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Newsletter 5/2024 - Authentizität, Wahrhaftigkeit, Echtheit
.pdf
Oktober 2024



S

chritt für Schritt gehen wir,
näher zur Wahrheit und Wirklichkeit.
Langsam schälen wir heraus,
wer du wirklich bist.
Alle Bilder lösen sich auf, alle Identifikation,
aller Widerstand bröckelt,
bis du einfach bist, einfach siehst.

Das ist mein Tun, mein Wirken,
meine Kunst des Begleitens.
Dafür suchst du mich auf,
solange du den Weg gehen magst.
Ist es unvermeidlich,
dass wir schliesslich den Punkt erreichen,
an dem du nicht mehr weiter willst?

Mit jedem kann man nur soweit gehen,
wie seine Bereitschaft zu sehen reicht.
Die einen gehen ein Stück des Weges,
soweit es ihnen nützlich erscheint,
andere gehen lange und willig,
bis der Schatten, den sie verweigern,
in unserer Beziehung erscheint.

Wenige nur haben die Leidenschaft,
ganz durchzubrechen.
Mit ihnen verbindet einen dann
ein Meer von Schönheit.
Mit ihnen lebt man, angekommen
im Reich der Wahrhaftigkeit.
Alle anderen wenden sich ab und gegen einen.

Sie müssen, sie können nicht anders.
Weil sie das Wirkliche meiden,
festhalten an Bildern und Gedanken,
müssen sie auch den Begleiter schliesslich fliehen.
Ihr Zorn auf ihn scheint um so grösser,
je weiter sie schon gegangen sind;
es scheint einfach unvermeidlich zu sein?(1)



Dies über alles: Sei dir selber treu!
Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage,
in tiefer Liebe wurde ich zu Zwein
du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.
Shakespeare, Hamlet






Liebe Leser

Just vor den Herbstferien hatten wir in der Praxis Hof zur Kirschblüte ein wunderschönes, inniges, aufschlussreiches und lebensbewegendes Tantraseminar mit dem Titel "Heimat braucht Authentizität". Es waren Anfänger dabei, alte "Tantrahasen", neue und alte Freunde, und gerade diese Vielfalt hat es zu einem ganz besonderen Anlass gemacht. Die Authentizität, oder der Wunsch nach mehr davon im eigenen Leben, hat wichtige Prozesse ausgelöst.
Deshalb habe ich die Authentizität als Anregung für den Oktober-Newsletter genommen. Dies ist nicht ein Thema, das mich persönlich besonders beschäftigt. Ich kann durchaus authentisch und ohne besondere Anstrengung mich selbst sein, oder auch natürlicherweise beharrlich oder leiden-schaftlich oder…, alles weitere Themen der letzten Seminare, bei denen ich feststellen musste, dass ich diese Eigenschaften in die Wiege gelegt bekommen habe.
An diesem besonderen Tantraseminar kam allerdings zusätzlich die Einsicht, dass, obwohl es ein Segen ist, diese Qualitäten geschenkt bekommen zu haben, das Leben deswegen nicht unbedingt einfacher wird: Man muss mit den Konsequenzen zurechtkommen: Ehrlichkeit, Authentizität, Lebendigkeit, Leidenschaft usw. sind oft eine Konfrontation und wenig willkommen.
Anderseits, jedenfalls wenn man ernsthaft auf dem Weg der Liebe unterwegs ist, ist ein nicht-authentisches, leidenschaftsloses und unlebendiges Leben letztlich auch nicht wirklich einfach. Das war an dem schönen Tantra-Meditationstag mein Trost.

Nachfolgend findet ihr ein paar wenige Texte über Authentizität, Wahrhaftigkeit und Echtheit zum Sinnieren für die kalten Herbsttage.

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi

Nochmals zur Erinnerung: Seit April ist die Website www.samuel-widmer.ch online. Diese ist in den letzten zwei Jahren entstanden, sozusagen als Höhepunkt der Arbeit des Vereins Samuel Widmer Nicolets Erbe und gedacht als Dokumentationszentrum für Samuels Lebenswerk und Lehre. Zu jedem Thema, mit dem sich Samuel in seinem Leben befasst hat (Psycholyse, Selbsterkenntnis, Gemeinschaftsbildung, Tantra, Inzesttabu, Liebe, Schichtenmodell, …), gibt es zusammenfassende Texte, die auch als .pdf herunterladen werden können. Die meisten Werke (Vorträge, Meditationen, Artikel, Briefe, Gedichte, seine Bilder, …) sind bereits hochgeladen und stehen allen zur Verfügung. Habt Freude damit!

