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Newsletter 2/2025 - Drei Briefe an die Welt
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Juni 2025



E

s gibt keine dummen Tiere,
und keine verlogenen,
so wenig wie Pflanzen –
das ist dem Menschen vorbehalten.
Er hat die Möglichkeit zum Gott,
aber er ist immer nur Möglichkeit,
nie Erfüllung,
und jede gesunde Katze funktioniert
viel genialer als alle Genies. (1)




Sei du selbst die Veränderung,
die du dir für diese Welt wünschst.
Mahatma Gandhi




Liebe Leserinnnen, liebe Leser

Nachdem der April-Newsletter krankheitsbedingt ausgefallen ist, melde ich mich wieder mit ein paar von Samuels Texten. Da ich immer noch nicht lange am Computer sein kann, habe ich mich einfach für drei Briefe aus dem Buch «Letters to the World / Briefe an die Welt» entschieden.
In den letzten Monaten war ich nämlich sehr oft mit der Welt, ihrer Geschichte und ihrem Schicksal beschäftigt. Ich habe dabei ein noch stärkeres Mitgefühl für Tiere und Pflanzen entwickelt, die unter der Hegemonie der Menschen leiden müssen.
Irgendwann kam es mir so vor (vielleicht auch angelehnt an meiner Long-Covid Krankheit), als wäre der Mensch ein Virus, das aus dem Labor der Evolution entkommen und ausser Kontrolle geraten ist. Obwohl die Evolutionsschritte der Kreatur «Mensch» in seiner relativ kurzen Schöpfungszeit (2-4 Millionen Jahren versus z.B. die 25 Millionen Jahre einer Katze) erstaunlich und faszinierend sind, ist der Mensch in meinem Gefühl das einzige Lebewesen, das seine Umwelt aus dem Gleichgewicht bringen kann, weil er – einfach ausgedrückt – mehr nimmt, als nötig wäre.
Hier unten also die drei Briefe: Der Brief an die Tiere, der Brief an die Pflanzen und der Brief an den Konsumenten.

Einen schönen Sommer!

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi

Bevorstehende Termine der Praxis Hof zur Kirschblüte:

Die Programmübersicht mit den Angeboten für 2025 und neu auch 2026 findet ihr jeweils hier: https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.
  • Am 6. Juni findet die nächste online Meditation über das "Spirituell-Magisches Träumen" statt.
  • Im Juli sind wir wieder auf der Farm bei Konstantin Stavridis in Berlin mit einem Tantra-Seminar mit dem Titel «Aufbruch zu neuen Ufern»
  • Im August treffen wir uns zum dritten Mal bei der Eintagesseminarreihe«Integration und Heilung» zum Thema «Die Transformationskraft der Trauer»
  • Ebenfalls im August ist Danièle im Rhein-Main-Gebiet mit einem Seminar zum Thema «Die Tiefendimension in der Meditation».
  • Im Herbst 2025 beginnt die Ausbildung im "Spirituell-Magischen Träumen“.
Wir informieren Interessierte ein paar Mal jährlich per E-Mail über die Seminarangebote der Praxis Hof zur Kirschblüte. Ihr könnt euch hier eintragen: https://hof-zur-kirschbluete.ch/de/seminare_programmuebersicht.

Seit letztem Jahr bietet die Praxis Hof zur Kirschblüte für Menschen mit einem Euro-Einkommen eine Preisermässigung bis zu 20% nach eigenem Ermessen für die Seminare in der Schweiz an.

Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden. Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis. Die Newsletter findet ihr auch auf den Websites der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch) oder auf dem Facebook-Kanälen von Samuel Widmer Nicolet (https://www.facebook.com/samuelwidmernicolet) und der Kirschblütengemeinschaft (https://www.facebook.com/Kirschbluetengemeinschaft).


