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Newsletter 1/2022 - Empörung und Feigheit
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Januar 2022

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mpört euch,
Beschwert euch
Und wehrt euch,
Es ist nie zu spät!

Empört euch,
Gehört euch
Und liebt euch
Und widersteht! (1)


Es ist besser, Kurs zu halten und gehasst zu werden,
als ein beliebter Feigling zu sein
Robert B. Laughlin, Nobelpreisträger Physik 1998




Liebe Leser

Bei der letzten Online-Meditation(2) im Januar hatte sich eine Teilnehmerin gewünscht, dass Danièle u.a. über die Empörung spricht. Wir dachten, es sei ein schönes Thema für einen Newsletter, um sich daran zu erinnern, dass es durchaus auch gut, gesund und angemessen sein kann, sich zu empören.
Empört sein über eine Welt, in welcher Menschen, Tiere und Natur jeden Tag der Macht, dem Geld und dem Egoismus zu Opfer fallen; empört sein weil wir selber zu diesem Zustand beitragen, mit unserem Lebensstyl, unserer Bequemlichkeit, mit unserer Konsumwut; empört sein über unsere Regierung, die sich im Dienst der diktatorischen Grossmächte stellt, empört sein, wenn unsere Kinder fristlos entlassen werden, nur weil sie der Kirschblütengemeinschaft gehören, empört sein über die Willkür, der wir in diesen Pandemie-Zeiten ausgesetzt sind,

Gewiss sind es heute andere Themen, die zur Empörung einladen, als diejenigen, die Stéphane Hessel dazu bewegt hatten, sich während des zweiten Weltkriegs der französischen Résistance anzuschliessen. Sein Pamphlet "Empört euch!"(3), das er mit 93 Jahren im 2010 geschrieben hat, erzählt von einem Leben der Entrüstung und der Ohnmacht. Das Büchlein ist noch heute brandaktuell und dessen Lektüre nur empfehlenswert. Einige Sätze habe ich weiter unten für euch kopiert.
Es wurde in den Zeiten der Occupy Wall Street Bewegung, des Arabischen Kriegs, des Palästina-Konfliktes geschrieben. Zur selben Zeit hielten Samuel und Danièle eine Mittwochsmeditation in Lüsslingen mit dem Titel "Empört euch". Die CD, die daraus entstand, habe ich frisch auf dem Youtube-Kanal von Samuel und Danièle hochgeladen. Ihr findet sie unter diesem Link.
Samuel stellt sich darin einige wesentliche Fragen: Ist der Punkt schon erreicht, bei dem das Leben, so wie wir es führen müssen, keinen Sinn mehr macht? Und wenn ja, würde ich das überhaupt sehen? Und vor allem, würde ich überhaupt handeln, wenn ich das sehe? Oder würde es mir zu sehr Angst machen, mit der Herausforderung konfrontiert zu werden? Wie hätte ich mich z.B. während des Nationalsozialismus in Deutschland verhalten, hätte ich auch so getan, als ob ich nichts wüsste, was wirklich passiert? Was würde ich tun, wenn das heute hier wieder geschehen würde?
Lohnenswerte Fragen, für die nur jeder und jede selbst die Antworten finden kann.

Neben der Empörung zu den grossen Fragen gibt es auch noch die "gesunde Wut" in den kleinen Dingen, in den nahen und persönlichen Angelegenheiten und Beziehungen. Hat die ganz direkte, nahe und ehrliche Empörung hier Platz? Oder ist man auch hier Sklave der Political Correctness und der eigenen Feigheit?
Ja, die Feigheit. Vor einiger Zeit wurde sie als Thema für einen Newsletter gewünscht, wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Es war mehr die Feigheit gemeint, zu der eigenen Meinung zu stehen, zu seinem Glauben und seinen Werten, die Feigheit in der Konfrontation, im Ausdruck, im Sich-Zeigen mit dem eigenen Innersten. Über die Feigheit schreibt Samuel leider nur ganz wenig in seinen Büchern. Ich dachte aber, das Thema passt irgendwie schön zur Empörung. "Sind wir Mimosen geworden?" - betitelt die Neue Zürcher Zeitung einen Artikel der letzten Tage über die Empörungsdemokratie, und fragt sich, ob diese dem Vorwand der Achtsamkeit zum Opfer fällt. Oder sind wir nur – wie Samuel sagt – so anpassungsfähig, dass wir uns an alles gewöhnen?