Bevorstehende Termine des Hofs zur Kirschblüte:

Wir informieren Interessierte ein paar Mal jährlich per E-Mail über die Seminarangebote der Praxis Hof zur Kirschblüte. Ihr könnt euch hier eintragen: https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
Die Programmübersicht mit den Angeboten für 2024 und für 2025 findet ihr jeweils hier: https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
  • Am 24. Oktober treffen wir uns online für die Meditation zum Thema "Spirituell-Magisches Träumen" (auch als Vorbereitung für die 3-jährige Ausbildung im "Spirituell-Magischen Träumen" ab Herbst 2025 geeignet).
  • Die Krieger treffen sich wieder im November zum 5-tägigen Seminar "Der Kriegertrupp (über das erwachte Herz, das Gehirn als Sinnesorgan, Meditation und das Spirituelle Träu-men)".
  • Ebenfalls im November findet ein TantraseminarTantraseminar zum Thema "Erfüllung und Verzicht" statt.
  • Im Dezember möchten wir gemeinsam Weihnachten feiern mit dem Thema "Dankbarkeit" in der Seminarreihe "Das Allerinnerste – Vom Duft des Ankommens". Ein ganz besonderes Fest unter dem traditionellen Weihnachtsbaum.
  • Im Dezember 2024 finden im Neredu Valley in Indien zwei Seminare statt, ein freundschaftliches Treffen zum Thema «Der Weg mit Herz» und anschliessend ein tantrisches Zusammensein.
  • Im April 2025 werden wir wieder in der algerischen Sahara sein.

Ab sofort bietet die Praxis Hof zur Kirschblüte für Menschen mit einem Euro-Einkommen eine Preisermässigung bis zu 20% nach eigenem Ermessen für die Seminare in der Schweiz an.

Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden. Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis. Die Newsletter findet ihr auch auf den Websites der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch) oder auf dem Facebook-Kanälen von Samuel Widmer Nicolet (https://www.facebook.com/samuelwidmernicolet) und der Kirschblütengemeinschaft (https://www.facebook.com/Kirschbluetengemeinschaft).


Aus: Danièle Nicolet Widmer, Audioaufnahme des Tantraseminars "Heimat braucht Authentizität" in Lüsslingen im September 2024
[Transkription der Audioaufnahme] "Authentischsein hat nichts damit zu tun, mit dem Eigenwille "rumzupowern", und sich zu nehmen was man will; und sich nicht darum zu scheren, was das mit den anderen macht, dass ich so bin wie ich bin.
Authentischsein ist ein Raum, der sich nach dem Sterbepunkt, nach dem Übergang zwischen Solar und Herz zeigt; nach dem Sterbenkönnen und mich dem Gemeinsamen hingeben und ganz be-rührbar sein können. Aber es braucht natürlich die befreite Kraft der Sexualität, des Beckens, ei-nen freien Wille, die ganze Kraft der egozentrischen Ebene, des Kindlichen, des Unschuldigen, des Unbewussten, des Eigenes. Ich bin aber kein Kind mehr, das wild drauf los lebt.
Authentizität ist etwas durch und durch Verantwortetes. Ich bin zwar die, die ich bin, weil ich nicht anders kann, aber es ist die Kraft der Verantwortung drin, dass ich auch nicht anders will. Obwohl ich um die Konsequenzen weiss. Ich will kein abhängiges angepasstes Kind sein, ich will eine Erwachsene sein, die mein Leben, unser Leben und die Welt so gestalten will, dass darin mehr Heimat, mehr Lebendigkeit, mehr Gemeinschaft, mehr Liebe gelebt wird.
Es ist natürlich auch eine Frage der Energie, die mir zur Verfügung steht, ob ich das kann. Aber ich bin ja auch zu einem grossen Teil selber verantwortlich für die Energie, die ich im Laufe eines Lebens aufbaue, indem ich entweder da wo es mich konfrontiert und Angst macht, mit der Angst und der Sicherheit gehe, oder stattdessen ich mich meiner Verletzlichkeit stelle, mit dem Risiko, die Sicherheit zu verlieren. Oder allein zu sein….
Es ist ja auch der Grund, warum die meisten Menschen, vor allem je älter sie werden, oder die meisten Partnerschaften eng, langweilig, unleidenschaftlich und konflikthaft werden. Man hat ir-gendeinmal im Lauf des Lebens entschieden, dass man sich Authentizität nicht leisten kann, … will. Dann wird das, was einmal Heimat war, ein seichter Tümpel, zwar schön lauwarm aber nicht mehr sprudelnd, frisch und lebendig. Die Lust verschwindet, man verliebt sich nicht mehr.
Die unbewusste Natur kann nicht anders, als authentisch sein, die bewusste kann sich dagegen entscheiden. Wenn sie sich dafür entscheidet, beinhaltet sie dann ein zusätzliches Wunder, ein zusätzliches Glück. Weil etwas, was sich aus Freiheit gestaltet, noch ein grösseres Geschenk bein-haltet als etwas was gar keine Wahl hat. Das ist das grosse Versprechen im Menschsein, etwas zu-sammen gestalten zu können, was noch eine zusätzliche Kraft und Schönheit beinhalten könn-te."
CD/mp3 erhältlich bei www.basic-editions.ch


