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Newsletter 5/2020 - Leidenschaft
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Oktober 2020
C
ellotöne –
hier unten nur leise zu hören
erfüllen doch das ganze Haus
und neben mir der kleine Engel
der vor kurzem uns geboren ist...
Frühherbstliche Sonne
scheu durch Nebelschwaden dringt
um das Neue zu begrüssen
das zaghaft noch die Räume füllt –
Leidenschaft in deinen Tönen
Sehnsucht ist in meinem Herz
und Frieden ist der kleine Engel
der noch tief aus anderen Welten schaut
Cellotöne
in meinem Herzen
suchen einen Platz zum Sein
Leidenschaft in deinen Händen
geben Heimat, laden ein
und mittendrin der kleine Engel...
(
1
)
Ohne Leidenschaft finden wir nicht zur Wahrheit
Jiddu Krishnamurti
Liebe Leser
Ich wollte euch schon lange einen Newsletter über die Leidenschaft zusammenstellen. Das Thema begleitet mich schon seit Monaten, in verschiedenen Formen und aus verschiedenen Gründen. Im Frühling war mir z.B. aufgefallen, wie viele Menschen in meinem Umfeld keine Leidenschaften haben, kein inneres Feuer, nichts, wofür sie brennen, nichts, was sie mitreisst. So gleiten sie mit ihren Gewohnheiten durch das Leben, zwischen Arbeit, Familie und Abenden mit Netflix und lassen sich für nichts begeistern. Das ist traurig und es ist leider oft auch schwierig, in ihrer Nähe zu leben. Im Innersten merken sie nämlich, dass ihnen etwas fehlt, aber anstatt etwas an ihrem eigenen Leben zu ändern, agieren sie ihre Unzufriedenheit, ihren Frust und Neid aus Aber wie kann man sie für die Leidenschaft wecken?
Vor ein paar Wochen kam dann das Thema Leidenschaft wieder zu mir. Diesmal in einem anderen Zusammenhang. Während einer Meditation hörten wir wunderschöne Musik. Sie war nicht nur wunderschön, sie war auch genial und leidenschaftlich und vor allem, sie ertönte an jenem Tag ganz besonders, Jeder Zwischenraum, jedes Quantum im Universum, jede Zelle war gefüllt mit dieser Leidenschaft und Liebe. Ich war eins mit der Musik, wir, alle, die für diese Magie offen war. Eine tiefe Dankbarkeit für die Schöpfer solcher Wunderstücke erfüllte mich, sowie eine Art Erleichterung und Trost dafür, dass es auf der Welt doch noch Leute gibt, die etwas über die Magie der Liebe und der Leidenschaft zu kennen scheinen. Sie sind und bleiben leider den meisten Erdbewohnern unbekannt, weil sie nicht durchschnittlich sind, weil sie eben von einem Zauber singen, der den meisten unerschlossen bleibt. Das betrifft natürlich nicht nur die Musik, das ist nur mein jüngstes Beispiel.
Und dann ist diese andere Facette der Leidenschaft. Die Leidenschaft als Wesen, die einem, wie die Liebe, ganz durchdringt, die mich erfüllt aber auch sehnsüchtig hinterlässt und weh tut, wenn sie kein Gegenüber, keinen Samuel, findet. Ich bin ein sehr leidenschaftlicher Mensch; meine Leidenschaft findet in vielem Ausdruck, in meiner Arbeit und den vielen Interessen wie Musik, Lesen, die Weltgeschichte, die Fremdsprachen, das Wissen allgemein, das Tanzen, der Kriegerweg… und natürlich in jedem Moment und in jeder Begegnung. Aber trotzdem bleibt etwas ungestillt. Der Ausdruck der Leidenschaft ins ganz Persönliche fehlt mir, diese Art von Leidenschaft, über die Samuel kurz vor seinem Tod dichtete:
Gerade bin ich überwältigt und voller Liebe.
Unvermittelt ist die Wehmut,
die mich überfallen hatte,
in mir aufgebrochen und hat
einer überraschenden Leidenschaftlichkeit
Platz gemacht.
Du machst mich derart glücklich
Die Texte von Samuel hier unten besingen vor allem eine tiefe Leidenschaft, die ihren Ausdruck ins Ganze findet, wenn das Leiden, der Schmerz in einem ein Ende findet. Leidenschaft für Fortgeschrittene…
Ein Herbst voll Leidenschaft wünsche ich euch.
Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi
P.S. Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins „Samuel Widmer Nicolets Erbe“ (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden.
Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Rundschreiben (auf Deutsch und Englisch).
Aus: Samuel Widmer Nicolet: glitzerglimmerspotzerpuster, von Lydia, der kleinen Fee/ eine ganz andere Geschichte – für Kinder und Erwachsene (unter Paul Nicolet), Kinder/ Jugend-Roman, Basic Editions, 2001
Du erinnerst dich: lauschen, schauen, fühlen, in die Weite der Nacht hinaus, mit einem sehnsüchtigen Herzen, und dann in dieses Herz hinein, voller Leidenschaft.
