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Newsletter 2/2020 - Die Magie der Wüste
.pdf April 2020


D

ie Stille der Wüste
hat mir die Worte genommen
und in mir einen Raum geschaffen
in dem Unendlichkeit vibrieren kann
Die Sonne der Wüste
hat in mir alles Wissen gelöscht
und in mein Herz eine Heimat gebrannt
die nie mehr verloren geht
In der Weite der Wüste
ist mir alles Wollen zerronnen
ich ward in Freiheit getaucht
und Leichtigkeit erblühte daraus
Und in der Hitze des Tages
ist in mir Leidenschaft geboren
und im Frieden der Nächte
die voller Glitzern sind
habe ich dich empfangen
zu einer Umarmung
die das ganze Leben hält (1)

Und dann füllt sie einen mit ihrer sagenhaften Kraft,
so dass man wieder ganz neu sein kann, ganz unschuldig.
Samuel Widmer Nicolet (2)




Liebe Leser

Ist es nicht unglaublich, wie eine der primitivsten Strukturen auf der Erde, die nicht mal als Lebewesen eingestuft werden kann, den Menschen, die höchste Spitze der Evolution, gefangen halten kann? Wir werden plötzlich angehalten, alles relativiert sich, wir fühlen uns klein und bescheiden, wir leben täglich mit dem Unbekannten, mit der Angst vielleicht, mit dem Tod, mit der Ungewissheit, was der neue Tag bringen wird.
Neben den zahlreichen Schwierigkeiten und der Tragik so vieler Schicksale geschieht aber auch viel Schönes und Berührendes: die Menschen finden zusammen, man entdeckt die Solidarität wieder, man begrüsst sich anders, in einer Art Komplitzenschaft, die in so besonderen Situationen zusammenschweisst.
Alles ist plötzlich leerer, stiller, weiter, und es beginnen Wunder zu geschehen, Wildtiere kommen zurück in die Städte, glasklares Wasser in den Kanälen Venedigs, Delphine an den Häfen Triests und Sardiniens, blauer Himmel in Peking, weltweit Sehenswürdigkeiten, die endlich in ihrer ganzen Schönheit "gesehen" werden können. Die Natur findet unglaublich schnell ihr Gleichgewicht wieder.
Ein Epidemiologe der University of California sagte vor kurzem, das Coronavirus sei unsere Strafe dafür, was wir der Umwelt antun. Eine moralische Strafe ist es wahrscheinlich nicht, eine Warnung vielleicht oder eine Erinnerung daran, was unsere Welt sein könnte, wenn wir in Einklang mit ihr leben würden und nicht von Macht, Gier und Eigensucht getrieben wären.
Das Traurige dabei ist, dass fast mit Sicherheit alles mit dem Ende der Pandemie vergessen gehen und zum Alten zurückkehren wird. Keine Delphine, kein besonderes Lächeln für den Nachbar, zurück zum Geldtrieb und der Globalisierung.
Das winzige "Ding" ist schuld, dass wir in ein paar Tage nicht in die algerische Wüste reisen dürfen. Da ich die Texte schon vor dem globalen Stillstand zusammengesucht habe, gibt es diesmal trotzdem einen Newsletter über die Wüste. Es sind Meditationen, Briefe, Liebesbriefe, Gedichte, die während der vielen Aufenthalte von Samuel (zum Teil allein, zum Teil mit Danièle oder mit Gruppen) in der Wüste Sahara, oder am Maharouga-See in Lybien oder in der Weissen Wüste Ägyptens entstanden sind. Die Texte besingen die Magie der Wüste, das Grosse, das Unfassbare, dem man dort begegnet.
Ich fand die Texte trotzdem zu der Situation passend. In der Wüste regiert nicht der Mensch, sondern immer noch die Natur. Man ist ihr ausgeliefert und wenn man nicht aufpasst, nicht mit ihr in Einklang lebt, wird man vernichtet.
Die Sahara-Meditationen von Samuel und Danièle, die im Buch "Sag mir Liebste, was ist das Leben? Und sag mir Liebster, was ist der Tod?" gedruckt sind, habe ich auch auf den Youtube-Kanal von Samuel geladen (https://www.youtube.com/c/SamuelWidmerNicolet). Dort stehen auch viele weitere CDs und Videos zur Verfügung, die euch in diesen Zeiten begleiten können, zum Beispiel falls ihr gezwungen seid, zu Hause zu bleiben.
Ich wünsche euch viele Lächeln, Nächstenliebe, Geduld, Gelassenheit und natürlich gute Gesundheit für die noch kommenden schwierigen Zeiten.

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi

P.S. Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden.


Aus: Samuel Widmer Nicolet (zusammen mit Danièle Nicolet): Heute wurde uns eine Tochter geboren / Ein Lebensjahr – ein reiches Jahr – ein Jahr der Wandlung / Von Geld, Macht, Besitz und Gerechtigkeit, Basic Editions, 2005
In der Wüste ist der Abend die Zeit der Versöhnung und der grössten Entspannung!
Über das Alleinsein und die Freiheit lernst du in der Nacht: Nur im Alleinsein findest du Heimat und ganze Freiheit. Alleinsein ist ein Fundament, der Boden, auf den du dein Leben baust, daraus nur kann Liebe blühen. Freiheit ist ein Himmel, in den du reisen kannst ohne Grenzen. Und darin singen die Grillen ein Lied aus Tiefe und Weite, und die silberfarbenen Wüstenfüchse heulen dem Mond ihre Leidenschaft entgegen, und die Nacht ist voller Magie…
Das Grösste aber ist die Freiheit! Die Freiheit von dir selbst, vom Leid, von der Angst und Bindung und von der Wahl. Die Freiheit von Reaktion, Widerstand, Verweigerung, von Schuld. Die Freiheit, mit dem zu sein, was ist, zu lieben, was ist, zu sehen, zu fühlen, ganz zu sein.
Und dann die Freiheit zu sterben, allem abzusterben, immer neu zu sein und ohne Wissen und Vergangenheit und Zukunft. Und dann in diesem Raum, der sich dir öffnet, zu reisen in die Unendlichkeit. Und nach einer kühlen, langen Nacht, in der die Stille weder Anfang noch Ende kennt, sind du und der neue Morgen Unschuld…
S. 221