Aus: Samuel Widmer Nicolet: Letters to the World/ Briefe an die Welt, Briefe, Basic Editions, 2009
Brief an die Tiere

Liebe Brüder und Schwestern, für die wir verantwortlich sind

Was wäre die Erde ohne euch? Ohne eure Artenvielfalt, ohne eure Schönheit, ohne eure stille Arbeit, ohne eure stille Präsenz. Es ist wahr, wir sind verantwortlich für euch, nicht ihr für uns. Ihr seid die Schwächeren, die von der Evolution mit weniger Fähigkeiten und Möglichkeiten ausgestattet sind. Darum seid ihr uns anvertraut. Wir haben dafür besorgt zu sein, dass ihr neben und unter uns glücklich seid.
Aber was haben wir stattdessen getan? Wir beuten euch aus, als wärt ihr verantwortlich, wir behandeln euch wie eine Ware. Wir haben euch vertrieben, in die Enge getrieben, ausgerottet, verfolgt, getötet nur zu unserem Spass.
Wobei mir nicht klar ist, was daran der Spass sein soll. Es muss schon ein abgestumpftes, unsensibles Gehirn sein, das Freude am Töten für nichts und wieder nichts empfindet. Dass wir euch als Haus und Arbeitstiere halten, was wäre daran falsch? Dies gehört zu unserer Gerissenheit, die wir euch voraushaben, zu unserer Dominanz, die uns gegeben ist. Ihr seid ja auch nicht unzufrieden damit, sucht oft und ursprünglich wahrscheinlich sogar mehr unsere Gesellschaft. Aber dass wir euch behandeln, wie viele von uns Menschen leider alles behandeln, auch unseresgleichen, als wärt ihr nicht lebendige, empfindende, fühlende Wesen, das ist beschämend und schrecklich. Dass wir euch in Zoos halten zu unserer Ergötzung und eurem Kummer, wie abscheulich, was für eine Schande! Und dass wir euch in Fabriken stecken und industriell produzieren, was für ein Irrsinn!
Nicht dass ich etwas dagegen hätte, wenn wir euch, vor allem in Regionen, wo es an anderer Nahrung fehlt, auch töten und essen. Wir sind alle letztlich als Nahrung füreinander gedacht, bilden einen ewigen Kreislauf, in dem immer wieder Neues entsteht aus unserem Staub und unserer Asche. Warum sollten wir nicht mit Ehrfurcht und Dankbarkeit, im Bewusstsein eures Geschenkes auf euch zurückgreifen, wenn uns fehlt, was ihr habt, als Ergänzung für unsere Nahrung, unsere Kleidung? Aber eben, wo ist die Ehrfurcht und die Dankbarkeit geblieben? Wo das Bewusstsein? Und warum nehmen wir in unserer Gier mehr als wir wirklich brauchen?
Bei euch, liebe Tiere, kann ich mich nur entschuldigen. Es tut mir so Leid, was wir mit euch tun und gemacht haben. Als Entschuldigung kann ich euch lediglich anbieten, dass es mir mit meinen Mitmenschen auch nicht anders ergeht als euch. Sich selbst zu sein ist teuer geworden. Ich fühle mich heute genauso verfolgt, vertrieben, in die Enge getrieben wie ihr. Ich fühle mich als euer Bruder. Und dies nicht nur in der Angst und Traurigkeit, die uns zugemutet wird, sondern auch grundsätzlich, tief in meinem Wesen fühle ich unser Einssein. Wir sind gleich. Wir kommen vom Gleichen. Ich bilde mir nichts ein auf unseren besonderen Status unter den Wesenheiten, welche die Erde bevölkern.
Manchmal stelle ich mir vor, wie unsere Beziehung wohl aussehen würde, wenn wir endlich das Paradies hier auf diesem Planeten verwirklichen würden. Ich meine nicht das ursprüngliche, unbewusste Paradies, in dem ihr sowieso noch zu Hause seid. Ich rede vom bewusst verantworteten Paradies, das uns Menschen möglich wäre, für das wir gedacht sind, für das wir erwachen könnten, von einem Miteinander der Menschen, untereinander und mit allen anderen Wesen, in reiner Liebe und voller Mitgefühl.