S.132
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Zusammen leben - Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung, Basic Editions, 2013
Was Menschen fehlt, was sie nie entwickelt haben, was ihnen abhandengekommen ist, ist eine Leidenschaft, eine Liebe für das Ganze des Lebens. Sie geben zu schnell auf, haben keine Energie über ihre Eigeninteressen hinaus. Es fehlt ihnen die Kraft des Unkrauts, um ein anderes Bild zu bemühen […]. Unkraut, das heisst, lebendige Pflanzen können nicht anders, als nach Entfaltung streben. Auch wenn sie mit Unkrautvertilger am Wachstum gehindert werden, streben sie weiter danach. Sofern man sie nicht ganz abtötet, können sie nicht lassen, es immer wieder neu zu probieren. Ein Unkraut, eine Pflanze sagt nie: „Das macht doch keinen Sinn mehr, ich gebe auf.“ Sie folgt einfach weiter ihrem Impuls, ihrer Leidenschaft, ihrem inneren Imperativ. Diese Kraft fehlt den Menschen oft. Entweder ist sie gebrochen in ihnen oder sie haben sie einfach nicht. Sie sind noch nicht für sie erwacht. Sie sind noch nicht erwachsen geworden.
S.295
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Weg mit Herz, Die Essenz aus der Lehre des Don Juan/ Eine Würdigung des Werkes von Carlos Castaneda, Sachbuch Psychologie, Nachtschatten-Verlag, 2002
Ein Mensch muss Leidenschaft haben, um ein Zauberer zu sein. Ein leidenschaftlicher Mensch hat irdische Dinge, die ihm lieb sind, und sei es nichts als der Weg, auf dem er wandert.
All das lässt er zurück. Nur als Krieger kann man auf dem Pfad des Wissens überleben, denn die Kunst des Kriegers ist es, den Schrecken, ein Mensch zu sein, und das Wunder, ein Mensch zu sein, miteinander im Gleichgewicht zu halten.
S.98
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Allerinnersten, Meditationen , Basic Editions, 2005
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Vom Herz der Dinge aus betrachtet, ist das Äussere, die Welt, das, was Menschen tun, vor allem Traurigkeit, ein endloser See der Traurigkeit. Das ganze Leid der Menschen ist darin von diesem Innersten umfangen und transformiert. Diese Trauer ist eine transformierende Kraft. Sie transformiert das Leid und Elend der Menschen, all die Angst, all den Krieg und Konflikt, den ganzen, unendlichen Strom der abgewehrten und abwehrenden Gefühle in Leidenschaft. Vor der Stille des Allerinnersten wandelt sich dieser Ozean des Schmerzes in eine ausgerichtete Kraft der Absicht und Leidenschaft. Stillgehalten ohne jede Abwehr, ohne jede Reaktion ist aller Schmerz, alle Trauer eine zentrierte Kraft, die sich mit der Liebe aus dem Innersten verbindet und sich als immenses Mitgefühl in die Welt ergiesst.
S.65
Traurigkeit ist wie alle anderen Eigenschaften des Allerinnersten mit allen seinen Facetten verbunden. Besonders nahe stehen ihr die Liebe, die Herzenswärme, das Mitgefühl, die Leiden¬schaft. Traurigkeit heilt in die Liebe hinein. Sie lehrt uns, uns mit nichts sonst zu verbinden als mit der Liebe, mit nichts zu kooperieren ausser mit dem, was aus dem Innersten kommt. Sie sieht ein, dass jede andere Verbindung, jedes andere Zusammenwirken – mit der Einsamkeit zum Beispiel, mit der Angst, mit dem Widerstand oder mit dem Vergnügen – nur weiteres Leid bringt, diesen endlosen Strom des Leidens nährt, statt ihn transformiert und austrocknet. Die Traurigkeit wartet auf die Liebe, bis sie kommt.
S. 67
Krishnamurti hat als absolut notwendige Kriterien, damit Reife gegeben ist, die folgenden genannt:
- Völlige Einfachheit, die mit Demut zusammengeht, und zwar nicht bezüglich Dingen und Besitz, sondern in der Qualität des Seins.
- Leidenschaft von einer Intensität, die nicht nur physisch ist.
- Schönheit, und zwar nicht nur eine Sensivität gegenüber der Schönheit, die über und jenseits von Gedanke und Gefühl liegt.
- Liebe, und zwar die Ganzheit davon, nicht diese Angelegenheit, die Eifersucht, Abhängigkeit und Bindung kennt, nicht jene, die sich unterteilt in fleischliche und göttliche Liebe, sondern die ganze Immensität davon.
- Einen Geist, der fähig ist, etwas nachzugehen, ohne Motiv, ohne Absicht in seine eigenen, unermesslichen Tiefen einzudringen, der keine Begrenzung hat, der frei ist, ausserhalb von Raum und Zeit zu wandern.
S.87
Manchmal erleben wir das Allerinnerste auch als ein inneres Feuer. Der Schmerz in der Tiefe, die Verzweiflung am Unvermögen des Menschen, das ganze Leid seines Geschlechts, das auf dem Weg der Selbsterkenntnis zu nehmen ist, transformiert sich in dieses innere Lodern hinein, reinigt sich in diesem Wandlungsprozess zu einer Flamme ohne Rauch. Leidenschaft ist das Ergebnis, ein ganz und gar Ergriffen-Sein, in dem keine Abwehr, keine Zurückhaltung, keine Trennung, keine Reaktion übrig geblieben ist. Leiden ist Reaktion auf Schmerz, zuerst auf den persönlichen und im Zug der Öffnung schliesslich auf den globalen. Leiden ist Abwehr der Traurigkeit über unsere menschliche Unbedarftheit. Die Abwehr ist der Rauch, der das mottende Feuer des Schmerzes, der Trauer umgibt. Der Schmerz ist bereits das Feuer. Sobald eine Ergebenheit für ihn da ist, sobald kein Ich mehr da ist, das ihn meiden will, ist er eine Flamme, die alles Unreine verzehrt. Und in dieser Läuterung wandelt er sich, in dieser Läuterung ist er Leidenschaft, eine tiefe Anteilnahme, ein tiefes Mitgefühl, das vor Liebe glüht. Schmerz, ganz genommen, ist Liebe. Schmerzlich bleibt die Liebe, solange sie eingeengt wird durch behindernde Schranken, solange sie gestört wird in ihrem freien Fluss durch angstvolles Zurückscheuen vor ihrer Unaus¬weich-lichkeit. Leiden tun wir an unserer Zurückhaltung bezüglich der Liebe. Zuzulassen, dass sie sich in uns durchsetzt, dass sie uns ganz erfüllt, ist das Ende von Leiden und Konflikt. Schmerz, Trauer, wo sie ganz geworden sind, paaren sich mit der Intensität, mit der Leidenschaft, die aus solch ungeteilter Wahrnehmung kommt. In ihrem Einssein sind sie, Schmerz und Leidenschaft, Mitgefühl.