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Bis dass der Tod uns scheidet…/ Psycholyse - Psycholytische Psychotherapie, Die Geschichte der substanzunterstützten Psychotherapie in der Schweiz und in Europa nach 1970, Heuwinkel-Verlag, 2013
Wie könnte etwas, was vergänglich ist, das Grosse sein? Gibt es etwas, was nie vergeht, und können wir dazu einen Zugang finden?
Die Wüste wirkt, als wäre sie schon immer da. Alles, was diesen Touch des Unvergänglichen hat, erscheint uns gross. Je unvergänglicher es scheint, desto mehr weist es auf das Grosse hin. Das wirklich Grosse währt ewig. Unvergänglich ist es da, ewig jung und neu, ohne je alt zu werden. Der Tod ist der Eingang dazu. Wer kann Schönheit und Würde des Todes erkennen?
Aber alles, was vergänglich ist, ist noch nicht das Grosse. Nur das Grosse ist ewig. Die Wüste konfrontiert uns wie nichts sonst, das wir kennen, mit dem Grossen. Alles, was noch am Kleinen haftet in uns, was sich darin verstrickt hat, wird herausgearbeitet, sichtbar gemacht durch diese Konfrontation. Jedenfalls, sofern man bereit ist, dies zuzulassen. So findet das Grosse wieder Platz in einem, kann einen ausfüllen, die Führung in uns übernehmen und durch uns wirken.
Was will das Grosse mit uns und durch uns? Wo will es hin? Was will es noch bewirken?
Dem Grossen gegenüberzustehen, macht einen zuerst sprachlos. Es überwältigt einen völlig. In allem ist es spürbar hier, in der Stille genauso wie in der Hitze, im grellen Licht nicht anders als in der Dunkelheit der inzwischen mondlosen frühen Nacht. Die Weite birgt es in sich, die Endlosigkeit von Himmel und weissem Sand drückt es aus. Die wuchtigen Massen der Kalksteinfelsen beheimaten es in ihrer Zeitlosigkeit. Und die Frische der Morgenstunde kündet von ihm nicht weniger als das Angehaltensein in der Glut des Mittags oder die Milde und das Leuchten der Abendstunde. Ohne das Grosse im Hintergrund macht das Kleine, das Vergängliche keinen Sinn. Ohne seine Führung, ohne dass sie in ihm Ausdruck findet, hat das Alltägliche keine Bedeutung.
Die Wüste ist noch nicht das Grosse, denn auch sie wird vergehen. Da sie aber unserem kleinen Geist ewig und unveränderlich erscheint, macht sie es wie kaum etwas anderes sichtbar.
Was ist das Grosse? Das Tao? Es ist unfassbar. Am liebsten ist mir seine Stille, seine Leere, sein Nichtsein. Aber es enthält auch alles Sein, alles Wissen, alle Erfahrung. Es ist völlig unpersönlich, und doch hat es eine klare Absicht, auch mit und durch uns. Was es bewirken will und warum es bewirken will, was es bewirken will, bleibt uns immer mehr oder weniger verschleiert. Aber erfüllt von ihm sind wir immer erfüllt von Sinn.
Die Angst vor dem Tod schliesst uns aus vom Grossen; den Tod meiden zu wollen, macht, dass wir den Eingang zum Grossen nicht finden. Unschuld und Neugier dem Tod gegenüber braucht es, um sich dem Grossen zu öffnen. Wir können es nicht wirklich sein, aber wir können von ihm erfasst sein. Voller Staunen können wir dann entdecken, was es durch uns vollbringen will. Unerschöpflich ist seine Kraft und sein Reichtum, wenn wir mit ihm gehen.
S.203