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Bis dass der Tod uns scheidet…/ Psycholyse - Psycholytische Psychotherapie, Die Geschichte der substanzunterstützten Psychotherapie in der Schweiz und in Europa nach 1970, Basic Editions, 2013
In der Zeit des goldenen Neuanfangs einer Sache ist es schade, wenn ihr der Schwung genommen, der revolutionäre Geist zu sehr ausgebremst wird von den Ängstlichen. Und insgesamt, persönlich mag ich die Stimmung, die Ehrlichkeit und Leidenschaft des Hitzigen lieber; ich ziehe sie der Stimmung der Verhaltenheit, des vorsichtigen Sich-Vortastens und des Sein-Gesicht-Wahrens, der Angst darin und der Unehrlichkeit vor. Soll man sich, wenn doch alles nichts hilft, nicht wenigs-tens das Glück der Authentizität leisten.
S. 53

Leben ist verboten. Oder besser gesagt, dermassen geregelt, auf Sicherheit getrimmt, dass ein durchschnittlicher Mensch es besser gar nicht probiert. Es ist viel einfacher, einfach zu funktionie-ren, systemkonform zu funktionieren. Einfach leben ist nicht mehr drin. Einfach etwas anfangen, einfach irgendwo hingehen und neu beginnen, all das ist nicht mehr drin.
Weil alles verboten wurde, kontrolliert wurde, erscheint heute ganz gewöhnliches Leben als gefährlicher Ikarus-Flug. In welche Tragik haben sich Menschen in ihrer Sicherheitssuche doch ver-rannt, mit ihrer wohlgemeinten Organisation des Fortschritts und des Besseren verbarrika-diert!
Das lange Warten auf die Revolution! Auf das Feuer der Unzufriedenheit!
Was notwendig ist, ist eine Revolution, ein Flächenbrand der Unzufriedenheit, der Auflehnung. Wann werden wir das Joch endlich abschütteln und wieder freie, authentische und selbstbestimm-te Menschen sein?
S. 217

Leben ist gefährlich. Wirklich authentisch leben, ist noch gefährlicher. Uns Menschen zieht das Allerinnerste an; wir kreisen darum wie Motten um das Feuer […]. Und gleichzeitig haben wir Angst davor und dies zu Recht. Den Wenigsten gelingt es tatsächlich, vom Feuer geläutert zu werden, statt darin zu verbrennen. Ist es deshalb besser, darauf zu verzichten? Ist es deshalb falsch, es trotzdem zu wagen?
S. 223


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Des Kaisers Nacktheit – des Kaisers Dummheit, Von Freundschaften und Feindschaften - Über Berufskollegen, die Medien, Fachschaften, Freunde und Mitbürger - Ein Protokoll über das Anderssein, Basic Editions, 2003
Man darf nicht anders sein. Man darf nicht ausserordentlich sein. Man darf nicht genial sein. Man darf nicht wirklich forschen. Man darf nicht wirklich experimentieren. Man darf nicht wirklich wissenschaftlich sein. Man darf nicht eine wirklich religiöse Geisteshaltung haben. Das ist die Er-fahrung, die ich in meinem Leben gemacht habe. Das ist die Essenz, die sich nicht nur aus meiner, sondern aus vielen Geschichten von Männern und Frauen ergibt, die sich der Wahrheit, der Wahrheitsfindung, der wirklichen Erforschung unseres Seins und unserer Beziehungsmöglichkei-ten, unserer Möglichkeit zur Freundschaft verschrieben haben.
Man darf nicht anders sein. Darum wird dieses Buch auch ein Protokoll über das Anderssein. Und man darf keine Fehler machen, das heisst, man darf nicht experimentieren. Man darf nicht wach-sen. Man darf nicht denken, nicht eigene Gedanken haben. Man darf nicht ausdrücken, was man sieht und empfindet. Man darf die Wahrheit nicht aussprechen. Man darf nicht authentisch sein. Man darf nicht darauf hinweisen, dass der Kaiser keine Kleider anhat, dass er nackt ist. Man darf nicht unschuldig sein.
S. 13