Leidenschaft führt zu Ernsthaftigkeit. Ernsthaftigkeit weckt ein Gefühl für Verantwortung, für globale Verantwortung. Das Annehmen der Verantwortung für das Ganze schafft Brüderlichkeit, diese Verbundenheit unter den Menschen, die so sehr fehlt, die so sehr verloren gegangen ist oder gar nie gegeben war.
S.127
Leidenschaft ist eine Qualität des Allerinnersten. Gereinigt durch die Verneinung von allem Unlauteren bleibt vom Schmerz nur die Essenz. Diese Essenz ist eine Intensität, eine gesammelte Energie, die Flamme der Leidenschaft. Leidenschaft ist die Explosion des Leidens, des Schmerzes ins Allerinnerste hinein, ins Licht des Alleinstehens.
S.129
Es braucht dieses innere Feuer. Ohne dass es Herz und Geist erfasst, bleibt ein Mensch stumpf und unberührbar. Was könnte es wecken? Was könnte uns entflammen? Natürlich kann man Erklärungen finden, Erläuterungen dazu abgeben. Aber all das wird an den Fakten nichts verändern. Die Fakten sind hart. Die Fakten über uns Menschen bezüglich unseres Zusammenlebens sind hoffnungslos. Hoffnungslosigkeit ist ein Eingang. Sie zu sehen und zu nehmen könnte …
Ja, ja, ja, könnte! Immer wieder könnte man von vorne beginnen. Immer wieder kann man es aufzeigen, auf die Fakten hinweisen, Erklärungen suchen, den Weg der Wandlung, der Transformation sichtbar machen. Aber es hilft nicht. Nur ganz wenige werden dadurch erschüttert werden, erreicht werden, berührt werden. Es reicht nicht. Im Wesentlichen bleibt der Mensch wie er ist, gewalttätig, stumpf, unbewusst, unberührbar, ohne Kontakt zu seiner inneren Quelle. Wir sind verloren.
S.131
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Sag mir Liebste, was ist das Leben? Und sag mir Liebster, was ist der Tod? - Ein Briefwechsel zwischen Liebenden (zusammen mit Danièle Nicolet), Basic Editions, 2003
Leidenschaft. Diese Kraft der Leidenschaft, die persönliche Kraft, wird zu einer einheitlichen Kraft, die sich ausrichtet auch auf die Bewegung des Ganzen, die sehen kann, dass da Kräfte sind, die uns führen, Schicksalskräfte, und sich wendig diesen anschliessen kann, mit ihnen gehen kann, statt ihnen zuwiderlaufen will. Unmerklich wächst diese Kraft und unmerklich kommt damit eine neue Bewegung in meinem Leben, ein anderes Leben wächst daraus hervor, ein Leben, in dem dieselbe Ordnung herrscht wie im Universum draussen, derselbe Geist, dieselbe Intelligenz. Und keiner weiss, wie weit ich darin gehen kann. Das ist nicht meine Sache. Meine Sache ist, mich in der Makellosigkeit auf diesem Weg zu üben, eine Freude an diesem Weg zu entwickeln, so dass der Weg selbst schon genug ist. Das andere kommt von selbst, und es sind andere Kräfte, die darüber befinden, wie weit ich darin gehen kann. Vielleicht gelange ich dahin, dass so viel Kraft in mir aufgebaut ist, dass es plötzlich zu dieser Wandlung kommt, die auf einmal geschieht. Das Anhalten der Welt nennt es Don Juan, ein Zustand, in dem der Tod wirklich Platz findet in mir, so dass von einer Stunde zur andern etwas vollkommen anders wird in mir und meinem Leben. Und auf diesem neuen Weg, der daraus kommt dann, einem Weg ins Unergründliche, auf diesem Weg gibt es keine Grenze, kein Ende, es ist ein Entdecken ohne Ende. Das Leben hört auf eine routinierte Langeweile zu sein. Es ist das faszinierende Unbekannte. Und bleibt das Unbekannte. Es ist eine Bewegung in alle erdenklichen Richtungen, unbegrenzt.