Zwar haben wir uns aufgemacht, das Grosse hier zu suchen, aber es ist die Bewältigung des Kleinen, die uns allenthalben heimsucht, um uns allenfalls für das Grosse vorzubereiten.
Heute Morgen erwartet uns ein kleiner Sandsturm, der uns weckt und in den Tag begleitet. Nichts wirklich ganz Extremes, aber er gibt uns eine Ahnung von der existenziellen Härte, welche der Wüste innewohnt. Hinter der Lieblichkeit, die uns hier, in der Weissen Wüste Ägyptens, nun schon zum dritten Mal empfangen hat, lauert die Unerbittlichkeit des Schicksals an jeder Ecke. Auch unter normalen Bedingungen muss man ununterbrochen auf der Hut sein, all die notwendigen Kleinigkeiten im Auge und unter Kontrolle behalten. Schnell ist etwas für immer vom Winde verweht, unerwartet wird man ein Opfer der glühenden Sonne oder der Kälte der Nächte, wenn man sein Tonal nicht in Ordnung hält, nicht schaut zu dem, was im Kleinen unerlässlich ist. Manchmal, oft, ist alles friedlich. Lieblich. Sobald aber Wind, Hitze, Kälte oder Trockenheit einen Zacken zulegen, ist Disziplin in den kleinen Dingen alles, was einen vor ihrer todbringenden Kraft retten kann.
Vor allem der Wind ist es heute, der uns zu schaffen macht. Noch erreicht er nicht die Heftigkeit, in der man sich nur noch eingraben und abwarten kann. Aber die heftigen Böen tragen schnell davon, was unentbehrlich ist, sofern man nicht aufpasst, sich nicht vorsieht. Ohne Schlafsack oder schützendes Tuch wäre man hier schnell verloren. Lästig wird der Sand, welchen der Wind aufwirbelt. Er verdunkelt bald die Sonne, setzt sich fest in Haaren, Augen, Ohren und Nasenlöchern. Sogar ein bisschen Regen bringt der kleine Sturm.
[…]
Auch bezüglich des Innern beschäftigt uns oft das Kleine. Das Kleinliche. Es muss verstanden, betrachtet, rekapituliert sein, damit es Energie sparend unkompliziert funktionieren kann, so dass Raum bleibt und Stille, in denen sich das Grosse offenbaren kann. Ordnung im Kleinen schafft Platz für das Grosse. Verweigerung gibt es anzuschauen. Das verpasste Leben. Die Verweigerung des Lebens, die Verweigerung Geschenk zu sein. Rekapitulation. Was ist Rekapitulation? Wir lernen darüber.
Die Gesamtheit seiner Energie auf einmal, in einem Griff mit seiner Wahrnehmung zu umfassen, ohne über das nachzudenken, was dann geschieht, und entschlossen, in keinem Fall wieder loszulassen.
Transformation kommt daraus. Man kann auch die Energie eines anderen rekapitulieren, die Energie einer ganzen Situation, eines Felsens, Tieres oder Busches. Verständnis kommt daraus, ein Einsichtnehmen in die Geschichte, die Evolution, in alles. Träumen kommt daraus, ein Reisen des Bewusstseins in Zeit und Raum. Ein Ergründen von allem, was ist.
Wichtig ist es, sich allen Aspekten einer persönlichen oder kollektiven Erinnerung zuzuwenden. Nicht nur das Opfer einer gewalttätigen Situation gilt es zu verstehen, gilt es zu sein. Sich auch mit dem Täter-Aspekt zu identifizieren, ihm nachzuspüren, ist notwendig und erhellend, und vor allem auch den feigen Zuschauer zu betrachten, der in allen Situationen des Lebens gegenwärtig ist, der nie zu etwas Stellung bezieht und der dadurch vielleicht am meisten mitverantwortlich ist für alles Leid, das die Menschheit erfüllt. Wir sind das ganze Bild, das sich uns zeigt, wir sind verantwortlich für das ganze Gehirn, das wir besitzen und welches das Gehirn der Menschheit ist.
Exakt zu sein in der Selbsterkenntnis, exakt zu sein bezüglich der Rekapitulation, treu zu sein im Kleinen, sowohl was das Äussere wie das Innere betrifft, all dies ist Voraussetzung, um einladend für das Grosse zu sein. Dieses ist immer da, die Einheit von allem ist als Hintergrund immer gegeben, oft sehen wir sie nur nicht. Aufgeräumt zu sein bezüglich des Kleinen hilft, damit nicht alle unsere Energie darin gefangen bleibt, verbraucht wird, damit Weite und Musse entstehen, in denen sich uns das Grosse mitteilen kann.
S. 209

Das Alter hat die Schönheit der Wüste, sofern es seine Würde findet. Seine Würde liegt im Verzicht, im Loslassen, in der Einfachheit, im simplen Sein. Im Versanden gewissermassen. Ins Nichts hinein versanden. Die Kargheit der Wüste macht ihre Schönheit und Freiheit aus. Sie hilft, alles herauszuarbeiten, auch die Entsagung des Alters herauszuarbeiten. Sie hilft, frei zu werden vom Festhalten am Gewesenen, sich auszurichten auf das Grosse, das Ultimative. Auf den Tod und das, was allenfalls danach kommt. Auch das Alter ist zu integrieren, zu rekapitulieren. Seine Möglichkeiten zu erkennen, die vom Elend des Verkommens bis zum Wunder der Auflösung reichen mögen.
[…]
Am Morgen nach der Nacht des Vision Quests ist es ganz still im Lager. Nur die Wüstenmänner, die Beduinen, die für uns sorgen, versehen unauffällig ihren Dienst. Die Kinder sind da, die Familie; alle schlafen noch. Erst am Mittag werden die Teilnehmer unseres Seminars von ihrer Suche nach dem Grossen zurückkehren. Für viele von ihnen wird es noch nicht der Ruf des Todes sein, der in ihm hallt, sondern der individuelle Auftrag im Kleinen, im Vergänglichen noch Grosses zu vollbringen, den sie hoffentlich gehört haben werden. Der Auftrag besteht darin, in individueller Weise das Grosse, das Unvergängliche ins Kleine, ins Vergängliche herunterzutransformieren.
Warum das so sein soll, wissen wir nicht, was der Sinn davon ist, wird nie ganz sichtbar. Ausser das Offensichtliche, dass es Schönheit hervorbringt und Würde, was vielleicht schon für sich genug ist. Und Liebe vor allem, bis dass der Tod uns scheidet…
S.212