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Kriegerschule / Die Kriegertexte, Sachbuch Spiritualität, Basic Editions, 2010
Da der Krieger nicht mit Bildern lebt, sondern mit Fakten, nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der energetischen Wirklichkeit des Augenblicks, wandert er immer wieder frei aus den Räu-men heraus, in die ihn die Vorstellungen der anderen gefangen nehmen wollen. Er bleibt unfass-bar. Er lebt in einer anderen Welt, die der Durchschnittsmensch nicht betreten kann. In dessen Welt erscheint der Krieger als fixierte Form, aber dahinter, in der seinen, bewegt er sich frei wie ein Vogel.
Er muss vorsichtig sein, denn die Bilder der Gedankenwelt sind mächtig und können ihn zu Fall bringen. Darum bleibt er unsichtbar, ausser er hat seine Gründe, und unerreichbar, sofern nicht ein innerer Ruf sein Erscheinen fordert.
Wo immer es ihm möglich ist, steuert er die Bilder seiner Mitmenschen zu seinem Vorteil. Dort, wo dies nicht gelingt, akzeptiert er die Realität, die sie schaffen, als sein Schicksal. Letztlich erlebt er dies aber als lästiges Spiel, welches ihm die Schattenwelt der Unwirklichen aufzwingt; viel lieber zeigt er sich in seiner Wahrheit: authentisch, klar, ein ungetrübtes Licht.
S. 31

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Wahrheit, Sachbuch Philosophie, Basic Editions, 2010
Wenn die Sehnsucht nach Anerkennung in uns stirbt, werden wir frei, ganz authentisch zu sein, ganz wahr. Wir brauchen nicht länger Rücksicht zu nehmen. Wir finden zurück zur Unschuld. Und zur Liebe. Die Unschuld aber vergisst sich selbst und geht ganz im anderen auf, im Du; sie ist einerseits ganz sich selbst und kann sich gerade deshalb ganz im anderen vergessen. Sie lebt die Wahrheit wie ein Kind.
S. 10

Das haben uns die Sprüche der Wüstenväter damit bestätigt, dass die Wahrheit vielleicht etwas ist, was vom Einzelnen gelebt werden muss, uns als schöne Idee, hinter der keine wahrhaftige Haltung steht, nicht viel nützen wird. Wir müssen die Wahrheit sein. Das wäre dann wieder der Über-mensch, der neue Mensch, der auch den „Mut hat zum Untergang“, wenn er ganz allein damit beginnt, ganz und gar authentisch zu sein, sich selbst zu sein. Und natürlich folgt dies nicht ir-gendeiner abstrusen Idee, sondern dem Herzen und damit der Wahrheit. Der Krieger, der Mensch der neuen Geschichte, ist wahr, er spricht nicht „über“, sondern teilt sich mit. Er befasst sich nicht mit Ideen, er ist.
S. 99


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Durchdrungen sein vom Du, Von der Praxis der Liebe, Protokolle einer Gemeinschaft, ein ganz persönliches und ein gemeinsames Buch, Basic Editions, 2004
Ohne innere Stille ist kein unmittelbares Handeln aus der Tiefe, aus dem Nichts, kein authenti-scher Ausdruck möglich. Stille fasst alle anderen Punkte zusammen. In der Stille ist all das be-schlossen, worauf wirklicher Ausdruck beruht.
Letztlich ist es ganz einfach: Nur wenn das Selbst nicht ist, das Ich nicht ist, kann der Geist, der Raum ist, der Stille ist, der Energie ist, der Intelligenz, geboren aus Mitgefühl ist, der Schönheit ist, der Liebe ist, in mir wirken. Und nur das ist wirklicher Ausdruck, wahrhaftiger Ausdruck, au-thentischer Ausdruck. Die Selbstaktivität, welche sich durch mich ausdrückt, ist Falschheit. Sie hat keine Kraft und keine Schönheit.
S. 274