Nachfolgend ein paar Auszüge aus den wenigen Texten über Feigheit und Empörung (oder zur heiligen, gesunden Wut, wie Samuel und Danièle sie auch nennen).

Noch ganz schöne letzte Wintertage!

Romina Mossi
mit Danièle Nicolet Widmer und Marianne Principi

P.S.1 Wir möchten euch auf zwei neue Seminarangebote der Praxis Hof zur Kirschblüte aufmerksam machen. Die neuen Seminare in Kleingruppen ab März 2022 und die neue Seminarreihe "Der Kriegertrupp - über das erwachte Herz, das Gehirn als Sinnesorgan, Meditation und das Spirituelle Träumen"" ab Herbst 2022. Ihr findet alle Informationen auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch).

P.S.2 Dieser Newsletter kann auf der Website des Vereins "Samuel Widmer Nicolets Erbe" (https://samuel-widmer.org/de/news) kostenlos abonniert werden. Auf der Website des Vereins findet man ebenfalls alle alten Newsletter mit Texten von Samuel Widmer, sowie Samuels Briefe (auf Deutsch, Englisch und Türkisch) an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis. Die Newsletter findet ihr auch auf der Website der Praxis Hof zur Kirschblute (https://hof-zur-kirschbluete.ch) und der Kirschblütengemeinschaft (https://gemeinschaft-kirschbluete.ch).


Teiltranskription der Online-Meditation von Danièle Nicolet Widmer am 12.1.2022 zum Thema "Beziehung, Einsamkeit, Empörung" – Ausschnitte
"Die Empörung ist eine supergute Kraft, wenn sie im richtigen Geiste entsteht.
Man muss aber darauf achten, ob sie aus Abwehr kommt. Begegne ich allem, was nicht meinem Bild, meinem Willen, meinem Wunsch und meiner Bequemlichkeit entspricht, mit Empörung? Das würde Widerstand bedeuten, also Energieverschwendung, und würde keinen Sinn machen.

Wo hingegen ist Empörung die gesunde Wut, die gesunde Revolution, die Lebenskraft, die sich dafür einsetzt, dass nicht Kontrolle, Angst, Feigheit und Enge unser Leben dominieren?
Die gesunde Empörung erkennt man daran, dass dabei die Ohnmacht immer neu integriert wird. Die grundsätzliche Akzeptanz dessen, dass ein Teil des Lebens und des Menschseins Ohnmacht ist, und dass ich dagegen keinen Widerstand machen, sondern nur meine Ohnmacht eingestehen muss, das bildet die Grundlage für gesunde Empörung.
Der gesunde Teil der Empörung steht immer wieder für das Lebendigsein, das Gesunde, die Freiheit, das So-sein-Dürfen, wie man ist, ein.

Wenn man sich diese Frage aus der Stille heraus stellt, spürt man, wo Empörung aus Abwehr, aus Ideen, Konzepten und Mustern, Parteien, Identifikation oder Trotz kommt, und wo hingegen sich eine gesunde Art von Empörung zeigt, die einfach nicht – zum Glück! – akzeptiert, dass die Freiheit, das Lebendige nicht sein dürfen, dass deins mehr zählt als meins, dass das, was du unbedingt musst, wichtiger ist als das, was ich unbedingt muss (oder umgekehrt). Diese Empörung, die sich regt, wenn ich ein bisschen wacher bin als du und sehe, dass deins und eures letztlich einfach nicht zum Gesunden oder zum Besseren führt oder nicht wirklich die Lösung ist. Ich wehre mich dafür, dass man forschen darf darüber, was die Lösung sein könnte oder dass eine andere Sichtweise auch Platz haben darf.

Wenn man ganz unschuldig ist, – kindlich unschuldig oder wieder reif unschuldig geworden – kann man sich voll auf diese Kraft verlassen. Dann wird man nur eine Revolution anzetteln, wenn es unausweichlich ist, dass das Leben und die Liebe eine Revolution benötigen. Man wird sich nicht für irgendwelche Machtkämpfe, Ideen und ideologische Dinge hingeben.

Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit spielen eine wichtige Rolle in der Frage, wo man die Empörung zügeln und integrieren soll, und wo man sie im Leben einsetzen soll. Das soll man schon auch! Empörung ist eine wichtige Kraft. Viele getrauen sich leider nicht mehr, in der guten Art empört zu sein. In der abwehrenden Art, der institutionalisierten und konditionierten Art empört zu sein, nimmt hingegen gerade massiv zu.

Ein guter Massstab, um sich selber zu überprüfen, ist die Frage: Habe ich 100% Mitgefühl mit dem, der es ganz anders sieht? Fühle ich ihn? Verstehe ich ihn? Fühle ich, warum er das so vehement anders sieht und vertritt?
Wenn ich das ganz mitfühle und verstehe, dann ist meine Empörung oder mein Einsatz für etwas anderes nicht ein Dagegen, sondern ein Dafür, für das Gesündere, für das Freiere. Man ist gegen niemanden und nichts, man ist für das Richtige.

Die gesunde Empörung ist nie gegen andere, sondern sie ist einfach für das Leben, für den Fluss. Sie ist ein Sich-Einsetzen dafür, dass man/ich einfach sein darf, dass ich die Liebe, die Freiheit sein darf. Dass ich diejenige sein darf, die nicht verstanden wird oder die in der Minderheit ist.
Wenn ich im Empört-Sein darauf achte, ob es sich gegen jemanden oder gegen etwas richtet oder ob es einfach ein Explodieren meiner Lebenskraft und ein Mich-entfalten-Wollen und –Müssen ist, ein Darauf-bestehen-Müssen, dass ich die bin, die ich bin, dann ist Empörung eher eine konstruktive und lebensfördernde Kraft.

Wenn ich schaue, was in der Welt stattfindet und wie wir als Menschen mit Individuen, Minderheiten, der Natur und dem Leben umgehen, was ist denn anderes angemessener als Empörung?
Nur, Empörung ist eigentlich vor allem eine Aufforderung an mich; vielleicht auch ein Wunsch an dich, etwas zu ändern, aber vor allem ein Mir-bewusst-Machen meiner Verantwortung.
Empörung sollte in der Auseinandersetzung immer wieder auch in der Frage enden: "Was kann ich, was soll ich, aber vor allem, was muss ich, was ist meine Aufgabe?".
Mich zu empören, verpflichtet mich. Wenn ich nicht verpflichtet sein will, ist es anmassend, mich zu empören."

Aus: Samuel Widmer: Stell dir vor, du wärst ein Stück Natur, Von der Lust am Verbotenem, 2. Auflage Basic Editions, 2021
Deine Feigheit zerstört dich und die Welt!
S. 99