Aus: Samuel Widmer Nicolet (zusammen mit Danièle Nicolet): Sag mir Liebste, was ist das Leben? Und sag mir Liebster, was ist der Tod? - Ein Briefwechsel zwischen Liebenden, Basic Editions, 2003
Sahara Meditationen
[Samuel spricht] In dieser wunderbaren Einöde hier, weitab von aller Zivilisation spürt man, vielleicht mehr als sonst, wie sehr wir konditioniert sind. Kein Mensch weit und breit, keine gesellschaftlichen Strukturen, nur wir, du und ich, und wir können tun, was wir wollen. Wer würde uns hier irgendwelche Vorschriften machen? Wer sollte uns auf irgendetwas verpflichten? Wir sind frei hier, eigentlich. Und dann doch wieder nicht, weil wir eben konditioniert sind, weil wir uns aus den Mustern, die uns ein bestimmtes Verhalten vorschreiben, nicht einfach lösen können. Natürlich springt die Auseinandersetzung mit Freiheit beziehungsweise Konditionierung an einem solchen Ort vor allem immer zuerst in den Fragen um die Sexualität an. All die Schlafsäcke verteilt weitherum im Sand unter einem lieblichen Mond laden förmlich ein, sich zu fragen, ob ich tatsächlich in meinen kriechen oder irgendwo in einen anderen will.
S. 132

[Danièle spricht] Die Wüste birgt viele Geheimnisse. Wenn man sich ihr hingibt, vor allem ihrer Stille und ihrer Weite, dann lässt sie einen teilhaben, direkt Einblick nehmen in ihr Sein, in die Energie des Ganzen, in Schöpfung. Und sie spricht zu einem. Zum Beispiel über Einsamkeit und Alleinsein. Man kann ihr Fragen stellen und sie füllt einen mit ihrem Sein, so dass man, ohne etwas tun zu müssen, in diesen Zustand von Alleinsein kommt. Mit allem eins sein, eins sein mit ihrer Stille, mit ihrer Weite, mit ihrer Unerbittlichkeit und mit ihrer Sanftheit.
S. 135

[Danièle spricht] Man kann den Wind der Wüste nach der Freiheit fragen, dann erzählen sein Flüstern und sein Brausen einem davon.
S. 142

Bald werde ich allein sein
im Wüstensand
und den Himmel absuchen
nach dir
und dich finden in allem,
in der Weite,
in der Stille,
in der Nacht,
in der Lieblichkeit,
und in der Strenge
Und ich werde
allein sein
nur mit mir
Mein Geist wird
Widerhall finden
in der Unermesslichkeit,
so dass er auf sich selbst
zurückgeworfen ist,
und ich werde alles dransetzen,
mich zu erneuern,
zu verändern,
so dass ein neuer Wind
ihn erfassen kann,
ein neuer Duft
ihn durchfluten
Und dann werde ich wiederkommen
und genau derselbe sein
wie immer,
unverändert,
unveränderlich,
immer gleich
Und vielleicht wird dies
das Schönste sein
Vielleicht ist dies das Beste,
was ich zu geben habe
S. 210


«Wir gehen in die Wüste, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen.»
Ibrahim al-Koni

Du siehst, Geliebte, die Wüste lädt durch ihre Kargheit ein zum Aphorismen-Schreiben. Ibrahim al-Koni, der Tuareg und Aphorismen-Schreiber aus der libyschen Wüste, den ich zu Beginn mit seinem schönen Satz zitiert habe, lebt das vor. Er sagt auch: «Die Wüste ist der Körper der Freiheit.» Und: «Die Freiheit ist die Seele der Wüste.» Für ihn ist genauso wie für uns Freiheit die verlorene Dimension, die unter den Menschen verlorene Dimension.
Es ist überhaupt nicht heiss hier. Man hält es gut aus an der Sonne und im Schatten ist es angenehm kühl. Aber nachts wird es empfindlich kalt. Hier spürt man die vernichtende Qualität der Wüste nicht so sehr durch die Hitze des Tages, wie wir es in Algerien erlebt haben, sondern durch die Kälte der Nacht. Freiheit geht mit Zerstörung zusammen. Die beiden bilden ein unzertrennliches Paar. Was mein Auge hier bis jetzt aufgenommen hat, ist das Schönste, was ich je gesehen habe, die schönsten Schneeberge, das schönste Meer, die schönste Einöde. Denn die Wüste ist wie das Meer und wie der Schnee. Einmal möchte ich hier mit dir sein für eine Weile. Denn du gehörst hierher. Du bist wie die Wüste: leer, rein, frei. Frei vom Menschlichen, welches das wirklich Menschliche an seiner Entfaltung hindert. Schönheit, Schlichtheit, Einfachheit und Eleganz sind andere Worte, die mein Geist formuliert und deren Qualität mich überkommt beim Betrachten dieser Endlosigkeit und die auch für dich gelten. Würde auch oder Erhabenheit, Keuschheit und Kargheit.
Als du mich vor meinem Weggang gefragt hast, ob ich sicher wieder zurückkehren werde, habe ich zum ersten Mal eine Unsicherheit gefühlt, war ich mir zum ersten Mal nicht hundertprozentig sicher, ob ich das so absolut versprechen kann. Einmal, bevor ich sterben werde, vielleicht zum Abschiednehmen, möchte ich hier mit dir alleine sein.
[…]
Das ganz Besondere hier sind die Dünen, nicht die Seen. Sie wirken rein geistig, wenn man darin wandert in der Morgen- oder Abendsonne. Die Menschen reisen zu den Seen, weil diese etwas Menschliches haben. Auch ich bin darauf angewiesen, in ihrer Nähe zu sein, weil es dort Schatten gibt und Holz, den notwendigen menschlichen Komfort. Aber mein Blick richtet sich hinaus in die Weite der fliessenden Hügel. Und wenn die Hitze nicht zu gross ist, findet man mich da, wo es nichts mehr gibt als Sand.
Man lebt vom Unermesslichen, aus seiner Kraft, bewusst oder unbewusst, aber man besucht es selten, genauso wie man von der Sonne abhängig ist, aber nur ganz kurz und gelegentlich auf sie schaut. Je tiefer man sich auf das Menschliche einlässt, umso losgelöster wird man, um darüber hinauszugehen, sagst du, liebe Danièle, in deinem letzten Brief, den du mir vor meiner Abreise in die Wüste noch zugeschoben hast. Sterben kann man nur, wenn man ganz gelebt hat, äussert eine Volksweisheit dasselbe.
In dieser schlichten Aussage wird wohl das Wesentliche, was es zum Eingebundensein ins Menschliche und zum Streben darüber hinaus zu sagen gibt, zusammengefasst. Es kommt von selbst, wahrscheinlich, wenn man die Reife dazu gefunden hat. Und die Reife kommt paradoxerweise daraus, dass man sich in einer unausweichlichen Verbindlichkeit verpflichtet hat. Das Prinzip des Dampfkochtopfs, das wir in der Gemeinschaft und überhaupt bezüglich Beziehungen empfehlen.
Hier im Alleinsein und in den Extremsituationen der Wüste mit ihren kalten Nächten und heissen Tagen fällt mir auf, wie viel der Körper eigentlich braucht. Es ist so leicht zu vergessen, dass es noch etwas anderes gibt. Manchmal ist es eine Last, sich um den Körper und seine Bedürfnisse kümmern zu müssen. Er ist ein abhängiges Wesen, der natürlicherweise abhängige Teil in uns. Viele Menschen reduzieren sich auf ihn und seine Bedürftigkeit. Über das Menschliche hinausgehen heisst auch, über den Körper hinausgehen. In einem rein geistigen Bereich oder dem Bereich des Traumkörpers, wenn du so willst, gibt es ein Sein und dadurch eine Begegnung, die unabhängig ist vom Körper und dadurch von viel sublimerer Qualität. Dies erlebe ich hier mit dir und zu dir hin erneut, genauso wie in Samoa, so dass der Alltag danach fast etwas Gewöhnliches haben wird. So ähnlich vielleicht wie es einem anfänglich ergeht, wenn man psycholytische Substanzen benutzt. Die Welt scheint so vergoldet unter ihrem Einfluss und danach so farblos, wenn man die Kraft der Wachheit, die sie einem schenken, wieder verliert und zurück muss in den Stress der Welt.
S. 213