S.77
[Danièle] Einen Mythos muss man immer gemeinsam leben, man braucht sich gegenseitig dafür, auch wenn man ihn zuerst ganz alleine in sich entdecken und sich für ihn entscheiden muss. Zuerst braucht es die Entschlossenheit, für ihn zu gehen, auch wenn kein anderer mitgeht. Trifft man dann auf jemanden, der für denselben Mythos lebt, dann potenziert sich die Energie, die gemeinsame Kraft explodiert und schafft eine neue Dimension, einen neuen Raum. Ein Mythos braucht Gemeinschaft: Viele erwachte Menschen, die denselben Traum in sich tragen und die alles dafür geben, diesen ins Leben zu bringen. Jeder an seinem ganz persönlichen, ganz für ihn gedachten Platz. Menschen, die sich nicht leiten lassen von Erfolg und Misserfolg, vom Gewinnen oder Nichtgewinnen, nicht davon, ob das Ziel erreichbar scheint oder nicht. Aber eben, was ist er eigentlich dieser, unser gemeinsamer Traum? Welches ist die Struktur unseres Mythos? Ist es nicht so, ein jeder ist auf seine ganz persönliche, eigene Art in diesem Ganzen, das dann wiederum unpersönlich ist? Jeder ist mit seinen Fähigkeiten und mit seiner Leidenschaft, mit seiner speziellen Eigenart dabei? Der eine ist ein Poet, der andere ein Musiker, der dritte ein Handwerker. Es gibt den, der wunderschön malt, diejenige, die ausgezeichnet kocht, diejenigen, die leidenschaftlich gerne Sex machen, und andere, die nachts lieber alleine sind. Manche haben Kinder, andere nicht. Es gibt solche, die leben allein, andere zu zweit, einige zu dritt oder zu viert… Die Form ist nicht das Wesentliche, die ergibt sich aus Wesensart, Schicksal und Lebensphase. Wichtig sind Inhalt und Ziel, die gemeinsame sind. Der Mythos ist vor allem ein gemeinsames Gefühl, ein gemeinsamer Weg. Ihn allzu klar zu formulieren ist gefährlich. Denn in der Formulierung, in der Beschreibung lauert für uns Menschen die Gefahr, daraus wieder eine Idee, eine Ideologie zu machen.
S.92
Die Freiheit, mit meiner Leidenschaft gehen zu dürfen, macht immer wieder, dass ich auf diesem Weg bleibe, dass ich, wenn ich ihn verloren habe, wieder darauf zurückfinde. Die Leidenschaft, die dahin zielt, frei zu werden für die Liebe, die Freiheit zu haben, zu lieben, dich zu lieben, jede Bewegung zu lieben, jede Herausforderung, alles zu lieben. Die Freiheit, dich zu lieben, auch wenn du mich nicht liebst, dich zu tragen, auch da, wo ich nicht getragen bin, dich zu halten, da, wo du mich fallen lässt. Die Freiheit, treu zu sein, dir treu zu sein, auch da, wo ich verraten werde. Die Freiheit, glücklich zu sein, auch wenn ich umgeben bin vom Leid. Das alles gehört zur Freiheit im menschlichen Bereich.
S.143
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Ins Herz der Dinge lauschen, Sachbuch Psychologie, Nachschatten-Verlag, 1989
Erziehung basiert nach wie vor, auch wenn an der Oberfläche einiges geändert hat, vorwiegend auf der Unterdrückung von Trieben und Leidenschaften, weil das menschliche Tier immer noch als vertrauensunwürdig erlebt wird. Leute, die es schaffen, wirklich friedlich zu leben, weisen aber immer alle Zeichen dafür auf, dass sie nicht die Leidenschaften unterdrücken, sondern vielmehr ihre Bewusstheit dieser Leidenschaften entwickelt haben. Das in seiner Leidenschaft und seinem Willen gebrochene menschliche Tier ist ein abhängiges, ein süchtiges Tier, das mit seinen wirklichen Bedürfnissen nicht mehr in Beziehung steht. Erziehung sollte stattdessen dem Kind helfen, mit dem Tier in sich einen bewussten Umgang zu finden. Der Weg der Unterdrückung wurde immer wieder beschritten, obwohl er nie zum Erfolg führte. Nach wie vor ist unsere Welt voller Gewalt und Kriege und voller Menschen, die durch die Unterdrückung einzelner Triebe und Gefühle in ihrem ganzen Potential beschränkt sind.
S.104
Aus: Samuel Widmer Nicolet (zusammen mit Danièle Nicolet): Heute wurde uns eine Tochter geboren / Ein Lebensjahr – ein reiches Jahr – ein Jahr der Wandlung / Von Geld, Macht, Besitz und Gerechtigkeit, Basic Editions, 2005
Woher kommt die Kraft, die mich auf einmal wieder mit viel Energie, Freude und Leidenschaft erfüllt und mit welcher es leicht ist, all die Herausforderungen meines persönlichen Lebens und der Welt zu tragen? Woher überhaupt kommt Leidenschaft? Was ist es, was einen dranbleiben lässt und tragen und stillhalten da, wo einem sonst die Kraft längst ausgegangen wäre…? Kommt sie aus dem Schmerz, wenn er ganz ausgetragen und ganz genommen ist oder wird sie am tiefsten Punkt der Ohnmacht geboren, da, wo das Sich-Ergeben selbstverständlich geworden ist? Tief kann man gehen und weit auf dem Weg nach innen – das Leben bleibt ein Geheimnis! Gerade das macht die Schönheit aus.
