Raum. Damit es hier hell wird und wir unseren Weg fortsetzen können, sehen wir uns die abwehrenden Gefühle an wie zum Beispiel den Neid und die Eifersucht, die hinter der Anpassungsmauer auf uns warten. Wir begrüssen und beobachten sie und lernen sie verstehen. Jetzt müssen sie sich nicht mehr vor uns verstecken. Aus Dankbarkeit weisen sie uns sogar den Weg zur nächsten Öffnung. Im fahlen Licht dieses Raumes treffen wir auf unsere verdrängten, abgewehrten Gefühle, auf Einsamkeit, Verlassensein, Ausgeschlossensein. Anfangs wehren wir sie ab, weil sie so unangenehm sind. Aber nur, wenn wir sie annehmen, die Einsamkeit sogar zu unserer besten Freundin machen, zeigen sie uns den Durchgang zum Heiligtum. Das eigentliche Tor zum Kern bleibt noch geschlossen. Es liegt nicht in unserer Macht, es zu öffnen. Wir müssen ganz still werden und warten, ohne Reaktion alles anschauen, was an uns vorbeizieht, dann öffnet es sich vielleicht und die Mauern fallen zusammen.
Dann empfängt uns ein weiter, strahlender Himmel, wir fallen ins Universum hinein, haben uns selbst gefunden und vor allen Dingen dich, den anderen, das Andere. Unsere Sehnsucht ist ans Ende gekommen.
S. 212


1) Aus: Danièle Nicolet Widmer: Was macht, dass du so schön bist? Liebesbriefe an ein aufgebrochenes Herz, Basic Editions 2001, S.171