Wir gehen davon aus, dass es unabdingbar zu eurer Natur gehört, uns zu meiden, euch zu verstecken. Dass ihr still und scheu seid und euch schnell zurückzieht, ist ja auch offensichtlich. Aber wie oft schon habe ich in der Natur Erlebnisse gehabt mit Schlangen, mit Rehen, mit Eichhörnchen, mit Vögeln, mit Hasen, Mäusen und Siebenschläfern, die mir offenbarten, dass ihr neugierig seid, dass ihr stehen bleibt und beobachtet, dass ihr zutraulich werdet und mit uns spielen wollt, wenn wir nur in der richtigen Verfassung sind. Die richtige Verfassung. Ja, das ist eben dieser paradiesische Zustand von reiner Liebe und voller Mitgefühl. Er beinhaltet ein inneres Stillsein, vor allem im Kopf, eine Wachheit und Zuneigung, die nichts zerstören will, und auch eine äussere Achtsamkeit und Sorgfalt, die alles andere mitberücksichtigt und sich nicht rücksichtslos durchsetzen will.
Würdet ihr viel mehr mit uns wohnen wollen, viel näher kommen, wenn wir Menschen immer in diesem Zustand wären? Würden Löwen und Lämmer tatsächlich zusammenliegen und in unserer Nähe sein, wie wir es so schön in einer alten Vision des Paradieses beschrieben finden? Wäre ein respektvolles Nebeneinander auch mit euch möglich, ohne Gewalt, Ausschluss und Übergriffigkeit? Denn wenn ich meine Erfahrungen im Umgang mit den Mäusen und Siebenschläfern unter euch betrachte, könnt auch ihr ganz rücksichtslos und ohne Respekt sein. Ob wir uns da einigen könnten? Ob man mit euch verhandeln könnte? Ich weiss es nicht. Ich erlebe lediglich Anzeichen dafür, wenn ich mich auf euch einlasse. Aber es macht wenig Sinn, über das Paradies, das nicht ist, zu spekulieren. Man kann nicht wissen, was nicht ist. Man müsste das Paradies tatsächlich riskieren.
Das ist es nämlich, was die Menschen scheuen, das Paradies zu riskieren. Nicht nur mit euch Tieren nicht, sondern auch untereinander, unter den Menschen nicht. Längst ist es Zeit, so überholte Strukturen wie Militär und Kriegsgerät aufzugeben und zu vernichten. Sie schützen uns längst nicht mehr, sondern bedrohen unser Überleben. Aber keiner will es riskieren. Alle haben sie Angst, diesen Schritt zu tun. Den Schritt in die Liebe. Denn die Liebe ist es, die dieses Risiko immer wieder eingeht, am Ende der Dumme zu sein.
Jeden Tag sterben wieder neue Arten aus, höre ich die Biologen klagen. Mit erschreckender Geschwindigkeit verschwindet ihr Tiere, eure Vielfalt jedenfalls, von unserem Planeten. Aus unserem Blickfeld sind die meisten von euch ja längst verschwunden. Oft kennen wir euch ja lediglich noch vom Zoo oder völlig virtuell vom Fernseher. Ihr habt keinen Raum mehr hier, also sterbt ihr einfach aus.
Manchmal muss ich mir auch eine Erde vorstellen, die kaum noch Tiere beherbergt. Es ist undenkbar. Obwohl in Städten oft schon nahe an der Wirklichkeit. Würden uns nur noch die Ratten und die Insekten bleiben?
Und der Mensch? Ist es wirklich so, dass ihr gehen müsst, weil wir allen Raum für uns beanspruchen? Oder ist euer Verschwinden ein erstes Anzeichen dafür, dass es für uns auch bald keinen mehr haben wird? Keine Luft zu atmen, weil wir sie verpestet haben, kein Wasser zum Trinken, weil wir es verdorben haben. Nur noch Wüste und eine enorme Hitze, die wir nicht vertragen werden, weil wir das Gleichgewicht des Klimas verpfuscht haben.
Werden wir vorher erwachen? Oder ist es zu spät?
Liebe Tiere, liebe Brüder und Schwestern, ob ihr euch wohl fühlt oder nicht, könnte für uns der Massstab sein, ob wir Menschen alles richtig machen oder nicht.
Wir müssten nur hinschauen. Was eine Gemeinschaft wert ist, zeigt sich an ihrem Umgang mit den Schwächsten, nicht wahr?
Fühlen sich die Menschen eigentlich wohl in dieser Gemeinschaft?
S. 173