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Wahrheit, Sachbuch Philosophie, Basic Editions, 2010
Die heilige Wut
Das wirkliche Ziel der Evolution, das gemeinsame Wachsen zum Immer-noch-Besseren im Sinne des Guten für alle und das Ganze, haben wir aus den Augen verloren. Allerdings ist hier festzuhalten, dass wir unter dem Impuls zum Übermenschen und damit zum Guten zwar nicht dieses aggressive Konkurrieren, aber genauso wenig ein lahmes, wenn möglich noch von esoterischem Gesäusel begleitetes, Nettsein verstehen.
Die Wahrheit vermeiden wir vor allem auch dadurch, dass wir die Wut unterdrückt haben. Aber der lebendige Impuls in uns darf, wenn es angebracht ist, ruhig auch von dem begleitet sein, was man eine heilige Wut nennt.
Warum hat die Wahrheit heute kaum noch Kraft? Woher kommt denn unsere Kraft?
Doch aus der Aggression, der Wut! Seit Jahrhunderten wird von den Religionen und heute von esoterischen Schulen eine Liebe propagiert, die nur noch ein dürftiges Bächlein ist und kein reissender Strom, weil in ihr die Kraft der Aggression unterdrückt worden ist.
Es gibt zwei Sorten von Aggression:
Die heisse, aber harmlose Wut, die als ursprüngliche Kraft aufbraust und sich unmittelbar zeigt, wenn etwas nicht funktioniert oder ungerecht abläuft, und die kalte Wut, gesteuert von Gedanken wie Neid, Eifersucht und ähnlichen Dingen, die hinterhältig aus dem Versteckten operiert, häufig Schaden anrichtet und immer Tieferliegendes in uns abwehrt.
Die erste gehört zu unseren Impulsen, vergleichbar mit den sexuellen, und ist genauso wie diese und alles Natürliche tabuisiert, unterdrückt, mit Schuldgefühlen besetzt worden.
Die zweite ist eine Reaktion aus Gedanken und Erinnerungen auf eine Demütigung und Verletzung, und weil sie heimlich vorgeht, viel weniger der Unterdrückung ausgesetzt.
Die heisse, heilige Wut geht oft mit der Wahrheit zusammen oder steht zumindest für eine persönliche, vermeintliche Wahrheit ein. Sie ist eine ursprüngliche Kraft, ein reiner Impuls, für den man sich nicht zu schämen braucht. Sie bringt häufig Wahrheit ans Licht. In unserer Welt fehlt es meist vielmehr an ihr, als dass ihr Auftreten stören würde.
Die zweite, ihre bösartige Schwester hingegen, paart sich meist mit Lügen und Verleumdungen, mit Hinterhältigkeiten und schmutzigen Spielen. Sie ist unehrlich, und sie ist es, welche die Wahrheit niederhalten will, sie unterdrückt und verleugnet. Sie ist allgegenwärtig, und trotzdem nie sichtbar. Sie ans Licht zu bringen, hilft ihr, sich wieder in nichts aufzulösen. Das, was Wilhelm Reich als die emotionale Pest bezeichnet hat und deren Ausdruck heute meistens als Mobbing verstanden wird, nährt sie ununterbrochen. Sie ist zerstörerisch.
Die heilige Wut erkennen wir auch wieder daran, dass sie sich mit den anderen Qualitäten des Allerinnersten gerne paart, die abwehrende Wut hingegen daran, dass sie die Todsünden der Wüstenväter spiegelt.
[…]
Ist eine Gesellschaft, in der alle vorgeben, in einer gewissen Weise zu sein (zum Beispiel treu, drogenfrei, empathisch und anständige Steuerzahler), tatsächlich aber im Versteckten das Gegenteil tun (zum Beispiel fremdgehen, sich dopen, egoistisch sein und Steuern hinterziehen) nicht höchst eigenartig? Dahinter steckt das Autoritätsproblem, das nie aufgearbeitet wurde. Alle stehen unter der Fuchtel einer unfassbaren Autorität, der sie zwar nicht gehorchen wollen, von der sie sich aber auch nicht einfach lossagen können. Alle tun im Versteckten das, worüber man sich einig bleibt, dass man es nicht tun darf, und stehen nicht dazu. Ein massives Autoritätsproblem. Hinter dem die nie ausgetragene Machtauseinandersetzung steht, auf die wir bei der Frage, warum Erwachte nicht zusammenwirken können, schon gestossen sind. Wie Kinder! Wer erwischt wird, kommt dran. Sich nicht erwischen lassen, ist das Spiel. Wie unerwachsen! Warum zwingen wir uns zu so unwürdigem Verhalten? Erwachsen wäre doch, zu lassen, was nicht gut ist, und durchzusetzen, was gar nicht schlecht ist.
Haben uns die Mächtigen, das heisst, die kollektive Macht der emotionalen Pest, die Eifersucht verordnet, in die Köpfe gesetzt, damit wir uns gegenseitig unter Kontrolle hatten? Genial, nicht? Damit keiner ausschert aus der Konditionierung, in der sie uns haben will, der Konditionierung auf die Unwahrheit, damit jeder zu ihrem Vorteil funktioniert? […]
Sorgt für Ausgleich und Gerechtigkeit und alle werden ruhig und zufrieden sein! Mit heiliger Wut und kraftvollem Impuls zum Guten!
S. 215