Es ist auch schrecklich hier, nicht nur wunderbar, genauso wie ich es vor einem Jahr in der algerischen Wüste erlebt habe. Das, was man dann zu Hause, umgeben vom menschlichen Komfort eines Einfamilienhauses schnell wieder vergisst.
Vielleicht ist das Verlangen, über das Menschliche hinauszugehen, auch nur eine Neuauflage des alten Grundkonflikts, nicht akzeptieren zu wollen, was ist. Zu Hause sind die Menschen und ihr Tun oft eine Plage. Sie stören den Frieden. Hier gibt es das nicht, abgesehen davon, dass ich auch ständig und berechtigterweise immerhin drei Mal ist schon ein Auto vorbeigefahren in den letzten vier Tagen, einmal ist eine Gruppe von Menschen sogar ausgestiegen, um fünf Minuten lang mein Paradies anzuschauen, und die Missbilligung, dass ich nur in Unterhosen dasass, habe ich wohl gespürt wie ein Tier auf der Hut sein muss, ob niemand kommt.
S. 216

Liebste,
ob ich dich wohl finde,
du scheues Hirtenmädchen,
in der Weite des Wüstenmeeres,
um dir den Kuss,
den mein Glückwunsch
zu deinem Geburtstag
begleiten soll,
auf die Stirn zu drücken?
Ob du mich wohl erkennen wirst,
wenn ich als Wüstenwind
über deine Wange streiche
oder als Tautropf
deine Seele erfrische?
Ob du erschrecken wirst,
wenn ich unvermittelt
vor dir stehe?
Ob du mich lassen wirst,
wenn ich dich ungefragt an mein Herz drücke?
Liebe Danièle,
einen schönen Geburtstag wünsche ich dir,
fern von dir.
Aber es macht nichts,
denn die Liebe eignet sich wie nichts sonst
für das Fernsein.
Sie blüht besonders schön darin
S. 220

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Reise in die Wüste – Reise in die Freiheit / Ein Schüler begegnet seinem Lehrer in der Wüste (zusammen mit Kurt Moser), Meditationen, Basic Editions, 2002
Freiheit, das höchste aller Ziele, erlangt man im Alleinsein. Die Wüste steht für die Würde des Alleinseins, für die Freiheit auch und die Leere, das Nichts, welche damit zusammengehen.

Die Wüste bringt dir die ganz grossen Fragen nahe:
Wer bin ich?
Woher kommen wir und wohin gehen wir?
Was ist das Universum, in dem wir uns bewegen?
Was ist Bewusstsein?
Ihre Schönheit liegt darin, dass sie sich bezüglich der Antworten in Schweigen hüllt.

Die Wüste vermählt das Ewige mit dem Vergänglichen. Sie bringt die Extreme ganz nahe zueinander, ohne sie zu versöhnen, lässt einen in der Leere essentieller Fragen stehen: Gibt es etwas Ewiges? Oder ist alles, alles nur nichtige Vergänglichkeit?

Die Wüste ist das Haus der Freiheit. Aber ohne unverbrüchliche Verlässlichkeit, ohne Freundschaft bedeutet die Freiheit in ihr den Tod.

Die Wüste gibt sich nicht leicht und nicht jedem. Die Wüste will erobert sein wie eine Geliebte. Wie jede Geliebte, die ihr Salz wert ist. Sie gibt sich dir nicht leicht. Und wenn du nicht achtsam bist, tötet sie dich.