Brief an die Pflanzen

Liebe Brüder, liebe Schwestern

Willkommen all ihr lieblichen, luftigen Wesen, die ihr unserem Planeten sein herrliches Gesicht aufdrückt! Ihr seid meine Heimat, mein Ort der Sicherheit vor der Unberechenbarkeit der Menschen. Schon seit meiner Kindheit seid ihr mein Glück, meine Freude. Balsam für die Seele.
Welch ein Glück das war, als kleiner Knabe, als ich die Blumen entdeckte! Und jedes Jahr auf ihr Wiederkommen zu bangen, wie viel Zuhausesein mir dies gegeben hat in der Düsterkeit meiner Jugendzeit. Und dann die Bäume als verlorener FünfundzwanzigJähriger, verloren in der Einsamkeit der grossen Stadt! Was für ein Segen, als mein Bewusstsein lernte, mich jederzeit mit euch zu verbinden!
Aber auch euch geht es nicht gut. Auch zu euch, für die wir ebenso verantwortlich sind, wie für die Tiere, schauen wir denkbar schlecht. Auch eure Lebensbedingungen zerstören wir, so dass ihr genauso wie die Tiere begonnen habt, Art für Art von unserem Planeten zu verschwinden. Still und leise ist euer Abgang, genauso wie es euer Hiersein immer schon war. Von euch könnten wir Menschen das Stillsein lernen, was es braucht, was für ein Wesen, was für eine innere Haltung und Atmosphäre, um das Wunderbare anzulocken. In eurer Gegenwart erscheinen die Fabelwesen, die Feen, die Kobolde, die Zwerge. Die Märchen leben auf, die Geschichten des Mysteriums.
Wir geniessen ja auch gerne eure Stille, wir Menschen, vor allem wenn wir gestresst sind, krank oder wenn wir älter werden. Aber wir scheinen so selten davon zu lernen. Auch euch beuten wir lediglich aus für unsere egoistischen Zwecke. Da, als wir den Kontakt zur Natur verloren haben, ist der Menschheit, den meisten Menschen, das Mysterium, das Wunder, das uns umgibt, abhanden gekommen. Als seelenlose Maschinerie begannen wir, das Universum und das Leben misszuverstehen. Und wir sind nicht glücklich geworden dabei.
Wir werden das Wunderbare erst wiederfinden, wenn wir die Fähigkeit entwickeln, es anzulocken, es zurückzurufen. Es zeigt sich uns gerne. Es versteckt sich nicht wirklich. Es liegt verborgen im Alltäglichen, im Kleinen, im Unbedeutenden, in dem, was der laute und verwirrte Geist der Menschen für gering achtet und unbeachtet lässt. Das Wunderbare ist scheu wie die Tiere, wie die Pflanzen. Aber es ist auch neugierig und fröhlich wie ein kleines Kind. Es zeigt sich gern dem stillen Betrachter. Es kommt zurück, wenn wir still werden, innerlich still werden wie alle Natur. Der Schöpfer hat es, um es zu schützen, im Offensichtlichen versteckt, wo es der grobe Umgang nie suchen wird. Weil es ganz offen und zugänglich daliegt, bleibt es unentdeckt, damit die Unachtsamkeit ihm nicht wehtun kann. Die Stille zieht es an.
Die Pflanzen und Tiere können wir Menschen vernichten; es nützt ihnen wenig, vor uns zu fliehen. Aber das Wunder, von dem sie umgeben sind, entzieht sich uns, wir können es nicht erreichen, nicht berühren. Es bleibt uns fremd, bis wir uns dafür empfänglich machen.