Wenn in der vollkommenen Wahrnehmung alle Sinne gleichzeitig und gleichermassen aktiv sind, schweigt das Verlangen, schweigt das Ich. Vergnügen als ein von der Erinnerung gesteuerter Prozess hört auf. Wenn aber das Ich nicht da ist, entfaltet sich alle Schönheit vor unseren Augen. Wenn wir selbst abwesend sind, zeigt sich die Wahrheit. Schönheit und Liebe gehen mit ihr zusammen. Wenn unser Ich schweigt, sind sie da.
Für eine derartige vollkommene Wachheit und Aufmerksamkeit benötigen wir viel Energie. Die müssen wir zuerst befreien. Gebunden ist sie im Leid. Was das Leid beendet, ist die heilige Wut, eine Leidenschaft, die auf nichts gerichtet ist. Oder umgekehrt: Wenn wir das Leid in uns beenden, lebt in uns eine Leidenschaftlichkeit auf, eine heilige Wut, die uns die Energie gibt, ganz wach zu sein, so dass Liebe, Wahrheit und Schönheit uns und unser Leben erfüllen können.
Ohne diese Kraft der Leidenschaft verkommen wir in Mittelmässigkeit. Wir finden keine Klarheit, keine Integrität.
S. 280

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Zusammen leben - Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung, Basic Editions, 2013
Braucht es nicht genau dies, um die Welt wieder zu heilen? Dass wir wieder miteinander in Beziehung kommen, auch wenn dies vielleicht damit beginnt, einander zuerst vor den Kopf zu stossen?
Ist es nicht der Feigling, der immer ängstlich und angepasst daneben steht, der die Hauptverantwortung für die Misere in der Welt trägt? Ist nicht die Feigheit die Hauptschuldige, die alles Übel, das von Tätern, und alles Elend, das von Opfern kommt, bei weitem in den Schatten stellt? Gilt es nicht, vor allem die Angst und damit die Feigheit zu überwinden, hinzustehen und etwas zu riskieren, wenn wir die Welt verändern wollen? Ist es nicht Feigheit, die es immer allen recht machen und passend sein will?
Die Aufgabe von Gemeinschaft ist es, in der Welt zu wirken. Ihr Wirkungsfeld ist die Welt. Echte Gemeinschaft umfasst die Welt, ist eins mit ihr. Mit allem eins zu sein, ist der Himmel der Menschen, wusste schon Hölderlin. Ihn zu finden, beginnt mit der Überwindung der Angst, der Überwindung des Feiglings in uns, der sich nicht getraut, für seine Wahrheit zu stehen. Die Überwindung des überall dominierenden Feiglings führt uns persönlich aus der Anpassungsschicht der Persönlichkeit und kollektiv aus dem pseudogemeinschaftlichen Getue heraus. Es ist der Schritt, der zu tun ist, um schliesslich auf dem Weg der Selbsterkenntnis in den Kern, ins Allerinnerste der Persönlichkeit vorzudringen. Und es ist der Schritt, der vonnöten ist, wenn wir in authentischer Gemeinschaft wachsen wollen, bis wir zu echter Gemeinschaft fähig werden. Dieses Wachstum beginnt damit, anmutig kämpfen zu lernen, und das heisst, einander lieber heissblütig vor den Kopf zu stossen, als sich kaltblütig stehen zu lassen, das heisst, sich durch anonyme Paragraphen zu vernichten. Das Allerinnerste in unserem Wesen, das ist der Himmel von uns Menschen. Und es ist identisch mit dem, was sich im Äusseren in echter Gemeinschaft abbildet, sobald eine Gruppe von Menschen es in sich gefunden hat und zusammenwirkt.
Es ist Zeit.
S. 493

Manfred hat mir geschrieben und am letzten Gemeinschaftsabend habe ich nachgefragt, ob dem so ist – und natürlich keine Antwort bekommen – dass einige von euch sich nicht getrauen zu pubertieren, dass sie Angst hätten, sich mir gegenüber auszudrücken. Das tut mir Leid, aber es ist nicht meins. Sie haben es schon immer nicht getraut, ihr ganzes Leben lang, nirgends, weil sie feige sind. Das ist eben ihre Wahrheit, und die andere Wahrheit, ihre eigentliche, die dahinter steht, schenken sie dem Gemeinsamen nicht. Sie bleiben sie schuldig. Sie bleiben ihren Teil der Wahrheit schuldig, mir, der Gemeinschaft, sich selbst und dem Ganzen. Sie bleiben ein leeres Versprechen. Sie sind "Pflaumen, Muttis, Wegglis", wie wir es kürzlich humorvoll ausgedrückt haben. Darum verharren sie in einer unnatürlichen Abhängigkeit; sie rennen lieber gegen das Bild des mächtigen Führers, das sie einem überstülpen, an, als sich der Tatsache zu stellen, dass es keinen Führer gibt.
S. 467