Aus: Samuel Widmer Nicolet und Mitautoren: Echte Psychotherapie, Eine Psychotherapie für eine neue Zeit, Ein Lehrbuch, Anleitung zur Selbsterkenntnis als therapeutischer Prozess, Basic Editions, 2013
Die Psycholyse und die Echte Psychotherapie sind […] Wege der Befreiung. Die Auseinanderset-zung auf der Becken- und Bauchebene beinhaltet Fragen wie: Wer bin ich? Was für ein Wesen habe ich? Was brauche ich? Was will ich? Wie will ich leben? Für was will ich die sexuelle Kraft einsetzen? Wo muss ich für Erfüllung gehen, notfalls kämpfen, wo den Verzicht üben? Habe ich die Freiheit, in jeder Situation ja oder nein zu sagen? Kann ich alle Gefühle in mir zulassen? Kann ich mich authentisch ausdrücken, mit jedem Gefühl? Kann ich darauf verzichten, Gefühle auszu-agieren, kann ich alles einstecken, alle Gefühle aushalten, ohne andere dafür verantwortlich zu machen?
Zum einen geht es darum, alles zu sehen, zu sehen, wie es in mir ist und damit still zu sein, das heisst, nichts zu tun, ausser es ganz zu sehen, zu beobachten, zu akzeptieren. Dann geht es um Einsicht in die Zusammenhänge, Einsicht, warum etwas nicht frei ist in mir zum Beispiel. Dadurch findet man, wenn man den Mut hat, ehrlich hinzuschauen, konkrete Aufgaben, die man im Alltag umsetzen muss. Jede Einsicht hat Konsequenzen, die zwingend sind. Meist hat man eine Weile Zeit, in der man sich immer wieder mit einer Thematik auseinandersetzt. Wenn man dann die Schritte tut, die anstehen, entwickelt man sich weiter, dann kommen neue Themen, die zu bearbeiten sind.
S. 173

Gemeinschaften erkennt man vor allem auch daran, dass sich die Mitglieder in ihnen sicher fühlen, dass sie keine Angst haben, authentisch zu sein, ihre wirklichen Gefühle zu haben. Man fühlt sich darin zu Hause. Wirkliche Gemeinschaft hat eine heilende Kraft. Wer damit in Berührung kommt, wer das Gefühl von Gemeinsamkeit wirklich in der Tiefe erlebt hat, dessen Leben hat eine neue Ausrichtung bekommen.
S. 222


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Essenz schauen, Vom Ruhen im Urgrund allen Seins, Die Spiritualität beginnt im Becken, Ein Buch über Esoterik und Freundschaft, Basic Editions, 1998
Manchmal prallt das Alte und das Neue in uns aufeinander. Es findet ein Kampf statt, der zuerst eben Angst macht, denn in einem Kampf kann man auch erliegen. Nur wenn man ihn besteht, beginnt das Neue wirklich. Jeder Moment unseres Lebens ist wirklich, ob wir spielen darin oder authentisch sind. Aber es gibt Momente, Zeiten, wo sich alles zu einem besonders mysteriösen Geschehen verdichtet, wo alles zusammen passt. Es ist eine ganz besondere Chance, die wir dann haben.
Besondere Chancen machen Angst, davor schützen wir uns. Dann wird diese Enge und Langewei-le spürbar als Folge. Es können dann drei Dinge passieren.
Entweder bleibt alles relativ belanglos, friedlich und zufriedenstellend, aber letztlich unbedeutend, weil wir dem, was sich angekündigt hat, ausgewichen sind.
Eine andere Möglichkeit ist die, dass wir allmählich erkennen, worum es geht und uns diesem inneren und äusseren Kampf stellen. Dann wird es auf jeden Fall sehr echt.
Es gibt dann aber immer noch zwei Möglichkeiten. Wir können scheitern daran, dann haben wir ein grosses Chaos, oder wir können den Kampf gewinnen, damit findet etwas Wunderbares statt. Das ist genau das, was Angst macht. Jeder und jede muss selbst herausfinden, worum es dabei bei ihm oder ihr persönlich geht. Es geht gerade darum, sich dieser Angelegenheit zu stellen.
Die Liebe bricht dann von allen Seiten in unser Leben ein. Im Moment, durch Beziehungen, durch verschiedene Prozesse und unerwartete Geschehnisse. Das macht eigenartigerweise zuerst Angst, man fühlt sich überfordert, man hält es für die alte Geschichte, in der alles, was kommt, eine zusätzliche Last war. Aber man macht dann allmählich die Erfahrung dieser anderen Dimen-sion, in der das Leben ein einziges Geschenk ist. Es geht dann darum, diese neue Sichtweise voll-ständig zu etablieren in unserem Leben. Das ist fast wie psychotisch werden: Austreten aus der Weltsicht, die unsere Gesellschaft uns aufdrängt, aus der kollektiven Hypnose, und sich ganz al-lein, ganz frei für eine andere, viel schönere Wirklichkeit entscheiden. Es könnte eine Psychose sein, das macht zuerst Angst.
S. 209