Die Menschen sehen es nicht, obwohl es viele erahnen: ein Wunder ohnegleichen wartet auf uns. Ein Wunder wird geschehen, wenn wir lernen, friedvolle Herzen zu haben, einen stillen, empfänglichen Geist. Wenn wir lernen, unser Gehirn nicht länger nur als ratternde Erinnerungsmaschine zu benutzen, die endlos die immerselben Gedanken reproduziert, sondern seine andere, viel grössere und unglaubliche Qualität entdecken, ein Sinnesorgan zu sein. Ein Sensorium der Wahrnehmung, das wirklich sehen kann, wirklich lauschen kann, das in die Tiefe von allem Seienden eindringen kann.
Wenn das Wunder zu uns kommen wird, werden wir uns wundern. Wir werden nicht verstehen können, dass wir es vorher nicht gesehen haben. Wir werden wieder staunen lernen. Wir werden staunen darüber, wie sich alles, was heute so kompliziert erscheint, ganz von selbst ergibt, wie sich in der Herzensgemeinschaft alle Probleme, die so unlösbar erscheinen, einfach auflösen. Eine Leichtigkeit und ein Glück werden uns erfassen, wie wir sie bis anhin nicht kennen. All die Errungenschaften der Vergangenheit, die Technik, die Wissenschaft, werden uns dienen. Wir werden in einer Fülle leben, in einem Reichtum für alle, in einem unvorstellbaren Frieden. Wir werden nicht glauben können, dass so etwas möglich ist, dass alles wie von selbst geschehen kann, ohne Reibung, ohne Widerstand. Wir werden sein wie die Pflanzen, wie unsere Brüder und Schwestern. Wir werden sein wie die Tiere, unsere Brüder und Schwestern. Aber wir werden erwacht sein darin, zu vollem Bewusstsein erwacht.
Ich weiss, ich spekuliere. Ich träume. Ich erträume unsere Zukunft. Unsere uns mögliche Zukunft. Ob wir sie wohl je sehen werden?
Und ich bin nicht naiv darin, nicht einfältig. Ich weiss, was es kostet, das Glück von Gemeinschaft lebendig zu halten. Es fällt uns nicht in den Schoss. Es ist ein grosses, inneres Ringen. Jedenfalls zuerst. Und auch es aufrechtzuerhalten, wird weiterhin Mühe und Arbeit sein. Aber das Nötige dafür zu leisten, wird unser grösstes Glück sein, unsere Hingabe aneinander. Die Einheit des Ganzen, die wir in der mystischen Innenschau schon immer vorwegnehmen konnten, in den Bereich der Materie hinunterzutransformieren, ist das Ziel unserer evolutionären Reise. Und wenn es eintreten wird, wird es auch die Erfüllung und Vollendung des ganzen Werkes sein. Aber dies hinzukriegen, braucht unendlich viel Fleiss und Wachsamkeit.
Wehe den Faulen und Verblendeten, die lehren, die Schöpfung sei lediglich eine Illusion; es gehe nur darum, die innere Einheit zu finden und dann abzuheben! Sie drücken sich um die Arbeit und sie verpassen dabei das Wesentlichste. Hier soll es stattfinden, hier in der materiellen Welt! Hier, durch unsere schiere Existenz soll schliesslich das Lob unseres Schöpfers gesungen werden. Wie kann man dieses Wunder, wenn auch vergänglich, gering achten? „Die Kräfte, welche uns Menschen lenken, sind unvorhersehbar und Ehrfurcht gebietend. Aber ihre Grossartigkeit nimmt einem den Atem“, meint Castanedas Don Juan.
Und es ist ja schon da für jeden, der sehen kann, der hören kann. In euch, ihr sterbenden Pflanzen, in der ganzen gebeutelten Natur erhebt sich schon immer und noch immer der Lobgesang des Wundersamen.
Liebe Pflanzen, liebe Brüder und Schwestern, wenn ihr nicht wärt, ich wäre ohne Hoffnung.
S. 177