Oder kommt die Leidenschaft aus einer grundsätzlichen, wahllosen Liebe zum Leben und zur Wahrheit und aus einer grossen Bereitschaft, für diese zu gehen, was auch immer das in jedem Moment heissen mag? Aus diesem Zustand heraus betrachtet hat mein ganzes, grosses Leben seine volle Berechtigung. Und alle Verrücktheiten darin und mein immer wiederkehrendes Mich-nicht-zufrieden-Geben mit den Beschränkungen des mittelmässigen, menschlichen Geistes. In diesem Zustand bringe ich die verschiedenen Bereiche meines Lebens, die jeder für sich schon ein ganzes und volles ergeben würden, mühelos zusammen zu einem einzigen runden und ganzen. Es ist eine Freude, es ist ein Glück, in diesem Zustand zu leben, der gleichzeitig ein ganz fragiler und sehr kraftvoller ist.
S.265
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Du bist Schönheit - Krishnamurti - Angewandt im Alltag - Der Einfluss seines Werkes auf die Psychotherapie / Von der Liebesgeschichte eines späten Sommers, Basic Editions 1998
Schmerz hat bereits die gleiche Qualität wie die Liebe, nicht wahr? Wenn der Schmerz im Herzen ganz geworden ist, rund geworden ist, dann ist die Liebe da. Aus vollkommenem Schmerz, bei dem du still stehst, entsteht die Flamme der Leidenschaft, die in einem Mitgefühl die ganze Welt umfassen kann. Schmerz ist Widerstand gegen die Liebe. Schmerz ist Liebe, die nicht ganz Platz hat in dir. Wenn sie ganz Platz hat, schmerzt sie nicht mehr. Dann hat das Leiden ein Ende, und du bist neu geboren in den Raum der Stille, der Liebe, des Mitgefühls hinein, in diese andere Dimension des Seins, die kein Leiden kennt, keine Gefühle kennt, keine Gedanken kennt. Dieser Zustand benutzt Gedanken, um Einsicht zu formulieren. Darin findet sich die richtige Art des Denkens. Alles Denken im Sinne von Angst, Selbstmitleid, Konflikt ist zu einem Ende gekommen. Dieser Zustand benutzt das Alte, lebt mit ihm, geht mit ihm um. Er umfasst es, hat Beziehung zu dem, was zu ihm keine haben kann. Dieser Zustand ist Fühlen, aber er kennt kein Gefühl. Er kennt nur das Gefühl und das Gefühl ist Liebe und Erbarmen. Wenn das Leid in dir ein Ende findet, bist du die Welt.
S.109
Ist es das, was verhindert, dass wir uns wirklich radikal verändern, dass wir nicht allein sein können, dass wir diese Einsamkeit nicht austragen wollen: die Tatsache, dass jeder von uns, der sich aufmacht ins Paradies, zuerst einmal da ganz allein ankommt? Und wollen wir die Konsequenz dieser Tatsache nicht tragen, dass wir dann ganz allein beginnen müssten, in der Welt eine Verwandlung zu bewirken? Wollen wir diese Last nicht? Haben wir den Mut nicht? Und was heisst das ganz persönlich in meinem Leben? Welches wäre der Schritt, den ich zu tun hätte? Müsste ich das Rauchen aufgeben, um meine Einsamkeit zu fühlen? Und das will ich nicht? Müsste ich meine Sicherheiten aufgeben in Beziehungen oder am Arbeitsplatz, um wirklich auszubrechen aus der Gesellschaft? Und das will ich nicht? Will ich mich der Einsicht nicht ergeben, dass Besitz, auf welcher Ebene auch immer, nur eine Idee ist, dass niemand tatsächlich etwas besitzen kann, dass alle Dinge in Wirklichkeit für sich stehen? Müsste ich meinen Geiz anschauen, meine Gier, die Folgeerscheinungen des Besitzdenkens und des Zukurzgekommen¬¬seins, die damit einhergehen? Aber will ich das? Will ich meine Trägheit nicht überwinden? Habe ich Angst? Bin ich zu bequem? Fehlt mir das Feuer, diese leidenschaftliche Kraft des Verlangens nach dem Wirklichen? Gebe ich mich zufrieden mit dem Mittelmässigen? Kann ich nicht allein sein? Warum verändern wir uns nicht?
S.142
Der ganze Prozess der inneren Befreiung ist natürlich nicht nur ein äusseres, sondern vor allem auch ein inwendiges Blühen. Das, was erblüht, ist das Gute in uns. In der Aufmerksamkeit beginnt ganz von selbst das Gute in uns zu blühen. Das Gute ist auch Schönheit; das, was in uns blüht, ist Schönheit. Und Schönheit kann Schönheit erkennen; deshalb beginnen wir, wenn wir innerlich blühen, Schönheit zu sehen.
Aus dem Stillstehen beim Leiden entsteht Leidenschaft, eine innere Flamme, die alles Leid verzehrt. Die Leidenschaft führt uns zum Mitleiden, zum Mitgefühl, zum Erbarmen. Und daraus kommt Schönheit.
Das stille Betrachten der Unzufriedenheit in uns macht diese zu einer verdichteten Flamme, die alles negiert, was uns unzufrieden macht, alles Unwahre, Falsche.
Halte die Unzufriedenheit wach in dir!! sagt Krishnamurti. Aus dieser Unzufriedenheit erwächst eine Leidenschaft, welche nicht Zufriedenheit ist, eine zentrierte Kraft, die uns zum Mitleiden führt. Daraus erwächst Schönheit. Still auf unser Verlangen zu schauen, es nicht auszuagieren, diese Kraft nicht vorschnell auszugeben, macht sie in uns zu einer Flamme. Die Flamme ist Leidenschaft. Aus ihr wird Mitleiden geboren.
Das ist Schönheit.