Die Wüste ist leer, rein, frei. Frei vom Menschlichen, welches das wirklich Menschliche an seiner Entfaltung hindert. Schönheit, Schlichtheit, Einfachheit und Eleganz sind andere Worte, die mein Geist formuliert und deren Qualität mich überkommt beim Betrachten dieser Endlosigkeit. Würde auch oder Erhabenheit, Keuschheit und Kargheit.

Mit der Wüste ist es wie mit dem Meer: Es ist wundervoll, sich von der Geliebten ganz nehmen zu lassen, ihrer Einladung zu folgen bis kurz vor den Punkt, an dem sie dich verschlingen würde. Aber man muss ein Gespür haben dafür, wann dieser Punkt erreicht ist. Das braucht Nüchternheit und Wachsamkeit, Disziplin und Selbstkontrolle. Keine Schwärmerei, kein Spielen mit dem Reiz der Gefahr. Sich hingeben in höchster Kontrolle: Paradoxe!

Es ist eigenartig, dieser Drang in einem, Schönheit beschreiben zu wollen, sie kommunizieren, sie teilen zu wollen. Dabei ist man mit Schönheit vollkommen allein. Schönheit zeigt sich erst im vollkommenen Alleinsein ganz. Oft steht man da vor Farbenspielen oder Mustern im Sand oder dann wieder vor der unendlichen Weite der Dünen oder auch der atemberaubenden Sicht auf die Oase, die uns beherbergt, und kann einfach kaum glauben, was man sieht. Und dann möchte man es weiterschenken, weil man so voller Glück ist damit. Und wenn man nicht achtsam ist mit diesem Drang, verdirbt man es und verliert sich in einer Betriebsamkeit, in der es einem wieder entschwindet. Schönheit, Alleinsein, Freiheit und Stille gehen zusammen.
Alles ist vergänglich. Das Leben besteht aus vielen flüchtigen Augenblicken, die letztlich wenig Bedeutung haben. Die Zeit und alles, was sie bringt, eilt an einem vorbei, und nichts bleibt.
Gibt es etwas, was bleibt? Gibt es etwas von bleibendem Wert, etwas, was dauerhaft ist, was alles überdauert?
Die Wüste strahlt im Gegensatz zur Stadt etwas Ewiges aus, obwohl grad in ihr alles extrem veränderlich ist. Das Leben scheint so unbedeutend, ohne Sinn, nichtssagend, wenn alles ohnehin schon morgen nicht mehr sein wird, was heute wichtig war.
Gibt es etwas, was ewig währt?

Soll ich dir die Schönheit der Dünen beschreiben, wie sie sich unendlich dehnen? Ich könnte es nicht. Soll ich dir vom Ringen der Pflanzen hier erzählen, die so beharrlich versuchen, im Sand Fuss zu fassen und so leicht darin ihr Leben verlieren und noch in ihrem Sterben Schönheit sind? Vor dem Hintergrund des Erhabenen, das hier so allgegenwärtig ist, wäre der Versuch Nichtigkeit. Soll ich dir vom menschlichen Müll berichten, der hier zum Glück erst als gelegentlicher Tupfer die Schönheit der Unschuld trübt und letztlich von ihr wieder in Schönheit verwandelt wird?
Es ist nicht möglich, die Unglaublichkeit und Fülle der Schöpfung festzuhalten, und doch tue ich es. Könnte ich dir nur die Eleganz der Raben besingen, die durchs Tal gleiten und ihr Frühstück suchen, dem sie damit Vernichtung bringen! Es würde mir nie gelingen. Macht es Sinn, dass wir immer wieder versuchen, das Unfassbare zu fassen, wohlwissend, dass es unmöglich ist?

Das Paradies hat einen Preis: Unschuld und Liebe. Anders offenbart es sich dir nicht. Nicht einmal, wenn es augenfällig vor dir liegt. Das Paradies zeigt sich der Unschuld und der Liebe.

Eigenartig, wie geizig die Menschen doch sind, geizig gegenüber dem Leben, gegenüber dem Blühen, gegenüber der Fülle. Sie lassen so wenig Reichtum zu in ihrem Leben. Sie nähern sich der Möglichkeit zu blühen ganz vorsichtig, mit Angst, wie wenn Blühen etwas Gefährliches wäre. Es kommt einem wie ein Witz vor.
Meinen die Menschen vielleicht, dass sie das Verblühen damit vermeiden können, wenn sie das Blühen verweigern?

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Durchdrungen sein vom Du, Von der Praxis der Liebe, Protokolle einer Gemeinschaft, ein ganz persönliches und ein gemeinsames Buch, Basic Editions, 2004
Stille ist um mich herum. Eine ganz andere noch als die stille felsig-materielle Wucht, die ich aus den Bergen kenne, oder die stille Weite von Meer und Himmel auf kleinen Inseln. Hier mitten in der Wüste ist es eine warme, bergende Stille, wie ich sie noch nirgends sonst kennen gelernt habe, und oft ist sie auch das etwas Unbekanntes vollkommen ohne Geräusch.
Jetzt ist Mittagszeit, und eine heisse Glut ergiesst sich über die orangen Dünen und die bizarren Sandsteinformationen, die sich wie riesige Elefantenrücken daraus erheben. Der Mittag ist die Zeit des Hitzigseins; der Auseinandersetzung, der Macht. Auch hier. Aber im niedrigen Tuareg-Zelt, in welchem uns bald das Essen serviert werden wird, ist es angenehm luftig. Eine feine Brise bewegt das Ziegenleder hinter mir: das einzige Geräusch, welches die sirrende Stille durchbricht.
Fern scheint hier alles Gerangel ums Mächtigsein. Das Sterben ist so nahe hier. Welch ein Irrtum zu meinen, dass wir Zeit hätten für trotzige Verweigerung, fürs Wichtigtun und all die anderen Spiele, welche die Macht kennt!
S.140