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Vom Weg mit Herz,- Die Essenz aus der Lehre des Don Juan/ Eine Würdigung des Werkes von Carlos Castaneda, Sachbuch Psychologie, Nachtschatten-Verlag, 2002
«Der Durchschnittsmensch hat nicht genug Energie», meint Don Juan, «um über seine alltäglichen Grenzen hinauszuwachsen. Darum bezeichnet er die Sphäre ausserordentlicher Wahrnehmung als Zauberei, Hexenspuk oder Teufelswerk. Und er scheut davor zurück, diese Dinge zu erforschen. Das, was uns hindern kann, ins Unbekannte vorzudringen, ist Feigheit. Man muss lernen, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind, das Abstrakte, den Geist, das Nagual. Es gibt keine Hexerei, kein Böses, keinen Teufel. Es gibt nur Wahrnehmung. Man muss seine Vernunft sorglos und fröhlich aufgeben. Wir können unseren Montagepunkt über den Platz ohne Erbarmen hinausbewegen und den Platz stillen Wissens erreichen.» In letzter Zeit, lieber Manfred, wird mir gerade in unserem Gemeinschaftskreis sehr deutlich, dass Feigheit und Mut wichtige Eigenschaften sind, deren Vorhanden- beziehungsweise Nicht-Vorhandensein darüber entscheidet, ob jemand stehen bleibt oder weiterwächst.
S. 307

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Die Erneuerung von uns selbst und unserer Welt, Briefe an die Freunde der Bewegung der Selbsterkenntnis, Basic Editions, 2018
Die Lösung für alle menschlichen Probleme, kollektiv und individuell, wird nicht aus dem Aufdecken der unschönen Wahrheit bezüglich der abwehrenden Gefühle kommen. Aber dieses ist Voraussetzung, um noch tiefere Wahrheiten entdecken zu können. In späteren Rundschreiben werden wir uns dann zuerst den verpönten abgewehrten Gefühlen, Ohnmacht, Ausgeliefertsein, Verlorensein, stellen, die nur der Krieger in sich zu stillen weiss. Denn nicht nur der Gewinner im tödlichen Spiel der Konkurrenten ist der schuldige Täter an der Misere, die daraus entstanden ist. Genauso schuldig ist der Verlierer, der Ausgeschlossensein, Zukurzgekommensein und Hilflosigkeit nicht auszuhalten versteht und darum in abwehrendem Gehabe ausagieren muss.
Nicht dass das stille Ergebensein in den Ist-Zustand durch den Verlierer die Lösung bringen würde. Im Gegenteil, es braucht seine Auflehnung. Es ist notwendig, dass er seine Lähmung, seine Feigheit abschüttelt und mit seiner Not hinsteht. Aber diese Not ist anzuerkennen, nicht in ihrer Abwehr auszuagieren. Handeln, aus dem das Gute erblüht, kommt immer aus der Stille, aus der Leere, die sich aus dem Anerkennen von dem, was ist, erhebt. Das reine Sehen ohne jede Reaktion ist gleichzeitig ein unmittelbares Handeln, das allerdings nicht Chaos erzeugt wie alles Reagieren aus Abwehr von dem, was ist, sondern nur Liebe und Freude hervorbringt.
S. 196