Brief an die Konsumenten

Liebe Konsumenten, liebe Bedürftige, Notdürftige, Brauchende, liebe Brüder und Schwestern einer anonymen, schweigenden Mehrheit
Wenn ich mich frage, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn alle wären wie ich, wenn alle dieselben Bedürfnisse hätten wie ich, komme ich auf ein ganz anderes Bild als das gegenwärtige. Das, was ich täglich vor Augen habe, sieht vollkommen anders aus. So vieles würde verschwinden, was mich eigentlich stört, militärische Strukturen zum Beispiel, Kirchen, Sportplätze, die ganze Vergnügungsindustrie. Und viele Dinge, die jetzt in den Hintergrund gedrängt werden, würden wichtiger werden. Stille zum Beispiel, das zusammen Stillsein, das konfliktlose Zusammensein, das Zusammensein überhaupt, ein einfaches, intelligentes Gespräch.
Daraus schliesse ich, dass du als Konsument eine wichtige Verantwortung hast, dass letztlich du unser Leben bestimmst, dass du mit deinem scheinbar unmerklichen Dasein das Gesicht
unseres Planeten enorm prägst.
Oft staune ich, was es alles zu kaufen gibt, was ich weder brauche, noch mir wünsche, was ich nicht wollen würde. Das musst du sein!
Oft kann ich mich direkt darauf verlassen, dass sich dasjenige durchsetzt in der Welt, was mir nicht gefällt, und das, was ich liebe, muss man förmlich suchen, wenn man es in all dem Ramsch entdecken will. Zarte, zärtliche, stille Bücher zum Beispiel, Geschichten, die von Freude und Glück erzählen. Du scheinst immer das Gewalttätige vorzuziehen, das Brutale, Rohe, Gemeine. Du liebst das Laute, das Konflikthafte, das Kriegerische. Du willst Geschichten hören, in denen die Bösen besiegt werden und die Guten sich durchsetzen. Und dass dabei die Guten die verkappten Bösen und die Bösen eigentlich die Armen und Benachteiligten sind, übersiehst du tunlichst.
Wenn es um eine politische Abstimmung geht, entscheidest du dich bestimmt für die Gutsituierten und gegen die Übertölpelten, obwohl du meist zu den Letzteren gehörst. Aber das verdrängst du wohl und glaubst dir deine oberflächliche Identifikation mit dem Bessergestellt Sein selbst, obwohl sie dein Elend nur notdürftig verdeckt.
Die Nachfrage bestimmt den Markt. Und die Nachfrage bestimmst du, der Konsument. Die Welt produziert das, wonach du verlangst. Du kriegst die Fernsehprogramme, die du mit deinen Einschaltquoten begünstigst, wir essen das, was du im Kaufhaus nicht stehen lässt. Wenn du darauf bestehen würdest, etwas anderes zu bekommen, die Produzenten würden sich sofort danach richten. Der Markt gehorcht dir. Und dass er dich zuerst manipuliert, zuerst die unreifen Bedürfnisse in dir hervorruft, die dann nach dem lechzen, was er dir zu bieten hat, ist auch nur eine Ausrede. Wenn du es anders wolltest, würde alles anders sein. Wenn du Göttertränke fordern würdest statt Bier, würden sich die Gesetze ändern, und wenn du den „Heiligen Rauch“ deiner Zigarette vorziehen würdest, würden letztere verschwinden. Du kannst lange tun, als wärst du nicht verantwortlich; du bist es trotzdem. Auch wenn du das Opfer mimst, das Kind, den Unschuldigen, der nichts zu sagen hat, auch du trägst für dein Leben die volle Verantwortung. Man sieht es ja an den Folgen, die dir aufgebürdet sind. Denkbar wäre es, dass Intelligenz, Würde und Feingefühl unser Leben bestimmen würden, aber tatsächlich regieren überall die Dummheit und die Beschränktheit. Du liebst die Gewohnheit, die Sicherheit, darum beherrschen ihre Stumpfheit und ihre Blödheit das Feld.
Manchmal kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass die Menschheit immer noch mit einer immensen und wichtigen evolutionären Zielsetzung unterwegs ist. Manchmal kann man sich der Ahnung kaum erwehren, dass alles bereits verloren ist, dass alles Grosse, das deinen Geist beflügeln könnte, im Sumpf deiner tierischen Bedürftigkeiten untergegangen ist. Manchmal verliert man fast den Glauben daran, dass du noch dran bist, dass du es am Ende sein wirst, sein musst, der uns zu neuem Blühen führen wird.
Was wäre, wenn wir eines Tages eingestehen müssten, dass die Schlacht verloren ist, dass die „Mayonnaise“ menschlichen Wachsens längst durchgefallen und für nichts mehr zu gebrauchen ist? Bliebe einem dann in dieser Sinnlosigkeit ein Ausweg? Würde dann genau in diesem Einsehen die Welt anhalten und in der Stille, die daraus käme, das Tor sichtbar werden, durch das der einsame Geist, der deinem Sog zur Stumpfheit widerstanden hat, entfliehen kann?