Ganz tief in euch drin findet ihr eine Verzweiflung, der ihr kaum standhalten könnt, die damit zusammenhängt, dass man unter Menschen einfach keinen Platz hat; keinen Platz hat so, wie man wirklich ist. Man bleibt illegal, verboten, unverstanden und unerkannt, und das Schlimmste: es wird auch so bleiben. Im Gegenteil ist zu befürchten, dass man am Ende ganz aus¬geschieden wird aus der menschlichen Gesellschaft, sofern man auf seinem Authentisch-Sein besteht, sofern man es einfach nicht mehr verstecken kann, dass man anders ist, als man sein sollte.
Man hat dieses Schicksal dann einfach zu akzeptieren. Und genau das ist so schwer, genau das macht Angst: da ohne innere Reaktion einfach gelassen stehen zu bleiben, es dem Leben zu über-lassen. Anzunehmen, dass da etwas ist, das sich auch bei einem noch so geduldigen Aushalten nicht auflösen lässt, weil es nicht von einem selbst abhängt.
Es löst sich zwar schon auf, transzendiert letztlich in eine andere Dimension, aber im Menschsein bleibt es bis zur bitteren Neige unveränderlich. Da stehen zu bleiben ohne Angst, ohne Überheb-lichkeit, ohne Trauer, ohne Wut, ohne Hoffnung, das ist schwer. Ohne Hoffnung zu sein heisst aber nicht, hoffnungslos zu sein, sondern eben einfach still, ausserhalb der Duali¬tät, ohne jegliche Reaktion.
Stellt euch einen Raum vor, in dem man sich frei begegnen könnte, wo die Sexualität frei wäre, die Liebe frei wäre, einen Raum, in dem wir uns als Könige und Königinnen begegnen, würdigen und einladen würden! Es lässt sich nicht beschreiben. Wir müssen da eintreten, uns freimachen dafür, wenn wir es erleben wollen.
S. 326

Zuerst erkennst du, dass das, was du willst, gar nicht wirklich das ist, was du willst, sondern ledig-lich deine Konditionierung, welche endlos und sinnlos reagiert auf das, was ist. Dann wirst du realisieren, dass es in dir einen Platz gibt, in dem keine Reaktion stattfindet auf das, was immer geschieht, ein Platz, von dem aus du alles, was sich ereignet, als das nehmen kannst, was es wirk-lich ist, nämlich ein Geschehnis, welches nicht vorgefertigt ist und das nichts, aber auch gar nichts mit dir zu tun hat, einen Platz, in dem keine Gefühle mehr existieren; mit einem Wort, du er-kennst deine wirkliche Natur: Liebe.
Schliesslich siehst du ein, dass alle Gefühle lediglich Reaktionen aus un¬serer Konditionierung sind, und du lernst, absolut still zu sein mit ihnen. Du siehst, dass der emotionale Zustand nicht das ist, was du wirklich bist, nicht dein wirkliches Wesen ist, sondern dieses verdeckt.
Wenn du soweit gegangen bist, wirst du zu einer neuen Vision finden, du beginnst die Möglich-keit einer völlig neuen Art von Beziehung zu erken¬nen, einer völlig neuen Art von Gemeinschaft, einer völlig neuen Art zu sein, Beziehung und ein wahrhaftiges Sein, welches frei ist von allem Konflikt, wel¬ches frei ist von allem Kampf um die Meinungen, die Möglichkeit, ein Herz, ein Geist, eine Seele zu sein, absolut eins, absolut nahe, weil man die Wahrheit sieht; und die Wahr-heit ist ein lebendiger Prozess und immer und für alle die Gleiche.
S. 473