Aus: Samuel Widmer Nicolet: Sag mir Liebste, was ist das Leben? Und sag mir Liebster, was ist der Tod? - Ein Briefwechsel zwischen Liebenden (zusammen mit Danièle Nicolet), Basic Editions, 2003
Ein weiser Staatsmann wäre heute von Nöten. Aber solche Männer findet man nie in solchen Positionen.
Stell dir vor, der amerikanische Präsident, George W. Bush, wäre nach den Ereignissen vom 11.9. hingestanden und hätte entgegen aller Wut und allen Rachegelüste, selbst tief erschüttert dazu aufgerufen, betroffen zu sein, innezuhalten, gemeinsam alles zu überdenken, herauszufinden, was mit uns passiert ist, dass wir uns in einem solchen Debakel wiederfinden, miteinander Lösungen für alle zu suchen!
Meinst du nicht auch, er hätte die ganze Welt mitreissen können, so wie er sie jetzt in den Krieg führt? Aber dazu hätte er nie den Mut gehabt. Nicht die persönliche Kraft und Grösse gehabt. Dazu hätte er allein stehen können müssen. Nicht ein Einziger im amerikanischen Senat oder Repräsentantenhaus ist aufgestanden und hat gesagt: Brüder, überlegt euch, was ihr tut! Geschlossen standen sie hinter dem Krieg. Das hat mich tief enttäuscht. Kein Einziger! Später, wenn alles schief gelaufen sein wird, werden sie dann unter dem Schutz der neuen Mehrheit der ewigen Miesmacher wieder alles besser gewusst haben. Aber jetzt, wo man ganz allein etwas anderes vertreten müsste, allein der geschlossenen Front der Dummheit hätte gegenübertreten müssen, da hat sich keiner getraut. Und nicht nur in Amerika. Nirgends. In Deutschland nicht, in England nicht, in Frankreich nicht. Nicht einmal in den moslemischen Nationen. Alle sind zu feige, zu angepasst, wollen nicht auffallen, nicht herausragen, sondern ihr persönliches, beschissenes, Vergnügen orientiertes Leben unbehelligt leben können.
Deswegen gefällt mir ein Osama Bin Laden. Er hat diese Qualität. Er ist es ja auch tatsächlich, der uns in den Krieg führt. Bush ist in Wirklichkeit der erste seiner Gefolgsmänner, der willenlos seinem Ruf folgt. Bin Laden setzt sich ganz allein in die Nesseln. Er ist bereit, sein Leben für seine Sache zu geben und auch dafür zu sterben. Sogar die meisten seiner Moslembrüder verraten ihn, stehen nicht an seiner Seite, und trotzdem wagt er es, für eine Wahrheit hinzustehen. Denn neben allem Blödsinn, für den er höchstwahrscheinlich auch noch steht, steht er zumindest für eine unumstössliche Wahrheit, die jeder intelligente Mensch erkennt, wenn er schaut: Es ist notwendig, den Grössenwahn der USA zu stoppen. Es ist ganz wichtig, dass jemand dieser neuen, sektiererischen Verblendung, die Welt unter seinem Diktat einigen zu wollen, entgegentritt. Und es braucht eine völlige Veränderung in unserem Weltgefüge. Es ist unausweichlich, dass unser ganzes gesellschaftliches und wirtschaftliches System zusammenkracht, bevor wirklich eine neue Ära, vielleicht gar eine Zeit der Brüderlichkeit anbrechen kann. Das macht mir Osama Bin Laden sympathisch, dass zumindest diese Qualität, für seine Sache zu sterben, vorhanden ist. Eine gewisse Intelligenz sehe ich in seinen Zügen, eine gewisse Fähigkeit zur Weisheit.
Was sind unsere Staatsmänner doch für verlogene Heuchler, Hampelmänner der öffentlichen Meinung, der Ideologie ihrer Partei! Nichts Eigenes ist in ihnen, nichts Gerades. Nichts, was den Mut und die Grösse hätte, die Menschheit aufzurütteln, allein für eine Sache zu gehen, die wahr und notwendig ist und welche die ganze Welt mitreissen könnte in ein neues Zeitalter hinein. Denn, auch wenn der Krieg, der totale Krieg, der Weltkrieg wahrscheinlich unumgänglich geworden ist, wäre uns doch auch immer an jeder Stelle ein ganz anderer Weg offen. Und wenn ein weiser Staatsmann hingestanden wäre, jetzt, vor ein paar Wochen, und nicht ein Büshchen mit massgeschneidertem Brettchen vor dem Kopf, dem das wichtigste Anliegen in der Angelegenheit ist, nach Ablauf seiner Amtszeit wiedergewählt zu werden, ich weiss nicht, ob er nicht für die ganze Welt das Steuer noch hätte herumreissen können.
Oder sag, Liebste, bin ich einfach naiv? Sie hätten ihn einfach als unfähig abgesetzt, nicht wahr?
Ich bin kein Terrorist. Ich bin nicht einmal ein heimlicher Sympathisant solcher Machenschaften. Dies habe ich vor vielen Jahren schon als dieselbe Dummheit, Arroganz und Unintelligenz erkannt wie das, was uns in unserer Welt als sogenannte Wahrheit vorgekaut wird. Aber ich habe die Kraft der Wahrhaftigkeit, welche ich in allen Terroristen, wenn auch irregeleitet und verbogen wirksam sehe, schon immer geachtet. Ich mache mich für keine Ideologie stark, für keine Propaganda. All dies ist für mich Ausdruck derselben Sturheit, desselben Verranntseins. Das Problem hinter all diesen Problemen ist die fundamentalistische Neigung des menschlichen Geistes überhaupt, die Rechthaberei, das Beharren auf Meinungen und Ansichten, der Glaubensstreit, der Bruderkrieg, der ganz am Anfang aller Zeiten schon eingesetzt hat. Der Terrorismus ist eine neue Variante dieses Bruderkrieges und mitnichten eine bessere. Und der Rachefeldzug der Amerikaner ist nichts anderes als gesellschaftlich tolerierter Terrorismus. Wie könnte ich für das eine oder das andere einstehen!
Was es braucht ist einen Durchbruch, eine Kraft, die an allen Anfang zurückkehrt, die ganz einfach, ehrlich und unbeugsam ist, die den Bruderkrieg beendet, die wieder zur Liebe, zum Neuanfang, zur Aussöhnung bereit ist.
Dies alles, diese simplen Wahrheiten, liebe Danièle, möchte ich in die Welt hinausschreien. Aber niemand würde mich hören, niemand wäre bereit zuzuhören. Es ist hoffnungslos. Darum erzähle ich sie dir. Man könnte sagen, dass man zuerst Macht haben müsste, zuerst ein Staatsmann mit grossem Einfluss werden müsste. Das alte Spiel würde damit wieder neu beginnen. Denn bis man so weit wäre, hätte einen die Macht längst korrumpiert. Es ist nicht die Macht, die den ewigen Bruderkrieg beenden muss, beenden wird. Es ist vielmehr die Hoffnungslosigkeit, die Ohnmacht, die Verzweiflung, die Einsicht. Aber niemand hört auf diese Stimme, die uns unweigerlich die Liebe zurückbringen würde. Niemand will sie. Und solange dem so ist, kann man nichts tun. Solange ist die komplette Zerstörung, auf die wir zusteuern, unausweichlich.
S. 122