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Was ich dir noch sagen wollte… Über den Umgang mit der Lehrer/Schüler-Beziehung, Begegnungen mit Manuel Schoch, Heuwinkel-Verlag, 2010
Es hat mit dem Nachlassen der Hitze begonnen. Nach einem letzten Aufglühen lässt sie plötzlich nach und lässt einen aufatmen. Für eine Stunde oder so wird nun alles gut sein, ideal, keine Extreme. Allmählich verändern sich die Farben, nachdem die Sonne definitiv hinter den Felsenhügeln versunken ist. Alles wird unglaublich intensiv, von ausserordentlicher Schönheit erfüllt.
Das Blau des Himmels zeigt sich in Tönungen, wie sie noch nie gesehen wurden, und der Sand leuchtet in einem Orange, wie es nie mehr ein Auge schauen wird. Keine Minute lang bleibt es gleich; man muss sehr wach sein, um jede Veränderung zum Wunderbaren hin zu erfassen.
Es liegt nicht so sehr in den Dingen, von denen es hier eh nicht so viele gibt. Nicht an den Hügeln, nicht am Sand, nicht an den wenigen, kargen Sträuchern. Es liegt in der Luft, im Atmen der Erde. Es ist das Licht. Der Himmel scheint sich aufzutun, um die Unendlichkeit zu gebären. Mehr und mehr erfüllt ihn dieses lila Leuchten, das auch das Gestein und den Sand verzaubert. Aber im Zenit arbeitet sich ein Abgrund von Blau heraus, der bald schon ins Schwarze stürzen will.
Plötzlich scheint alles vorbei. Die Gewöhnlichkeit scheint zurückzukommen.
Das Licht erlischt, die Farben werden grau und matt. Aber noch bevor man es ganz erfasst hat, beginnt ein neues Schauspiel. Der Abendstern war schon lange sichtbar im Westen. Aber nun tritt einer nach dem andern hervor, all die bekannten und unerkannten Sternbilder, ganze Schwaden von Lichtern hinter Lichtern hinter Lichtern, die das Auge gar nicht mehr differenzieren kann. Überall scheinen Sterne zu schimmern, sich zu einem Teppich zu verweben, zu einem Nebel zu verdichten. Die Hügel tanzen jetzt geisterhaft im Meer des Sandes. Fast plötzlich ist es ganz dunkel geworden. Drüben immer noch das Schwatzen und Lachen. Kaum jemand scheint die Augen zu erheben.
Eine Weile dauert es, bevor sich im Osten die Scheibe des Mondes als oranger Schlitz über den nahe stehenden Hügel schiebt. Wieder verändert sich das Licht, die Atmosphäre, die Stimmung. Langsam kommt auch ein Wind auf. Er bringt die Kälte. Bald vertreibt ein fast noch runder Mond die ganze Sternenschar. Nicht völlig, zu mächtig ist ihre Herrschaft hier. Aber sein Licht verzuckert jetzt alles. Märchenhaft ist es, zu wandern zwischen Dünen und Sandsteinkolossen. Die Stille ist alles durchdringend, obwohl die Ausgelassenheit der Menschen drüben ums Feuer noch immer herüberschwappt.
S.28

Nach Hause zu kommen von dem grossen Wüstenseminar, ist überwältigend. War es dort die Stille, die einen fast erschlagen hat, so dass kein Ich mehr übrig bleiben konnte, sondern nur noch dieser Zustand reiner, leerer Wahrnehmung, ist es hier das Blühen, der Aufbruch des Frühlings, der inzwischen stattgefunden hat, der einem den Atem nimmt, so dass das reagierende Selbst immer wieder still werden muss, um dieser unschuldigen, alles umfassenden Bewusstheit Platz zu machen.
Es war vor allem die Natur, die das Bewusstsein zu erobern und zu besetzen begann, als das Erwachen kam. Damals mit dir waren es die Bäume, deren lebendige Präsenz mich jedes Mal erschütterte, wenn sie beim Fahren auf der Autobahn majestätisch an mir vorüberglitten. Später dehnte sich das Bewusstsein aus in alles Lebendige hinein, löste sich immer wieder vom Geschauten, um Neues zu entdecken, konnte nicht genug bekommen, bis die ganze Erde in dieser Liebe Platz gefunden hatte.
S. 47

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Wer Heilt, hat Recht, Die Art des Kriegers, Zusammenfassende Gedanken zum Lebenswerk, Editions Heuwinkel, 2010
Die Stunde am Morgen
da alles noch rein ist
Und einfach
Eine blasse Sonne wärmt
ohne hitzig zu sein
den Sand unter blossen Füssen
Die Fliegen, nicht aufsässig, jetzt
wie anspruchsvolle Geliebte
Und die Tauben gurren
endlos in stillen Palmen
Antworten sie den Schwalben?
So simpel alles, solange
der Mensch mit seinen Ideen
die Idylle nicht stört
Das sehnsüchtige Jaulen des Wolfes
längst verklungen durchs Dunkel
Nur die Spuren im Sand
erzählen von nächtlichen Besuchen
Bald wird ein Wind aufkommen
und alle Zeichen verwischen
Endlos silberblau vereinigen ferne
die Dünen sich mit dem Himmel
S. 122