S.162
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Wahrheit, Sachbuch Philosophie, Basic Editions, 2010
[Samuel zitiert Krishnamurti] „… Der Mensch, der aus Einsicht nicht mehr kämpfen kann, ist der wahre religiöse Mensch, und in diesem Zustand des Geistes mögen Sie dem begegnen, was Wahrheit oder Realität oder Glückseligkeit oder Gott oder Schönheit oder Liebe genannt wird.
Man fragt sich nun, ob es möglich ist, auf dieses Eine zu treffen…, warum der Mensch, dessen Gattung sich während Millionen von Jahren entwickelt hat, dieses Eine nicht erlangt hat?... Haben Sie sich je gefragt, warum die Menschen dieses Dinges ermangeln…, warum ihr Herz leer ist? ...
Sie besitzen keine Energie, die Leidenschaft ist – und Sie können die Wahrheit nicht finden ohne Leidenschaft – Leidenschaft, die voller Ungestüm ist, Leidenschaft, in der sich keine Wünsche verbergen. Leidenschaft kann Furcht erregend sein, denn wenn Sie voller Leidenschaft sind, wissen Sie nicht, wohin sie Sie bringen wird.
Ist Furcht vielleicht die Ursache, warum Sie nicht die Kraft dieser Leidenschaft besitzen, die es Ihnen ermöglicht herauszufinden, warum Ihnen Liebe dieser Art fehlt, warum diese Flamme nicht in Ihrem Herzen brennt? Wenn sie Ihren Geist und Ihr Herz genau geprüft haben, werden Sie wissen, warum Sie sie nicht haben. ….“
S.176
Leidenschaft
Das Ich isoliert sich durch seine Aktivität ständig selbst. Isolation, Trennung ist seine Essenz. Solange unsere Aktivität selbstsüchtig ist, wird sie als natürliche Folge in uns die Leere der Einsamkeit erzeugen.
Was ist zu tun, um diesen Zustand zu beenden? Der Wille, das Ich, kann sich selbst nicht austreiben. Jeder Versuch in diese Richtung stärkt nur seine Macht. Die Einsicht, dass nichts zu tun ist, nichts getan werden kann. Denn sie bringt ein Innehalten, sie bringt Stille. Und wenn diese Stille im Kopf gefunden ist, sind Liebe und Schönheit gegeben. Die jahrhundertelange Konditionierung auf das Ich, auf Sicherheitssuche wird dadurch zerbrochen.
Wenn in der vollkommenen Wahrnehmung alle Sinne gleichzeitig und gleichermassen aktiv sind, schweigt das Verlangen, schweigt das Ich. Vergnügen als ein von der Erinnerung gesteuerter Prozess hört auf. Wenn aber das Ich nicht da ist, entfaltet sich alle Schönheit vor unseren Augen. Wenn wir selbst abwesend sind, zeigt sich die Wahrheit. Schönheit und Liebe gehen mit ihr zusammen. Wenn unser Ich schweigt, sind sie da.
Für eine derartige vollkommene Wachheit und Aufmerksamkeit benötigen wir viel Energie. Die müssen wir zuerst befreien.
Gebunden ist sie im Leid. Was das Leid beendet, ist die heilige Wut, eine Leidenschaft, die auf nichts gerichtet ist. Oder umgekehrt: Wenn wir das Leid in uns beenden, lebt in uns eine Leidenschaftlichkeit auf, eine heilige Wut, die uns die Energie gibt, ganz wach zu sein, so dass Liebe, Wahrheit und Schönheit uns und unser Leben erfüllen können.
Ohne diese Kraft der Leidenschaft verkommen wir in Mittelmässigkeit.
Wir finden keine Klarheit, keine Integrität. Aber Leidenschaft darf sich an nichts binden, sie darf keine Ursache haben, sonst verkommt sie zur Lust und verliert ihr heiliges Feuer. Leidenschaft darf nicht nur an eine Person gebunden sein, sonst verliert sie die Intensität, die sie von allem Gebundensein freimacht. Ohne diese Leidenschaft werden wir die vollkommene Aufmerk¬sam¬keit nicht finden können, die vonnöten ist, um etwas in der Tiefe, um das Leid in der Tiefe zu verstehen. Die Leidenschaft beendet das Leid, das immer eine Konsequenz von etwas ist. Diesem Leid müssen wir uns stellen, um es zu beenden, da es sonst Schönheit, Liebe und Mitgefühl in uns verhindert.
Leidenschaft kommt mit dem Enden des Denkens, mit der Abwesenheit des Ichs. Unsere normale Antwort auf das Leid ist Reaktion. Was es aber braucht, ist, dass wir uns der Einsamkeit, der Bindung, der Angst, nicht geliebt zu werden, stellen. Aber auch, wenn wir das Leid in uns persönlich beenden, bleibt schliesslich noch das kollektive Leid der Welt. Die fehlende Selbsterkenntnis führt in der Welt zu einer Ignoranz, die ein enormes Leiden ist und verursacht.
Erst wenn der Kopf still wird, können wir den Zustand entdecken, in dem Liebe, Leid und Leidenschaft ein Ding sind, in das wir hineinsterben. Es gibt dann keine Trennung mehr zwischen ihnen. Um dies zu finden, bedürfen wir dieser Leidenschaft, die aus dem Selbstvergessen, dem Absterben des Ichs kommt. Weisheit, ein Leben mit Wahrheit stellt sich ein, sobald das Leid aufgehört hat.