Aus: Samuel Widmer Nicolet (zusammen mit Danièle Nicolet): Heute wur-de uns eine Tochter geboren / Ein Lebensjahr – ein reiches Jahr – ein Jahr der Wandlung / Von Geld, Macht, Besitz und Gerechtigkeit, Basic Editions, 2005
[Danièle] Vor dem Hintergrund der Magie des Lebens, vor dem Zauber, der dem erscheint, der Zeit hat und Stille kennt, erscheint mir das übliche menschliche Zusammensein so mager und bar allen Zaubers. Den Begegnungen, den Gesten, dem Gesichtsausdruck der Menschen sieht man an, dass ihnen das Wesentliche, das Erfüllende, das Leidenschaftliche, das Feine und Stille fehlt… Langeweile, Gewalt, Trostlosigkeit, Müdigkeit und Vergnügungssucht sind die Folgen davon, und im besten Fall die Sehnsucht. Was ist falsch gelaufen mit uns Menschen? Warum nur und wozu waren wir und sind wir immer von neuem bereit, diesen Preis zu bezahlen, der so unendlich hoch ist… Warum ist dieser Drang nach Sicherheit in uns so gross und die Angst vor dem Verlo-rensein, dem Ausgeschlossensein und vor der Einsamkeit so stark, dass wir ihr alle Lebendigkeit und Authentizität opfern? Ich weiss nicht, ob man das je verstehen kann!
S. 31

Die Liebe ist eine zerstörerische Kraft. Sie zerschlägt immer wieder alles, was zur Gewohnheit erstarrt ist, bringt allem Vernichtung, was sich in falschen Selbstbildern wiegt, in falsche Sicher-heiten flüchten will. Die Liebe ist endgültig wie der Tod. When you‘re in love, you‘re in forever. Das ist nichts Schreckliches. Im Gegenteil ist es das Wunderbarste, das Kostbarste, wozu wir ge-rufen sein können. Erst da, wo das Leben keinen anderen Ausgang mehr kennt als den Tod, entfal-tet es seine ganze Pracht. Erst da, wo ein Schicksal so sehr genommen ist, dass darin keine Kündi-gungsmöglichkeit mehr bleibt, erleben wir eine wahrhaftige, ganzheitliche Entfaltung all unserer Möglichkeiten. Erst da, wo man sich dem Schicksalsplan ganz und freudig zu fügen versteht, stellt sich das Gefühl von Losgelöstheit, von Ungebundensein, von Freiheit ein. Das Mass der Enge und Verbindlichkeit, dem sich ein Mensch zu verpflichten vermag, bestimmt schliesslich die Weite des Himmels, in dem sein Geist frei fliegen kann. Denn die Ergebenheit ins Vorbestimmte lässt den widerspenstigen Eigenwillen aufgehen in der Absicht des Ganzen, im einen grossen Willen des Kosmos, in den unergründlichen Bewegungen einer universellen Ordnung. Darin ist der kleine Wille nicht mehr ein abgespaltener Oppositioneller, sondern er wird zum Mitträger, zum Mitge-stalter des kosmischen Geschehens. Er ist nicht mehr in Opposition zum Schicksalhaften, sondern diesem vorgespannt. Alles, was er an die Hand nimmt, wird ihm gelingen, denn er handelt im Ein-klang mit den Kräften des Ganzen.
S. 62

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Im Irrgarten der Lust - Abschied von der Abhängigkeit/ Die Geburt der Freude: Eine Liebesgeschichte, Sachbuch Psychologie, Basic Editions, 3. Auflage 2010
Man kann nicht authentisch werden, wenn man mit der Illegalität nicht umgehen kann, da authen-tisches Sein immer und überall irgendwie illegal ist.
S. 143

Wir haben Angst, bewusst und ehrlich auf unsere innere Stimme, auf die Stimme unseres inneren Selbst zu hören und sie offen und direkt zu vertreten in unseren Beziehungen. Es ist viel leichter ‘nichts dafür zu können“, in Trance zu fallen und einen scheinbar andern reden zu lassen, für den man nicht verantwortlich zu sein scheint. Auch für die andern ist es dann einfacher, einer jenseiti-gen “Autorität“ zu lauschen, als dem kleinen Hans oder der gewöhnlichen Anna von nebenan zuzuhören. Aber das Hauptproblem, die Angst vor der eigenen Authentizität, die Abhängigkeit von der Meinung anderer, von Sicherheiten bleibt so ungelöst, unbearbeitet. Natürlich ergeben sich so ganz interessante, ganz tiefe Einsichten. Aber da ist niemand, der sie wirklich lebt, der sie wirklich vertritt, an dem die andern anrennen können. So wird alles Wort bleiben, Gerede bleiben und im Alltag ändert sich nichts. Gut, wenigstens ist es ein Versuch, ein Trick auch, sich durchzu-setzen, und wenn es jemandem gelingt, auf diese Weise einen Anfing zu machen, warum auch nicht. Aber das bewusste Hinstehen, Geradestehen, für das, was man vertritt, muss unbedingt fol-gen.
S. 153