Stimmt es vielleicht doch, dass die Erde im Universum nur einen Schulungsplatz darstellt, um den Geist zu stählen, wie es immer wieder von den einen behauptet wurde? Ist es letztlich doch wahr, dass von ihr abhebt, wer verstanden hat, wer ausgelernt hat? Dass er sich dann in viel, viel lichtere Bereiche des Universums davonmacht, froh, dem für immer undurchdringbaren Dunkel, das auf unserem Planeten herrscht, entkommen zu sein? Wie wäre es, wenn man sich solchen Gedanken ergeben würde? Würde man genau darin die Makellosigkeit erlangen, nach der man sich so sehnlich gestreckt hat, oder wäre dies vielmehr ein Sichgehen-Lassen, in dem man die Schlacht für verloren gibt und in Sinnlosigkeit versinkt?
Wunderbar ist es, dass sich unser Geist Fragen stellen kann, auf die es keine Antwort gibt. Mit denen man leben muss, bis sich aus dem Leben mit ihnen die Antwort herausschält. Ist es die letzte Illusion, die zu überwinden ist, dass du schliesslich aufwachen wirst, dass du schliesslich in den gemeinsamen Kreis erwachen und ihn zur Vollendung führen wirst? Dass es hier stattfinden soll, dass im Materiellen die Erfüllung kommen soll, die der Geist schon immer vorwegnehmen konnte? Die letzte Illusion, die einen noch vor der inneren Kapitulation schützt, der Kapitulation, die zwar einen völligen Zusammenbruch zur Folge hätte, aber danach Frieden und Freiheit bringen würde? Die Erlösung vom Materiellen bringen würde? Haben diejenigen doch Recht, die behaupten, das Erdental mit all seinen Leiden und Auseinandersetzungen sei lediglich eine Illusion, der man entrinnen müsse?
Oder muss der Krieger glauben? Muss er einfach weiterglauben, auch wenn alles verloren scheint? Wäre die Kapitulation gar kein Zusammenbruch in Wirklichkeit und Wahrheit hinein, sondern der definitive Sieg deiner Stumpfheit und Langeweile, dem dann auch ich als Letzter erlegen wäre? Der Sieg des Materiellen über den Geist, der es dann nicht vollbracht hätte, seine Werte in die Dichte und Dunkelheit der Materie hinunterzutransformieren? Lieber Konsument, lieber Bruder, liebe Schwester, du hast gewonnen. Ich habe dir nichts Positives mehr zu sagen, entgegenzuhalten. Etwas ist in mir am Ende. Ans Ende gekommen mit dir. Ob das Tor sich dadurch öffnen wird? Zum freien Flug des Geistes in die Unermesslichkeit des Seins?
Mit tiefen, wesentlichen Fragen zu leben, ist eine der Disziplinen der Makellosigkeit. Wesentliche Fragen finden nie eine Antwort. Sie lösen sich schliesslich auf, indem man sie in sich austrägt. Schliesslich brauchen sie keine Antwort mehr. Etwas transzendiert im Prozess des inneren Ringens damit. Am Ende spielt es gar keine Rolle mehr, ob die Evolution gelingen wird, ob du deinen Part darin richtig spielst oder nicht und damit ihr Gelingen ermöglichst. Am Ende ist es unbedeutend, ob dies tatsächlich vorgesehen war oder gar nie im Bereich der Möglichkeiten lag. Denn am Ende steht einmal mehr die Überwindung der Dualität, die in der Spaltung des Problems in eine Frage und eine Antwort angelegt war. Am Ende mündet der Prozess in das, was schliesslich seine Auflösung sein wird. Am Ende wird es gut sein. Der makellose Geist wird durchbrechen, so oder so. Das Tor wird sich öffnen, so oder so. Die Evolution wird weitergehen, so oder so, hier oder dort.
Warum bin ich anders als du? Warum, lieber Bruder, liebe Schwester, die du das Erwachen scheust, empfinde ich anders? Bin ich besser? Wie bin ich zu erklären? Bin ich vielleicht der Beweis? Bin ich vielleicht die Auflösung des Rätsels? Bin ich du, gewandelt? Bin ich derjenige, der dir zeigt, dass du mich sein kannst, dass du eine andere Möglichkeit hast?
Und liegt die Transformation nicht darin, dass wir vom Konsumenten, vom Bedürftigen und Brauchenden zum Gebenden werden? Wie hat Ghandi einmal treffend gesagt? „Solange nicht jeder Einzelne von uns bereit wird, aus freien Stücken ganz hinten in der Reihe anzustehen, wird sich in der Menschheit und auf der Erde nichts verändern.“
S. 193

1) Hermann Hesse, Gesammelte Briefe