Was ist zuerst, die Kraft, das Gute zu vollbringen, oder ist es umgekehrt, gibt uns das Gute, für das wir gehen, die Kraft der Leidenschaft? Man kann es nicht sagen. Es nährt sich wechselseitig, schaukelt sich hoch, bis man durchbricht. Ohne dass man je ganz verstehen oder erklären könnte, wie es geschehen ist.
S.280
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Kriegerschule / Die Kriegertexte , Sachbuch Spiritualität, Basic Editions, 2010
Die Liebe wird sich nicht durchsetzen, solange bis wir nicht leidenschaftlich unsere Schritte tun. Nicht, solange bis nicht alle Menschen willig lernen, Schritt für Schritt, was sie zu lernen haben.
S.111
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Letters to the World/ Briefe an die Welt, Briefe, Basic Editions, 2009
Brief an die Sportler
Liebe Brüder und Schwestern, die ihr im Sport eure Leidenschaft gefunden habt
Ist es nicht etwas Wunderschönes, seine Leidenschaft zu finden, in ihr aufzugehen, von etwas ganz erfüllt zu sein? So geht es dir doch, lieber Sportsfreund, liebe Sportsfreundin, wenn du ein richtiger Sportler, eine richtige Sportlerin bist? Jedenfalls kriege ich diesen Eindruck, wenn ich den wirklich Grossen deines Genres zuschaue.
Ist es wohl deshalb, dass der Sport – allerdings weniger die Ausübung davon, mehr das Interesse vom Fernsehsessel aus – weite Teile der Bevölkerung gepackt hat, so dass man manchmal meinen könnte, Sport sei das Wichtigste überhaupt für uns Menschen geworden? Ist es wohl deshalb so, weil wir ein Leben in dumpfer Langeweile führen, in dem Leidenschaft kaum noch einen Platz hat? Ist es deshalb so, weil wir tief drin immer noch fühlen, dass nur ein leiden¬schaftlich geführtes Leben uns das Wohlbefinden, das Glück der Selbstvergessenheit bringen kann, und weil wir uns trotz aller Abstumpfung und Entfremdung noch immer danach sehnen?
[…] Leidenschaft ist etwas Wunderbares. Dass du sie in der körperlichen Leistung gefunden hast, ist etwas Wunderbares. Ich kann dir nachfühlen, wie dich das Atmen, die Bewegung der Muskeln, dein durchtrainierter Körper begeistern. Aber wenn das zum Wichtigsten wird, stimmt etwas nicht mehr, nicht wahr? Dann hat sich die Leidenschaft verirrt. Es findet ja auch bald täglich seinen Ausdruck in den Doping-Skandalen, von denen wir in der Zeitung lesen können. Es geht längst nicht mehr um die Freude, um die Freude an der Bewegung, am Sich-Messen. Es geht um einen erbitterten Krieg, der unter Opferung aller Lebensqualität geführt wird und möglichst gewonnen werden muss, an dem wir alle leiden. Es geht um Wettbewerb, es geht darum, der Erste zu sein, weil der Zweite bei uns keine Bedeutung hat. Es geht darum, zu siegen, nicht der Verlierer zu sein. Es geht um Selbstsucht, um Egoismus, um todbringenden, überspitzten, falsch verstandenen Individualismus. Es geht um Narzissmus.
Etwas ist darin entartet, krank geworden. Wir sind verrückt.
Wie wunderbar, dass du überhaupt noch Leidenschaft in dir findest. Aber stell dir vor, sie würde das ganze Leben erfassen, unser ganzes, gemeinsames Sein! Stell dir vor, du würdest dein Herausragen benutzen, um dich neben deiner Leistung im Sport vor allem für unser ganzes Zusammenleben, für den Frieden in der Welt, für das Glück aller Menschen einzusetzen!
[…] Brüder, Schwestern, wenn ihr eure Kraft und Schönheit, eure Gabe, eure Leidenschaft in den Dienst unseres gemeinsamen Blühens stellen würdet. Welch eine Wucht! Wenn es nicht mehr um dich, sondern um uns gehen würde! Welch ein Aufbruch!
S.135
Brief an die Medienschaffenden
Ist es nicht eigenartig, dass man in allen Berufen, in allen Sparten des Lebens Menschen findet, die desinteressiert, unengagiert, frustriert darin herumhängen. Sie tun, was sie müssen, sie passen sich an – oft zwar versteckt widerwillig – an das, was gefordert wird. Aber eigentlich ken¬nen sie keine Leidenschaft, eigentlich lassen sie sich von nichts mitreissen.
Eigentlich interessieren sie immer nur ihre persönlichen, beschränkten Bedürfnisse. Natürlich gibt es auch die anderen, jene, die sich in etwas verbeissen, die sich identifizieren, die sich wichtig machen mit ihrer Rolle. Sie sind genauso gefährlich und wirken genauso zerstörerisch. Aber echtes Interesse, tiefe Leidenschaft, eine Anteilnahme an dem, womit man befasst ist, findet sich selten. Oder dann existiert sie nur in einem vertrotzten, inneren Hintergrund, der aber zu feige ist, ans Licht zu treten und sich letztlich den Anforderungen einer mächtigen Gesellschaft beugt
S.219
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Erneuerung von uns selbst und unserer Welt, Briefe an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis, Basic Editions, 2018
Was es braucht bei allem, was man tut, also auch im Prozess der Selbster¬kenntnis, ist Leidenschaft. Und diese kommt daraus, dass man Sinn emp¬findet in dem, wofür man sich engagiert.