Aus: Samuel Widmer Nicolet: kirschbaumblütenblätterweiss - Die ganz, ganz neue Geschichte (unter Paul Nicolet), Roman, Basic Editions, 1999<
Eines der ganz grossen Wunder ist, dass in wahrhaftigen Beziehungen immer alles zusammen-passt, dass du als Fallensteller deshalb gar nichts zu tun brauchst. Du musst nur ehrlich sein, wahr. Der Rest ergibt sich aus den wundersamen Bewegungen des Lebens ganz von selbst.
S. 323


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen, Basic Editions, 2005
Es gibt eine Klarheit, die unser ganzes Wesen durchdringen kann, eine Klarheit nicht nur des Denkens, sondern ein Zustand jenseits von Wort und Gefühl, der in uns eine Lauterkeit, eine Ge-radheit begründet, die sich in allem ausdrückt, was wir sind und tun. Diese Klarheit geht mit Wahrhaftigkeit zusammen, mit einer Ehrlichkeit, die sich unabhängig von irgendwelchen Konse-quenzen der Wahrheit stellt, welche die Wahrheit liebt, sie über alles stellt und viel interessanter und befruchtender findet als jedes Unwahrsein, auch wenn es noch so viel Bequemlichkeit oder Vergnügen bringen mag. Klarheit und Wahrheit kommen aus der Liebe zu dem, was ist.
S. 165


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Zusammen leben - Gemeinschaft und Ge-meinschaftsbildung, Basic Editions, 2013
Transindividuelle Gemeinschaft, zu welcher der Mensch also vielleicht irgendwann finden wird, würde nicht auf Konditionierung basieren, sondern auf Freiheit. Sie wäre geprägt von Authentizi-tät, von wirklichem Miteinander, von Frieden und Liebe. Sie wäre erst richtige Gemeinschaft frei von Tabus, Gesetzen und einengenden Strukturen. Das Inzesttabu, wie ich es früher schon be-schrieben habe, wäre darin überwunden. Konsensfindung wäre das erreichbare Gebot, das sich aus den Gesetzmässigkeiten von Emergenz, von Selbstorganisation ableiten würde. Wahrnehmung, Bewusstheit, Reife, Verantwortung, ein ganzes Menschsein würden darin eine wahrhaftige Ausei-nandersetzung in allen Beziehungen möglich machen, die dazu führen würde, dass sich alle Tabus erübrigen. Da sind wir nicht. Und es scheint tatsächlich eher hoffnungslos, dass wir ein solches Ideal je erreichen könnten. Aber was wissen wir schon…
S. 52

Konfliktfreiheit beruht auf der Fähigkeit, ganz und gar mit dem sein zu können, was ist, keine Ausflüchte davon mehr zu suchen. Dieses sich der Wirklichkeit stellen, führt schliesslich zu einer Läuterung, in der ein inneres und äusseres Ankommen möglich wird. Der Betroffene findet sich schliesslich in völliger Kongruenz mit seinem Sein, seinem Schicksal, seinem Weg, seinem Platz. Er könnte nirgends sonst sein. Er könnte nichts anderes mehr sein als das, was er ist. Er ist durch und durch authentisch geworden. Er ist echt. Dadurch ist er mit allem in Einklang.
S. 216

Die Wahrheit der Liebe ist ein Schwert, das seichtes Geschwätz von wahrhaftigem Ausdruck, das unehrliches Leben von authentischem Sein trennt. Die Liebe kann nicht anders als konfrontieren, als vor den Kopf stossen, obwohl das keineswegs in ihrer Absicht liegt. Es liegt am harten Kopf, dass er Anstoss nimmt, nicht an der Aufrichtigkeit dessen, gegen das er dabei stösst. Solange Wahrhaftigkeit als konfrontativ und nicht als natürlich empfunden wird, ist Verständigung nicht möglich.
S. 489

Kann man ein Gespür für Liebe entwickeln? Für Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit? Einen untrügli-chen Instinkt für Integrität? So dass man völlig offen sein kann, sich nicht durch Misstrauen schützen muss? So dass man einfach sieht, unschuldig wie ein Kind?
S. 61


1) Aus: Samuel Widmer Nicolet: Einfachheit/Simplicity (zweisprachig, englisch/deutsch), Gedichte, Basic Editions, 2009, S. 142