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Kriegerschule / Die Kriegertexte , Sachbuch Spiritualität, Basic Editions, 2010
Der Mond ziert als schmale, goldene Schale den westlichen Horizont. Er trägt eine einzige schwere, nachtschwarze Frucht. Ihre Silhouette nur angedeutet vom lichten Rand. Die Milchstrasse löst sich auf in Myriaden einzelner Sterne. Tief hängen sie über den silbergrauen Dünen, welche in der Ferne bald der Abgrund der Nacht verschluckt. Leuchtende Fäden spinnen zwischen ihnen, verbinden sie mit der Ewigkeit. Was ist das, worin wir zu Hause sind? Niemand weiss es; kein Wissen entschlüsselt das Mysterium wirklich.
Die fetten Lichter des grossen Wagens werden in einer langen Nacht vom Osten in den Westen wandern. Wenn er auf dem Kopf stehen und hinter unendlichen Sandbergen versinken wird, wird ihm das Licht des Morgens folgen. Werdet ihr uns finden hier?
[…]
Inzwischen gleisst der Mittag üppig von einem faden Himmel. Auf der anderen Seite der Oase zieht ein geschmücktes Kamel vorbei; die Rufe der weissverhüllten Frau, die es trägt, schneiden durch die glimmende Hitze. Bald verschwindet der Beduine, der es führt, hinter den Hügeln. Die Stille kehrt zurück. Satt stehen die Palmen um den fast ausgetrockneten Tümpel.
S. 120

Der Abend dann wie immer das Schönste in der Wüste. Die Hitze lässt nach. Die Farben leuchten auf und verändern sich jede Minute. Die Tiere getrauen sich aus ihren Verstecken.
Und Frieden natürlich. Stille. Heute auch kein Wind. Für zwei Stunden leben wir im perfekten Paradies. Ringsum, soweit das Auge reicht, nur Sand. Jetzt braunrot, in der Ferne bläulich bis silberblass. Wirkt er in der Mittagshitze knochenbleich, glüht er jetzt hennarot unter dem sterbenden Blau eines unendlichen Himmels.
Dass keine Menschen hier sind, weit und breit und für lange Zeit, lässt einen den Ursprung von allem wiederfinden. Von da aus öffnet sich der Raum des Träumens. Da, wo alles Gedankengeschaffene endet, berühren sich die Wirklichkeiten einer äusseren und einer inneren Welt. Die Stimmung des Abends weckt uns dafür.
S. 121

Und schliesslich der Morgen. Endlich kommt eine kühle Brise und verscheucht den letzten Schlaf aus den Augen. Schwalben schwirren um den Lagerplatz und Krähen suchen jenseits des Oasentümpels ihr Futter. Spuren im Sand erzählen von den Aktivitäten der Nacht: Der Wolf, einsam und zielgerichtet, spärlicher der Fuchs, die kleinen Füchse, beschäftigt die ganz kleinen, unbekannten Pfoten. Kaum je die Schlange. Sandviper.
Tauben erheben sich aus dem Schilf, entfalten ihr prächtiges, blau-weiss gesäumtes Gefieder. Die Dünen heben sich markant hervor im Morgenlicht. In der Farbe von geschmolzenem Gold oder rosablau, so wie tiefe Teiche, geküsst von der Dämmerung.
Was für eine unglaubliche Erde! Was für ein Wunder, unverstehbar, das Universum, die äussere Welt! Und welch tiefes Geheimnis ruht in ihrem Innersten, unerkannt, zugänglich nur der Unschuld und der Liebe. Der Reinheit. Werdet ihr uns finden hier?
Der Tag wird heiss werden. Verflogen wird das Unerklärliche der Nacht bald sein. Der Schatten eines Vogels streift mein Gesicht.
S.122

Ein bisschen ist die Wüste wie der Tod. Oder wie das Alleinsein, der kleine Tod. Sie bringt zurück, was verloren schien. Sie säubert einen von aller Verwirrung menschlicher Absurdität.
S. 123

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Einfachheit / Simplicity (zweisprachig, englisch/deutsch) - Gedichte, Basic Editions, 2009
Als der stürmische Wind
nachliess in der Nacht
zeigten mir die Sterne
allmählich hervorlugend
dass der Morgen noch ferne war
Froh kuschelte ich mich
an deine Seite, glücklich
dass du da warst
und lauschte dem
Verklingen des Brausens
Langsam traten die Konturen
der Dünen wieder hervor
Die Luft war kühler als sonst
Geduldig wartete ich
bis im Osten das Licht barst
S. 215

Eine ganze Landschaft
von Horizont zu Horizont und
darüber unendlich der Himmel
gehört für eine Zeit lang dir
Nicht, dass du sie besitzen möchtest
mitnichten, nutzen darfst du sie, um
eine Weile ganz dich selbst zu sein
ungehindert durch irgendwelchen Einfluss
Nichts gibt es hier, was dich stören
nichts, was dich bedrängen könnte
in deinem nackten Sein, allein mit
Leben und Tod, mit der Wüste
S. 217

Über der Stadt in der Wüste
hing ein voller Mond
Es war gut wieder unter
Menschen zu sein
Auch wenn sie schrecklich sind
haben sie doch
eine liebenswürdige Seite und
eine Wärme, die einen verführen kann
Ihre Betriebigkeit erfasst einen leicht
und leicht artet die Begeisterung
die damit einhergeht in
Aggression und Konflikt aus
Aber heute scheint ein Hauch
des Ewigen über ihnen zu
hängen, so wie am Himmel
der volle Mond
S. 227

1) Aus: Danièle Nicolet Widmer: Was macht, dass du so schön bist? Liebesbriefe an ein aufgebrochenes Herz, Basic Editions 2001 , S. 188
2) Aus: Samuel Widmer Nicolet: Reise in die Wüste – Reise in die Freiheit / Ein Schüler begegnet seinem Lehrer in der Wüste (zusammen mit Kurt Moser), Meditationen, Basic Editions, 2002