Um Konditionierung zu durchbrechen, braucht es zuerst und vor allem, dass man diese überhaupt sieht, dass man erkennt, dass man persönlich kondi¬tioniert wurde, worauf und wie man konditioniert ist vor allem. Es nützt nicht viel, über Konditionierung gescheit nachzudenken, es braucht, dass man diese wirklich in sich drin erfühlt, spürt, worauf man gedrillt worden ist, worauf man abgerichtet wurde. Dies zu empfinden, tatsächlich wahrzu-nehmen, ist bereits die Hälfte des notwendigen Durchbruchs. Wirkliches Erkennen nimmt den Mustern der Konditio¬nierung ihre Kraft, so dass sie schliesslich ganz leicht von einem abfallen, man sich leicht aus ihnen lösen kann. Mir einzugestehen, dass ich zum Beispiel darauf gedrillt bin, brav und unauffällig zu sein, ängstlich verhalten in Bezug auf die eigene Kraft und die Authentizität meines eigenen Ausdrucks durchs Leben zu gehen, befreit mich schnell von einem solchen oder ähnlichen Mustern des Verhaltens. Für all dies muss man eine grosse Leidenschaft entwickeln, wenn man vor¬ankommen will.
S.192
Wirkliches Glück, wirkliche Freude, spontane Ekstase, die aus der Gegen¬wart geboren werden, sind Bereicherung; sie schöpfen kein Elend. Sie kom¬men und gehen und hinterlassen keine Spur. Das Verlangen nach ihnen gehört zu unserer natürlichen, ursprünglichen und gesunden Konstitution. Erst wenn das Denken, geboren aus leidvoller Erfahrung und aufrechterhal¬ten durch gesellschaftliche Gewohnheit und Konditionierung, dazukommt, entsteht der circulus vitiosus der Sorge, in dem wir uns verloren haben. Das Verlangen für sich, die Sehnsucht, ist eine Flamme in uns. Eine Flamme der Leidenschaft und Intelligenz, die alle Unwahrheit zu durchdringen vermag. Erst wenn das Denken sich dieses Hungers in uns bemächtigt, korrumpiert es diese reine Kraft zur Vergnügenssucht und lässt sie in dem Strom des Leidens untergehen, der die ganze Menschheit erfasst hat und beherrscht.
S.204
Meinst du, wir werden den Himmel erreichen,
uns die Sterne herunterholen?
Oder werden wir uns schliesslich
wie alle ernüchtert dem Gewöhnlichen ergeben?
Meinst du, das Besondere wird uns für immer
berühren, das Grosse uns segnen?
Oder wird das Alltägliche über uns
genauso siegen, uns wie jedermann verschlingen?
Was meinst du? Gibt es das Heilige und Andere?
Glauben wir an dumme Illusionen?
Oder sind die anderen die Dummen,
die ohne Hoffnung, Vision und Leidenschaft sind?
S.278
Aus: Samuel Widmer Nicolet: Liebe - Bilder, Gedichte und kleine Meditationen, Basic Editions, 2014
Die Leidenschaft der Liebe wird aus dem Leiden geboren, das wir nicht länger ausagieren, sondern dem wir stattdessen stillhalten. Aus der Gesamtheit der Gefühle, für die wir eine Sackgasse werden. Die Bereitschaft, das Leiden, den Schmerz der anderen, der Menschheit letztlich, in uns zu tragen, weckt das Mitgefühl in uns, eine Leidenschaft, die sich über das Leiden erhebt und unser Herz mit Liebe füllt.
S.83
Im Schmelztigel
der Einsamkeit
schürt Leidenschaft
die Glut der Liebe
Schliesslich wächst sie
durchbrechend zum Vulkan
der Glückseligkeit heran
explodierend in die Einheit
S.96
Aus: Samuel Widmer Nicolet: … jedes Lidschlags dir gewahr/ Tantra - Ein Lehrbuch - von der Liebe Lebenskunst, Basic Editions, 2016
Das, was uns daran hindert, ständig zufrieden zu sein, ist der Umstand, dass wir unser Begehren, unsere Leidenschaft, drosseln, anstatt es sich auf die Gesamtheit der Objekte ausdehnen zu lassen. Ein gedrosseltes Begehren blockiert den Fluss des Bewusstseins, der Empfindungen, der Gedanken und der Emotionen. Wenn ein einziges Objekt einen einmaligen Platz in unserem Geist einnimmt, wenn unser Sein sich in einer Art Verkrampfung ihm entgegenstreckt, findet keine Bewegung mehr in uns statt – und Leiden stellt sich ein.
Wenn im Gegensatz dazu unser Begehren den ganzen Raum einnimmt, bemerkt man das Fehlen eines Objekts gar nicht, da der Strom unserer Aufmerksamkeit frei bleibt, um mit tausend anderen Dingen Kontakt aufzunehmen. Auf diese Art und Weise leben die Tantriker im ständigen Gewahrsein der gesamten Wirklichkeit. So wird ihr Durst unablässig durch die unendliche Vielfalt der Welt gestillt. Dieser Blick beschränkt sich natürlich nicht nur auf Menschen und Beziehungen, sondern wirklich auf die Gesamtheit. Was den Blick der Tantriker so leuchten lässt, ist die Glut des Begehrens, welche sich aus ihrem eigenen unauslöschlichen Feuer nährt. Das macht sie fortwährend in die Wirklichkeit verliebt.
S.66
1)
Aus: Danièle Nicolet Widmer: Was macht, dass du so schön bist? Liebesbriefe an ein aufgebrochenes Herz, Basic Editions 2001, S.142