Aus: Stéphane Hessel, Empört Euch!, 2010
Dieses gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften der Résistance ist heute in Frage gestellt. Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates. In vielen Schaltstellen der wieder privatisierten Geldinstitute sitzen Bonibanker und Gewinnmaximierer, die sich keinen Deut ums Gemeinwohl scheren. Noch nie war der Abstand zwischen den Ärmsten und Reichsten so groß. Noch nie war der Tanz um das Goldene Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt.
[…]
Mischt euch ein, empört euch! Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft dürfen sich nicht kleinmachen und kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, Frieden und Demokratie zu gefährden. Ich wünsche allen, jedem Einzelnen von euch einen Grund zur Empörung. Das ist kostbar. Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Naziwahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert. Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen – zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit, wenn auch nicht zur schrankenlosen Freiheit des Fuchses im Hühnerstall.
[…]
Sartre lehrte uns, dass wir selbst, allein und absolut, für die Welt verantwortlich sind – eine fast schon anarchistische Botschaft. Verantwortung des Einzelnen ohne Rückhalt, ohne Gott. Im Gegenteil: Engagement allein aus der Verantwortung des Einzelnen.
[…]
Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet? Es ist nicht immer leicht, zwischen all den Einflüssen zu unterscheiden, denen wir ausgesetzt sind. Wir haben es nicht mehr nur mit einer kleinen Oberschicht zu tun, deren Tun und Treiben wir ohne weiteres Verstehen. Die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie. Um wahrzunehmen, dass es in dieser Welt auch unerträglich zugeht, muss man genau hinsehen, muss man suchen. Ich sage den Jungen: Wenn ihr sucht, werdet ihr finden. "Ohne mich" ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann. Den "Ohne mich"-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhandengekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement.
[…]
Den Jungen Menschen sage ich: Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt – die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma. Ihr werdet auf konkrete Situationen stoßen, die euch veranlassen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Suchet, und ihr werdet finden!

1) Konstantin Wecker, Empört euch!, CD Wut und Zärtlichkeit, 2011
2) Online-Meditationen der Praxis Hof zur Kirschblüte mit Danièle Nicolet Widmer
3) Stéphane Hessel, Empört euch!, 2010, Link zum Download.